Der Philosoph Prof. Dr. Gerald Hartung über Menschen und Politik in Pandemie- und Kriegszeiten und dem Geheimnis der menschlichen Lebensform
VON UWE BLASS
Der Klimawandel und die Ausbeutung unserer ökologischen Ressourcen des 20. Jahrhunderts wird uns noch Jahrtausende beschäftigen. Sie arbeiten als Philosophiehistoriker und haben in einer Veranstaltungsreihe des Studium Generale einmal die Frage „Was ist der Mensch?“ behandelt. Hat die Menschheit Erfahrungen gemacht, die den aktuellen Herausforderungen entsprechen und können wir davon ausgehen, dass wir überhaupt verstehen können, vor welcher Herausforderung wir stehen und welche Handlungsoptionen notwendig sind?
Hartung: Das ist eine interessante Frage, vor allem aufgrund ihrer kulturpessimistischen Tonlage. Selbstverständlich kann man sagen, dass wir Menschen Erfahrungen machen, aus denen wir lernen können. Allerdings gibt es Ereignisse – beispielsweise Krisen und Katastrophen –, die uns die Vermutung nahelegen, dass es mit den richtigen Schlüssen, die wir aufgrund von Erfahrungen ziehen, nicht weit her ist. Als Individuen, also als soziale und geschichtliche Subjekte, machen wir Erfahrungen im Rahmen unserer Lebenszeit. In normalen Fällen – wir sollten die pathologischen Fälle ausschließen – ziehen Menschen aus ihrer Erfahrungen die richtigen Schlüsse.
Ein Beispiel aus früheren Zeiten war das Kleinkind, das nur einmal im Leben auf die heiße Herdplatte fasst. Als kollektive Subjekte leben wir als Teilnehmer:innen von Generationen, die aufeinander folgen. So werden Erfahrungen innerhalb von Familien und sozialen Gruppen weitergegeben.
Ein Beispiel ist die Kriegserfahrung meiner Elterngeneration, die als junge Menschen den zweiten Weltkrieg und das Bombardement deutscher Städte erlebt haben (ohne die komplexe Lage von Verursachung und Verantwortlichkeit zu kennen) und diese Erfahrung weitergegeben haben. Aber schon hier ist die Lage so komplex, dass die Schlüsse aus gemachten Erfahrungen nicht eindeutig sind. Sowohl ein radikaler Pazifismus als auch ein Plädoyer für eine militärische Abschreckungspolitik kann vor diesem Erfahrungshintergrund motiviert werden.
Ein weiterer Gedanke: Wir begegnen Herausforderungen und treffen Entscheidungen in einem Spannungsfeld von Erfahrung (Vergangenheit) und Erwartungen (Zukunft). Das heißt: Unsere Erwartungen zukünftiger Situationen und Lebenslagen bestimmen unsere Gegenwart. In dem Maße, in dem die Zukunft nicht mehr der Vergangenheit entspricht, fehlt uns ein wichtiger Anker, um unsere Erwartungen zu regulieren. In diesem Sinne – das ist ein Gedanke des Historikers Reinhart Koselleck – sind wir als Akteure in einer sich rasant wandelnden Welt nicht gut vorbereitet auf die Zukunft.
Die dominante politische Ordnung ist auch heute noch weltweit der Nationalstaat. Seit den 1940er Jahren fordern Denkerinnen und Denker entweder eine Globalisierung der Politik – Stichwort: Weltstaat – oder eine radikale Individualisierung von Politik, so die Philosophin Simone Weil. Damit sind auch verschiedene Konzepte von Verantwortlichkeit verbunden. Wo sehen Sie die Stärken und Schwächen dieser Konzeptionen?
Hartung: Die Forderung nach einer globalen Politik, die sich nicht nur auf ideale Maximalforderungen stützt, sondern auch auf Institutionen, die einer politischen Willensbildung Nachdruck verleihen können, ist seit der Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem wortreich formuliert worden. Es fehlt jedoch weiterhin an einer globalen Judikative und Exekutive. Was die Vollversammlung der UNO beschließt, das hängt in der Praxis immer noch vom guten Willen der politischen Akteure ab. Und der ist, wie nicht zuletzt der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine zeigt, ein rares Gut.
Mit der Gründungsakte der UNO ist ein Weg beschritten worden, der ausgelöst wurde von der menschheitlichen Katastrophe eines deutschen Angriffskrieges auf ganz Europa. Solange die Erinnerung an dieses Auslösermoment wachgehalten wird, können wir davon ausgehen, dass der eingeschlagene Weg eingehalten wird. Jede neuere humanitäre Katastrophe und alle Formen eines Genozids erinnern uns daran, dass wir noch nicht viel erreicht haben. Es wird deutlich, dass wir eine machtvolle Kontrollinstanz benötigen, die Friedenspolitik effektiv betreiben kann. Davon sind wir weit entfernt. –
Eine radikale Individualisierung von Politik scheint mir ein großer Unsinn zu sein. Möglicherweise sehen wir in einigen Richtungen aktueller Identitätspolitik eine Tendenz zur Radikalisierung des Politischen. Aber Politik setzt auf Prozesse der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung, der Einhegung von Konflikten und der Konsensbildung. Verantwortlichkeit wird zwar auch dem Handeln Einzelner zugeschrieben (das ist eine Basis unseres Rechtsstaates), aber sie kann angesichts der Komplexität politischer, sozialer und ökonomischer Strukturen in einer sich globalisierenden Welt nicht allein auf den Schultern Einzelner lasten. Es bedarf der Entlastung durch institutionalisierte Verfahren der Legimitation sozialen Handelns.
Gegenwärtig ist von einer Krise der Politik und einem Vertrauensverlust in Wissenschaft die Rede? Wie stehen Sie zu diesem Krisendiskurs, der oftmals in die Warnung vor einer nahenden Katastrophe umschlägt und einen apokalyptischen Grundton hat?
Hartung: Es gibt gute Gründe für den angesprochenen Vertrauensverlust in die Politik. Diese liegen aber nicht auf der Oberfläche der Debatten zutage, wie sie in Zeitungen, Zeitschriften, Talkshows und sozialen Medien transportiert werden. Bedauerlicherweise ist die Lage komplizierter und es ist kaum noch möglich, die Vertrauensfrage an einzelne handelnde Personen in der Politik zu adressieren. Die unerfreuliche Nachricht ist, dass viele Faktoren beim Thema Vertrauen zusammenspielen, die für unsere moderne Informationsgesellschaft charakteristisch sind: Wir sind mit einer Flut von Informationen auf unterschiedlichen Kanälen konfrontiert. Diese Situation erleben wir oftmals als krisenhaft, weil es uns nicht gelingt, mit guten Gründen die Komplexität der Informationslage zu reduzieren. Auf verschiedenen Informationskanälen werden unterschiedliche Informationen, Meinungen, Wertungen vertreten.
Die Pandemielage hat gezeigt, dass Expertinnen Experten wiedersprechen können. Daten können unterschiedlich interpretiert werden, Situationen different eingeschätzt und Erwartungen in unterschiedlichen Tonlagen formuliert werden. Vertrauen in handelnde Personen, Institutionen und Verfahrensweisen haben wir, solange unsere Erfahrungen und Erwartungen mit den Erfahrungen und Erwartungen anderer korrelieren und wir den Eindruck haben, in einer gemeinsamen Welt zu leben. Die Grundlagen des Vertrauens werden brüchig, wenn für uns Erfahrungen und Erwartungen auseinanderklaffen und wir zunehmend das Gefühl oder die begründete Einsicht haben, mit anderen Menschen nicht mehr die gleiche Weltsicht zu teilen.
Mit diesen Erfahrungen der Unvertrautheit gehen wir unterschiedlich um. Die einen sehen nur die Risiken und Gefahren, die anderen Chancen und neue Handlungsoptionen. Politik kann es unter diesen Rahmenbedingungen den Menschen nicht immer recht machen. Sie kann in einer pluralistischen Gesellschaft nicht alle Interessen und Gefühlslagen bedienen.
Und es kommt noch schlimmer: Politik kann diese Situation auch zur Polarisierung in der Gesellschaft nutzen, wie wir in mehreren europäischen Ländern beobachten können. Dann treten an die Stelle der Machterhaltung durch Konsensbildung Verfahren der Dissensverstärkung. Diese Tendenz untergräbt die Fundamente einer liberalen Gesellschaftsordnung.
Der Philosoph Wolfram Eilenberger sagt in einem Interview: „Im heutigen Reden über ökologische Transformation wird so getan, als sei alles nur eine Frage der technischen oder politischen Umsetzbarkeit. Ich halte das für eine unglückliche Illusion. (…) Wir haben in Wahrheit keine tragbaren Lösungen für die Fragen, vor denen wir derzeit stehen. Wir haben nicht einmal die treffenden Begriffe zur Beschreibung des Problemhorizonts.“ Ist es wirklich so ausweglos?
Hartung: Nein, diese Ansicht teile ich nicht. Wir haben alle Begriffe zuhanden, um die Herausforderungen des Klimawandels und der ökologischen Transformation zu bewältigen. Es besteht kein akuter Bedarf an neuen Begriffen, auch wenn die Sucht nach Neologismen viele vorantreibt.
Was vielmehr fehlt und eigentlich immer fehlt, das ist die Bereitschaft, an und mit dem vorhandenen Begriffsinstrumentarium zu arbeiten. Denn Begriffe sind ständig im Wandel. Wir sind permanent dazu herausgefordert, beispielsweise die Grundbegriffe unserer politischen und moralischen Praxis zu bearbeiten und diese den sich wandelnden Kontextbedingungen anzupassen. Das gilt für den Begriff der „Freiheit“ wie für den Begriff der „Verantwortung“. Das gilt für die Begriffe „Gleichheit“, „Gerechtigkeit“, Recht“, „Sicherheit“ und viele andere ebenso. Das gilt aber auch für eher unscheinbare Begriffe unserer technisierten und sozial differenzierten Lebenswelt wie „Teilhabe / Partizipation“, „Transformation“, „Risiko und Kontrolle“, das allgegenwärtige Reden über „Krisen“, den allseits beklagten Verlust an „Vertrauen“.
Bei genauem Hinsehen ist oftmals nicht klar, welche „Freiheit“ wir einfordern, welches Verständnis von „Krise“ wir vermeintlich voraussetzen, worauf wir mit guten Gründen vertrauen sollten und ob ein gutes Maß an Misstrauen nicht sinnvoll ist. Denn „blindes Vertrauen“ sollte niemand von uns in andere Personen, Institutionen und Verfahrensweise wie Gerichtsverfahren, Promotionsordnungen, Finanztransaktionen usw. haben.
Neben der Tendenz zu Polarisierung besteht eine weitere Gefahr, die unsere liberale Gesellschaftsordnung unterhöhlen könnte: die Lenkung der Medien und die Eliminierung von Widerspruch, eine totalitäre Form der Begriffspolizei, wenn beispielsweise, wie wir aktuell in Russland beobachten können, von Regierungen vorgeschrieben wird, wie Ereignisse und Handlungen (nicht) genannt werden dürfen.
Die Welt steckt in der größten Pandemie des 21. Jahrhunderts mit noch nicht definiertem Ausgang. Sollten wir die Grundbegriffe unserer liberalen politischen Ordnung – beispielsweise Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit – neu definieren?
Hartung: Diese Frage habe ich bereits beantwortet, aber ich möchte hier noch einmal unterstreichen: Wir haben zu keinem vergangenen Zeitpunkt und werden auch zu keinem zukünftigen die Grundbegriffe unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens definieren können, weil diese Begriffe lebendig sind und weil sich ihre Grenzen verschieben können. Es entspricht einer Praxis liberaler Gesellschaften, dass die Meinungsvielfalt – auch unterschiedliche Theorieansätze und politische Verfahren zum Verständnis und zu Bewältigung der Pandemielage – ausgehalten wird. Das ist ein Aspekt des Toleranzgebotes, das – wir wollen auch nichts schön reden – in Zeiten permanent erlebter Krisen und sozialen Verwerfungen – an seine Grenzen kommt. Die Pandemielage der zurückliegenden zwei Jahre kann als Stresstest im Aushalten von Pluralität und Widersprüchlichkeit, im Einüben von Toleranz und Solidarität angesehen werden. Der Ausgang dieses Experiments ist offen.
Wie können Philosoph:innen mithelfen, einen Weg aus der Krise des Vertrauens in Politik und Wissenschaft aufzuzeigen?
Hartung: Nun, Philosoph:innen können auch keine Problemlösungen anbieten. Seit gut zweihundert Jahren hat sich allmählich die Einsicht durchgesetzt, dass uns die eine Theorie zur Erklärung der Komplexität unserer Wirklichkeit fehlt. Im Prozess der Ausdifferenzierung des Wissens haben sich seit dem 19. Jahrhundert neue Wissensdisziplinen in den Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaften gebildet, die jeweils andere Perspektiven auf unsere Wirklichkeit (Natur, Gesellschaft, Kultur) werfen. Unser Wissen ist detaillierter geworden, aber auch perspektivisch. Paradoxerweise hat sich mit der Anhäufung von Wissen in seiner perspektivischen Vielfalt die Erkenntnis verbreitet, dass der Bereich des Nichtwissens nahezu unendlich groß ist. Mit jedem Fortschritt an Wissen wächst auch das Nichtwissen.
Dem Wissensfortschritt korreliert daher eigentümlicherweise ein theoretischer Pessimismus: Wir werden niemals eine Lösung der Welträtsel erreichen können. Der Naturforscher und Mediziner Emil du Bois-Reymond hat schon 1872 in einer vielbeachteten Rede in diesem Zusammenhang von einem unaufhebbaren Bereich des „Ignorabimus“ gesprochen. Was können Philosoph:innen hier leisten? Die Antwort lautet: Sie haben eine unvergleichliche Kompetenz im Aushalten dieser Situation, in der das Wissen des Nichtwissens sich in den Vordergrund drängt und dramatische Züge – bspw. im Hinblick auf die Frage, wie wir die Klimakatstrophe vermeiden wollen – annimmt. Seit den Zeiten Platons ist diese Lage in verschiedenen Spielarten des aporetischen Denkens durchdrungen worden. Philosoph:innen wissen, wie mit unauflösbaren Widersprüchen (Aporien) umzugehen ist, ohne in naiver Weise vorschnelle Lösungen zu suchen, bei Ideologien Zuflucht zu nehmen, oder in Resignation abzugleiten.
Denn hier liegt ein Geheimnis der menschlichen Lebensform: dass sie vor Fragen gestellt ist, für die sie keine Antworten findet, und dennoch auf dem Weg der Antwortsuche mit vorläufigen Strategien ihr Überleben sichert. Daran sollten wir uns erinnern, um zukunftsfähig zu bleiben.
Prof. Dr. Gerald Hartung habilitierte 2002 an der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig und arbeitete dort als Privatdozent. 2008 kam er zunächst als Professorenvertreter an die Bergische Universität und übernahm 2010 dort den Lehrstuhl für Kulturphilosophie/ Ästhetik.