DIE BRATWURST IM BRÖTCHEN

Ein Wort zum Montag, dem 8. Mai 2023

VON CORNELIA SENG

Schon von weitem ist sie mir aufgefallen in der Einkaufsstraße: Der lange bunte Rock, die rote Jacke. Mit demütigem Blick streckt sie mir den leeren Kaffeebecher hin. Ich schüttele den Kopf und deute auf die Metzgerei hinter uns. Es ist Mittagszeit. “Ob sie ein Brötchen möchte?” Ich vermute gleich, die junge Frau müsse eine Roma oder Sinti sein, und frage, ob sie aus Rumänien kommt. “Ungarn”, antwortet sie. In der Metzgerei ist es voll und eng. Wir müssen mehrmals rücken. “Was sie denn möchte?” Sie deutet auf die große Bratwurst. “Mit Ketchup”? Die Bedienung scheint etwas irritiert. Immerhin – als ich bezahle, lächelt sie und wünscht uns einen schönen Tag. Wieder draußen versuche ich zögernd ein Gespräch. Aber die junge Frau versteht kein Deutsch. Es bleibt bei einem freundlichen Blick. 

Die kurze Begegnung geht mir nicht aus dem Kopf. Ob der jungen Frau mit einem Brötchen wirklich geholfen ist? Mit einem bisschen Barmherzigkeit? Die 2,50 € weniger spüre ich nicht im Portmonee. Geht es mir vielleicht nur um mich, um mein ruhiges Gewissen? Aber mein Gewissen ist nicht ruhig. 

Warum steht die junge Frau da? Dass sie nur aus Spaß bettelt, glaube ich nicht. Ob sie Familie hat, Kinder? Wurde sie geschickt? Wieviel Geld hat sie abzugeben von dem  Eingenommenen? Aus den Nachrichten weiß ich von Menschenhandel, Erpressung von armen Menschen, moderner Sklavenhaltung. Und was mit wohnungslosen jungen Frauen passiert, kann ich mir ausmalen. Müsste ich nicht laut protestieren dagegen? Müsste ich nicht für ihre Rechte eintreten? Für die Menschenrechte? Was passiert bei uns mitten in Europa, in Deutschland?  

Ohne Gerechtigkeit wird Barmherzigkeit harmlos. Wie heißt es in der Bibel: “Gerechtigkeit erhöht ein Volk” (Spr 14,34).

Ich denke an die junge Familie in Wermelskirchen: Die junge Mutter habe ich vor vielen Jahren auf der Ausländerbehörde kennengelernt. Jetzt, nach rund zwanzig Jahren in Deutschland, haben sie endlich ein Aufenthaltsrecht bekommen. Immer wieder wurde die Abschiebung angedroht. Man wollte sie nur “weg” haben aus Deutschland. Die Regeln seien so, hieß es. Die Asylgesetze. Aber ihr Heimatland nimmt sie nicht zurück, schickt keine Papiere. Zwanzig Jahre lang lebten sie in Angst vor der nahen Abschiebung!

Ohne Barmherzigkeit wird Gerechtigkeit lieblos, eben unbarmherzig. Kalte Bürokratie.

Jesus warnt davor, das Wichtigste beiseite zu lassen, “nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben! Doch dies sollte man tun und jenes nicht lassen”, sagt er (Mt 23,23). 

Was tun wir?

Ausschnitt aus Rembrandt van Rijn: Die Rückkehr des verlorenen Sohnes 1666-1669 – Der Vater mit den unterschiedlichen Händen)

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