Die Abtretung Ostoberschlesiens und der Verlust demokratischer Ideale

Jahr100Wissen-Interview mit dem Historiker Dr. Georg Eckert

VON UWE BLASS

Die Abtretung Ostoberschlesiens, die in Deutschland Empörung und eine Welle nationaler Leidenschaft in allen politischen Parteien hervorrief, wurde staatsrechtlich mit dem deutsch-polnischen Abkommen am 15. Mai 1922 vollzogen und trat am 20. Juni 1922 in Kraft. Um welche Gebiete handelt es sich dabei?

Eckert: Zeitgenossen waren die Namen der Orte, um deren Zugehörigkeit so heftig gestritten wurde, wesentlich geläufiger als uns. Beide Seiten wussten um den enormen strategischen, aber auch symbolischen Wert der abgetretenen Gebiete mit so wichtigen Produktionsstandorten wie Kattowitz, Beuthen oder Königshütte (bekannt durch Adolph von Menzels berühmtes Gemälde aus dem Inneren des dortigen Eisenwalzwerks). Dort lag der Schwerpunkt des überaus bedeutenden oberschlesischen Industriegebiets .

Adolph von Menzel, Eisenwalzwerk

Dabei sah es nach einer Volksabstimmung 1921 zunächst so aus, als ob die Gebiete beim Deutschen Reich blieben. Warum kam es dennoch anders?

Eckert: Der Versailler Vertrag hatte mehrere Volksabstimmungen im Osten vorgesehen. In Marienwerder (Westpreußen) und in Allenstein (Ostpreußen) stimmten überwältigende Mehrheiten (ca. 90/10) für einen Verbleib bei Deutschland, anders lag es in Oberschlesien. Die Verhältnisse waren hier komplizierter. Schon die Agitation vor der Abstimmung verlief ungleich heftiger, paramilitärische Gruppierungen bekämpften einander bereits. Wojciech Korfanty organisierte polnischerseits zwei Aufstände vor der Abstimmung, einen dritten unmittelbar danach. Schließlich war das Ergebnis hier wesentlich knapper ausgefallen (ca. 60/40). 

Die deutsche Seite beharrte auf einer Verbindlichkeit der Abstimmung für das gesamte Gebiet, die polnische Seite indes verwies auf eine Benachteiligung bei der Abstimmung (zu der Deutschland mit Zügen zahlreiche „Ruhrpolen“ schlesischer Herkunft gebracht hatte), insbesondere auf Mehrheiten zugunsten Polens etwa in Kattowitz, der bevölkerungsreichsten Stadt Oberschlesiens. 

Vor allem aber waren die Alliierten uneins, wie mit dem Abstimmungsergebnis umzugehen sei. Großbritannien neigte zur deutschen Lesart, Frankreich unterstützte vehement die polnische. Die für Oberschlesien bereits im Jahre 1920 eingerichtete Interalliierte Regierungs- und Plebiszitskommission für Oberschlesien gelangte zu keinem Ergebnis, es bedurfte einer Entscheidung der übergeordneten Botschafterkonferenz, die sich auf die nach dem italienischen Botschafter benannte „Sforza-Linie“ verständigte. Deutschland erhielt zwar den größeren, agrarisch strukturierten Teil des Gebiets und der Bevölkerung, Polen aber das Herzstück des wichtigen Industriereviers.

Wojciech Korfanty, der damalige Organisator der Aufstände in Oberschlesien, spielte eine entscheidende Rolle. Inwiefern?

Eckert: Korfanty hatte schon als Mitglied des Preußischen Landtags und des (deutschen) Reichstags die Interessen der polnischsprachigen Oberschlesier vertreten und noch vor Kriegsende für einen Übergang entsprechender Territorien der neu zu gründenden polnischen Republik plädiert. In einer zunehmend heftigen Auseinandersetzung, zu der beiderseits auch Attentate gehörten, organisierte er die drei schlesischen Aufstände. 

Den ersten im August 1919 schlugen Paramilitärs der Schwarzen Reichswehr nieder, den zweiten im August 1920 beendete erst eine Intervention der Alliierten Kommission, den dritten im Mai 1921 – den blutigsten, mit mehreren Tausenden Toten – wehrten wiederum deutsche Freikorps ab. Welcher Ruhm Korfanty daraus erwuchs, lässt sich daran ermessen, dass er im Juli 1922 beinahe zum polnischen Premierminister geworden wäre.

Der sogenannte dritte Aufstand am 3. Mai 1921 konnte nur gelingen, weil die Alliierten wegschauten und den Aufständischen ihre Waffen überließen. So trafen ungehindert Panzerzüge und Munitionstransporte in Oberschlesien ein. Ein britischer Journalist schrieb gar, die Grenze sei so frei wie die London Bridge. In dieser Abtretungsfrage waren sich auch England und Frankreich überhaupt nicht einig. Warum nicht?

Eckert: Die Gegensätze zwischen den Interessen der Alliierten wurden schon in den Pariser Vorortverhandlungen unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg sichtbar, erst recht aber in der Umsetzung der entsprechenden Beschlüsse. Der Kommission, die zur Durchführung des oberschlesischen Plebiszits eingerichtet worden war, saß ein französischer General vor. Er betrieb nachdrücklich Frankreichs Ziel einer dauerhaften politischen, militärischen und ökonomischen Schwächung Deutschlands, dafür war eine Abtretung des potenten oberschlesischen Industriegebiets an Polen ein geeignetes Mittel. 

Großbritannien hingegen wollte die Angelegenheit vor allem rasch erledigt wissen: zu einer möglichst stabilen Nachkriegsordnung gehörte aus Londoner Sicht eben auch, das Mehrheitsvotum ohne weiteren Aufruhr umzusetzen – und Deutschland nicht übermäßig zu schwächen, weil man es als Bollwerk gegen das bolschewistische Russland benötigen könnte. So groß waren die Differenzen, dass der Völkerbundsrat eingeschaltet wurde, weder eine Einigung unter den Alliierten noch eine zwischen Deutschland und Polen schien nach dem dritten Aufstand in Reichweite.

Warum entschied sich der Völkerbundsrat, dem man die Angelegenheit übergab, letztendlich für eine Teilung der Gebiete?

Eckert: Für den Völkerbundsrat war es einerseits wichtig, das Problem selbst zu lösen und andererseits, die Handlungsfähigkeit des Völkerbunds als neuer Institution zu demonstrieren. Eine Kommission nahm sich der Thematik an, schlug eine Teilung gemäß den Abstimmungsergebnissen in den einzelnen Gebietsteilen vor und brachte Deutschland und Polen an den Verhandlungstisch. Beide Seiten mussten von Maximalpositionen abrücken, freilich blieb insbesondere in Deutschland ein bitterer Beigeschmack. 

Die Bundesversammlung des Völkerbunds tagte einmal jährlich in Genf – erstmals am 15. November 1920

Für viele war damit einmal mehr bewiesen, dass die großen demokratischen Ideale der Alliierten doch nur ein Werkzeug darstellten, um den Verlierern des Krieges weiterhin auf demütigende Weise zu schaden. Gleichwohl kam es nach dem enormen Aufruhr in und um Oberschlesien zwischen Kriegsende und dem Abkommen zwischen Deutschland und Polen zu keiner weiteren Konfrontation, nicht einmal zu Scharmützeln an der neu gezogenen Grenze. Alle fügten sich in die realpolitischen Gegebenheiten, in Deutschland überlagerten im Krisenjahr 1923 Ruhrbesetzung und Hyperinflation den schmerzlichen Verlust Ostoberschlesiens.

Diese Teilung hatte große wirtschaftliche Folgen. Welche waren das?

Eckert: Die Durchtrennung von wesentlichen Strukturen des wirtschaftsstarken Oberschlesischen Industriegebiets wirkte sich auf beide Nationalökonomien wie auf einzelne Betriebe aus. Der Vorteil lag klar auf polnischer Seite. Sowohl die immensen Steinkohlevorkommen als auch die meisten Kohlenvorräte, die meisten Hüttenwerke sowie auch der Großteil der eng mit der Kohle verbundenen Chemie-Industrie befanden sich östlich der neuen Grenze. Allerdings litt auch der fortan polnische Teil darunter, dass etablierte Lieferketten plötzlich zerrissen wurden; viele große Unternehmen mussten nun damit zurechtkommen, dass ihre Betriebe plötzlich in zwei Staaten lagen. 

Profiteure gab es gleichwohl auch auf deutscher Seite: etwa Friedrich Flick, der viele Beteiligungen von nunmehr in Polen gelegenen Firmen erwarb, um daraus einen großen Stahlkonzern zu günstigen Preisen zu formen, dank der hohen Inflation und der Unterstützung der Reichsregierung, die auf eine Sicherung deutscher Vermögenswerte hinarbeitete. Sein Plan ging zwar nicht auf, doch verstand Flick, die Konstellation zu nutzen, auch indem er die erworbenen Anteile in verschachtelte Holdings in den Niederlanden einbrachte, um vor einer polnischen Enteignungspolitik geschützt zu sein.

Friedrich Flick*10.07.1883-20.07.1972+

Was waren die politischen Auswirkungen?

Eckert: An der Karriere von Hans Lukaschek lässt sich illustrieren, wie differenziert die Reaktionen waren. Lukaschek war bis ins Jahr 1920 Landrat des später größtenteils Polen zugeschlagenen Kreises Rybik gewesen, dann Leiter des Schlesischen Ausschusses, einer Agitationsorganisation für den Verbleib ganz Oberschlesiens bei Deutschland. Nach der Teilung indes war er Mitglied der sogenannten Gemischten Kommission für Oberschlesien, zuständig für Streitfälle rund um den Minderheitenschutz, den das deutsch-polnische Abkommen garantierte. 

Bei allen Konflikten und aller Unversöhnlichkeit fanden die Akteure durchaus zu alltagstauglichen Kompromissen. So viel Unzufriedenheit das Abkommen auch erzielte und so gerne es auch auf beiden Seiten zur politischen Profilierung genutzt wurde, es hinderte Deutschland und Polen keineswegs daran, sich im Januar 1934 auf einen Nichtangriffspakt zu verständigen. 

Hans Lukaschek, ein Widerstandskämpfer gegen Hitler, hat zum 30. Jahrestag der Abstimmung in Oberschlesien, 1951, gesagt: „Was damals an Unrecht geschah, das hat letzten Endes die Folge gehabt, dass es zum Zweiten Weltkrieg gekommen ist, denn es hatte im deutschen Volk den Glauben an die Gerechtigkeit untergraben.“ Hat er damit recht?

Eckert: Die Rückwirkungen auf die Weimarer Republik waren jedenfalls erheblich. In unmittelbarer Reaktion auf die alliierten Teilungsbeschlüsse trat das Kabinett von Reichskanzler Joseph Wirth am 25. Oktober 1921 zurück, der nun ohne parlamentarische Mehrheit amtierte. Aus deutscher Sicht waren die Vorgänge rund um Oberschlesien ein weiteres Indiz für ein größeres Muster, ein weiteres Exempel für die Untragbarkeit des Versailler Vertrages. Jedenfalls leisteten sie der Annahme weiteren Vorschub, dass die Alliierten ihre großen völkerrechtlichen Leitsätze wie das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ nur dort respektierten, wo es ihren machtpolitischen Interessen diente – zur Zerstückelung Deutschlands. 

Hans Lukaschek

Dass Hitler den Zweiten Weltkrieg mit einem fingierten Überfall auf den „Sender Gleiwitz“ vom Zaun der nach dem Plebiszit neu gezogenen deutsch-polnischen Grenze brach, gibt einen Hinweis auf die immensen Folgewirkungen. Lukaschek hatte in seiner späteren Rede als Vertriebenenminister allerdings etwas Anderes im Blick: nämlich die Vertreibung der deutschen Schlesier infolge des Zweiten Weltkriegs, die nunmehr die seinerzeitige Abtretung Ostoberschlesiens in ein anderes Licht rückte.

Dr. Georg Eckert studierte Geschichte und Philosophie in Tübingen, wo er mit einer Studie über die Frühaufklärung um 1700 mit britischem Schwerpunkt promoviert wurde, und habilitierte sich in Wuppertal. 2009 begann er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Geschichte und lehrt heute als Privatdozent in der Neueren Geschichte.

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