VON JOCHEN BILSTEIN
Die Journalistin der Süddeutschen Zeitung, Karin Janker, hat die Geschichte von der Entstehung des kleinen Buches „Kleiner Bruder“ erzählt. Ibrahima Balde hat den Weg aus Guinea bis nach Irun, einer französisch-spanischen Grenzstadt, geschafft. Eigentlich wollte er gar nicht nach Europa. Sein Traum war es, die Existenz mit LKW Transporten durch Guinea zu bestreiten, für sich, seine Mutter und die Geschwister. Denn nach dem frühen Tod des Vaters war er als ältester Sohn für die Familie verantwortlich.
Aber sein kleiner Bruder war mit 13 Jahren nach Europa aufgebrochen, ihn wollte er zurückholen, er hatte seinem Vater schließlich versprochen, sich um ihn zu kümmern. Aber das war vergeblich. In Libyen musste Ibrahima erfahren, dass sein Bruder auf dem Mittelmeer mit 143 weiteren Flüchtlingen ertrunken war. Ein Zurück gab es für Ibrahima nach dieser Nachricht nicht mehr. Zu traumatisch war sein Weg von Guinea durch Mali, Algerien und Libyen gewesen: Tagelange Märsche barfuß durch die Wüste, Menschenhändler, die ihn folterten und als Sklave verkauften.
In seinem Buch schreibt er: „Weil es zu spät ist umzudrehen und dein Zuhause weit weg ist, wenn du einmal in Marokko oder Libyen angekommen bist. Du bist zwischen Wüste und Meer gefangen, wie ein Tier.“ Ibrahima erreichte Europa und traf in Spanien Amets Arzallus, einen Basken. Von ihm sagt Ibrahima Balde, er sei der erste Mensch gewesen, der ihn wirklich angesehen und ihm zugehört habe. Sein neuer Freund, der als Journalist und Sänger arbeitet, erkannte in Gesprächen das Erzähltalent des 27-jährigen Guineers, der nie Schreiben und Lesen gelernt hatte.
So kam das kleine Buch zustande, in dem Ibrahima erzählte und Amets Arzallus aufschrieb. Die Geschichte beginnt mit dem Leben des Sechsjährigen, der in Conakry dem Vater beim Schuhverkauf auf der Straße helfen musste und der nach dem Tod des Vaters als Dreizehnjähriger für seine Familie verantwortlich war. Ibrahima erzählt von den Versuchen, für sich und die Familie das Überleben zu sichern. Es erzählt von der Hoffnungslosigkeit einer ganzen Jugend, die auch den kleinen Bruder zur Flucht veranlasste. Der Leser erfährt von den unsäglichen Strapazen, Qualen und Demütigungen während der Flucht und den Erinnerungen, die Ibrahima auch in Spanien, wie er sagt, jeden Tag anfallen.
Jetzt versucht er, in Spanien gültige Papiere zu bekommen, seine hat man ihm auf der Flucht abgenommen. Und „wenn du keine Papiere hast, bist du nicht mehr wert als eine Ziege.“ Ich habe durch meine Arbeit viele persönliche Kontakte mit jungen Flüchtlingen aus Guinea, die auf denselben Wegen nach Europa gelangt sind. Einer von ihnen war 13 Jahre alt wie der kleine Bruder, als er von zuhause in Conakry wegging. Er hat es geschafft und hat eine gute Perspektive in diesem Land. Wie viele jedoch auf dem Weg auf den „gelobten Kontinent“ umgekommen sind, weiß niemand. Wie es ihnen ergangen ist, das kann man in diesem Buch lesen.
Ibrahima Balde, Amets Arzallus • Kleiner Bruder Die Geschichte meiner Suche • Aus dem Baskischen von Raul Zelik • suhrkamp taschenbuch 5142, st novaSuhrkamp Verlag, 1. Auflage, Deutsche Erstausgabe • Fester Einband, 139 Seiten • 978-3-518-47142-5 • 14,00 € (D), 14,40 € (A), 20,90 Fr. (CH) • Auch als eBook erhältlich (11,99 €) • erschienen Mai 2021