Diagnose Demenz: So gestalten Sie als pflegende Angehörige den Alltag

Interview mit der Medizinjournalistin Dr. Susan Scheibe

Die Verbraucherzentrale NRW hat in ihrem Newsletter ein Interview mit der Medizinjournalistin Dr. Susan Scheibe über den Alltag mit dezenten Angehörigen veröffentlicht, das wir hier gerne übernehmen: ­ ­

Viele Angehörige treibt die Frage um, ob die Pflege zu Hause oder der Umzug in ein Heim für das Wohlergehen aller das passende Modell ist.Etwa zwei Drittel der rund 1,6 Millionen Menschen mit Demenz leben im vertrauten sozialen Umfeld ihrer Familien. Mit Dr. Susan Scheibe haben wir darüber gesprochen, welche Herausforderungen sich bei der Diagnose Demenz stellen – aber auch, welche Entlastungs- und Unterstützungsmöglichkeiten es für pflegende Angehörige gibt.

Liebe Frau Dr. Scheibe, in Deutschland leben rund 1,6 Millionen Menschen mit einer demenziellen Erkrankung – die meisten von ihnen werden von Angehörigen umsorgt. Aus Ihrer Sicht: Was sind dabei die größten Herausforderungen?

Bei Demenz-Erkrankten verrutschen die Koordinaten des bisherigen Lebens – die Wahrnehmung und Erinnerung – immer mehr, sodass viele Dinge nicht mehr abrufbar sind. Für sie wird es zunehmend schwieriger, den Alltag zu meistern. Davon sind dann auch ihre Familien und Freunde unmittelbar betroffen, denn es verschwindet mehr und mehr das Fundament für Gemeinsames und Vertrautes; den Beziehungsverlust empfinden viele Angehörige als großes Problem. Aber auch die Rollen wandeln sich. Partner beziehungsweise Partnerin oder Kinder müssen sich dann auf die sich verändernden Persönlichkeiten einlassen. Sie übernehmen alle Anpassungsleistungen, denn die Erkrankten sind dazu nicht mehr in der Lage.

Hinzu kommt natürlich auch die oft kräftezehrende Herausforderung, Pflege im Alltag zu organisieren. Und nicht zuletzt treibt Angehörige laufend die Frage um, ob die Pflege zu Hause oder der Umzug in ein Heim für das Wohlergehen aller das passende Modell ist.

Ganz praktisch gefragt: Was können Angehörige tun, um die Selbstständigkeit der Betroffenen möglichst lange zu erhalten?

Es gibt eine ganze Reihe von Kniffs und Tricks zur „unauffälligen Unterstützung“, um dementen Angehörigen das Leben zu erleichtern und Gefahrenquellen zu vermeiden. Grundsätzlich bietet Vertrautes Sicherheit und beruhigt. Aufkleber mit „Gläser und Tassen“ oder „Handtücher“ an Schranktüren verkürzen zum Beispiel das ewige Suchen. Die Tür zum Bad steht am besten immer offen, damit die Betroffenen sehen, wo die Toilette ist. Mit farbigem Klebeband umrahmte Lichtschalter und Klingeln sind leichter zu erkennen. Ein gut lesbarer Wochenplan mit den wichtigsten Terminen hilft, den Tagesablauf zu strukturieren. Aber auch technische Unterstützung wie zum Beispiel Notrufsysteme oder Herdsicherungen können dazu beitragen, trotz Demenz lange selbstständig zu Hause zu leben.

Wenn pflegende Angehörige Entlastung suchen – wie gehen Sie dabei vor?

Viele Angehörige neigen leider dazu, sich bei der Pflege bis zur totalen Erschöpfung zu überfordern. Spätestens wenn der Eindruck entsteht, dass das eigene Leben sich nur noch um die Pflege des oder der demenzkranken Angehörigen dreht, sollten sie externe Hilfe in Anspruch nehmen. Stundenweise Betreuung zum Beispiel, um einkaufen oder zum Friseur gehen zu können, tageweise Betreuung während eines Urlaubs, Entlastung durch ambulante Pflegedienste oder teilstationäre Pflege – es gibt vielfältige Angebote, die eine Auszeit von der Pflege ermöglichen. Von der Pflegekasse gibt es hierfür – abhängig vom Pflegegrad – finanzielle Leistungen.

Weil die abnehmende Lust, andere Menschen zu treffen, zu den typischen Frühmerkmalen zählt, erhöht sich für die Demenz-Erkranken und ihre Angehörigen das Risiko der Isolation. Das passiert oft in einer Phase, in der beide soziale Kontakte dringender brauchen als je zuvor. In diesem Fall ist es ratsam, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen.

Nicht zuletzt ist auch zu bedenken: Bei einer Betreuung zu Hause konzentriert sich sehr oft alles auf eine – auf die pflegende – Person. Es gibt für Betroffene kein Angebot von außen, was sie bisweilen noch hilfloser und manchmal auch aggressiver werden lässt. Das wiederum zehrt an den Nerven der Pflegenden, was sie zusätzlich stark belastet. Unterstützende Angebote von extern können auch hier eine Win-win-Situation für alle sein!

Gibt es einen „richtigen Zeitpunkt“, um einen Umzug in eine Pflegeeinrichtung zu erwägen?

Je weiter die Demenz fortschreitet, desto anspruchsvoller und zeitintensiver wird die Pflege zu Hause. Es gibt keine allgemeingültige Empfehlung, ob überhaupt und wann der Umzug in eine Pflegeeinrichtung angezeigt ist. Denn jeder und jede Betroffene hat andere Bedürfnisse. Wichtig ist abzuwägen: Was spricht dafür? Was dagegen? Das sollte man in Ruhe überlegen – aber auch nicht zu lange warten. „Kommt Zeit, kommt Rat“ ist in dieser Situation nur bedingt angemessen, da eine Demenz immer weiter fortschreitet und die Fähigkeiten der Betroffenen zunehmend abnehmen. In der Regel ist es jedoch besser, wenn noch eine gewisse Fitness vorhanden ist, damit sich Betroffene in der neuen Umgebung einleben und Kontakte zu anderen Bewohnern knüpfen können. Bisweilen wirkt eine Einrichtung, die viele demenzspezifische Aktivitäten im Angebot hat, auch anregend und längst vergessen geglaubte Fähigkeiten werden wieder geweckt.

Dr. Susan Scheibe, promovierte Biologin, arbeitet als freie Wissenschafts- und Medizinjournalistin u.a. für den Mitteldeutschen Rundfunk, den Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes der Krankenkassen sowie für verschiedene Wissenschaftsjournale. Für die Verbraucherzentrale hat sie den „Ratgeber Demenz. Praktische Hilfen für Angehörige“ verfasst.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.