Wuppertal | In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftler:innen der Bergischen Universität mit Ereignissen, die 100 Jahre zurückliegen und von besonderer Bedeutung für die Gesellschaft waren. Ein „Jahr100Wissen“-Interview mit dem Zellbiologen Prof. Dr. Martin Simon über die Entdeckung des Insulins. Das Gespräch führte Uwe Blass.
Die chronische Stoffwechselerkrankung Diabetes mellitus, bekannt als Zuckerkrankheit, konnte erstmalig 1921 behandelt werden. Was passiert bei der Erkrankung im Körper?
Simon: In erster Linie ist es ein Mangel an Insulin, oder ein Mangel der Wirkung des Insulins. Dadurch gibt es eine Fehlregulation des Zuckerhaushalts, des Kohlenhydrathaushalts. Das führt dazu, dass die Zellen, die Zucker verbrennen möchten und die Energie benötigen, diesen nicht mehr bekommen. Es entsteht eine Art Schwächegefühl. Das Ganze ist zunächst die primäre Wirkung. Die langfristigen Wirkungen sind allerdings wesentlich fataler. Es kommt zu Nierenschädigungen, da vermehrt Zucker über die Nieren ausgeschieden wird, um den hohen Blutzuckerspiegel zu senken. Und es gibt natürlich auch eine massive Schädigung des gesamten Organismus, weil der Energiehaushalt durcheinandergebracht wird.
Die Zuckerkrankheit wird schon im 2. Jahrhundert n.Chr. ausführlich beschrieben und man muss anmerken, dass Menschen über Jahrhunderte daran extrem gelitten haben. Die klassische Therapieform war eben Hungern, d.h. möglichst wenig und damit keine Kohlenhydrate zu sich zu nehmen. Die Krankheit war nicht behandelbar und Personen, bei denen durch die Aufnahme von Kohlenhydraten die Symptome entstanden und ein Zuckerschock auftrat, konnte man nicht helfen. Diabetespatienten wurden nicht sehr alt. Insulin ist unser einziges Hormon, das den Zuckerspiegel im Blut tatsächlich senken kann. Erhöhen können das mehrere Hormone, die sich auch sogar gegenseitig komplementieren können. Wenn wir kohlenhydratreiche Nahrung aufgenommen haben, wird durch die Pankreas (Bauchspeicheldrüse) von den Langerhans`schen Inseln (inselartig eingebettete Zellansammlungen hormonbildender Zellen in der Bauchspeicheldrüse) das Insulin ausgeschüttet und es bewirkt dann, dass die Zellen, Muskelgewebe oder auch die Leber, die Zucker aufnehmen wollen, diesen auch aufnehmen. Nicht der ganze Zucker, der durch das Blut im System oder im Körper verteilt wird, wird auch automatisch dort aufgenommen, sondern es muss ein Signal für die Zelle geben, welches sagt: jetzt sollst du Zucker aufnehmen.
Frederick Banting, ein kanadischer Chirurg, gilt als Entdecker des Heilpräparates Insulin. Wie fand er den Stoff?
Simon: Hier muss ich präzisieren. Er war nicht der erste, der Insulin tatsächlich isoliert hat. Der Rumäne Nicolae Paulescu hat es bereits 1916 aus Schlachtabfällen isoliert und auch 1921 publiziert. Aber er hat mehrere Fehler gemacht. So hat er seine Ergebnisse auf einem Vortrag in Rumänisch vorgestellt und die wissenschaftliche Facharbeit, die er verfasst hat, war auf Französisch. Damals war es jedoch schon so, dass sich die internationale Gemeinschaft für den wissenschaftlichen Austausch auf Englisch etabliert hatte. Und die Ergebnisse, so bahnbrechend, wie sie auch waren, sind komplett unbeachtet geblieben. Banting ist mit seinen ersten Isolaten hingegangen und hat zunächst nicht an den Schweinen gearbeitet oder an Rindern, sondern er hat seine Versuche mit Hunden gemacht. Er war auch ausgebildeter, wenn auch ein nicht besonders guter Chirurg, denn viele seiner Hunde starben an Infektionen.
Banting ist so vorgegangen. Er hat die Pankreas, die das Insulin produziert, abgeschnürt, so dass sie quasi den Verdauungssaft und die Substanzen, die die Bauchspeicheldrüse produziert, nicht mehr in den Magen-Darm-Trakt abgibt, sondern sie hat sie aufkonzentriert. Das war die chirurgische Lösung. Nach ein paar Tagen entfernte er dann die Bauchspeicheldrüse, zerkleinerte sie, ohne große Aufreinigungsversuche und spritzte das Homogenat dann intravenös diabeteskranken Hunden. Dadurch konnte er einen therapeutischen Effekt bei den Hunden erzielen, so dass er rückschließen konnte, dass darin zumindest die Substanzen seien, die er haben wollte.
Die Aufreinigungen des Insulins waren dann die weiteren wichtigen Schritte, die bis zur Herstellung des Medikamentes erfolgen mussten. Da kam dann der Institutsdirektor von Frederick Banting an der Universität Toronto ins Spiel. Banting konnte den Institutsdirektor John McLeod als einen Fürsprecher gewinnen, der seine Idee gut fand, obwohl er außer einer chirurgischen Ausbildung keine chemische/biochemische Ausbildung hatte. McLoed stellte Banting sowohl ein Labor mitsamt Versuchstieren sowie seinen Assistenten Charles Best zur Verfügung.
Banting hatte schon selber erkannt, dass das Präparat auch sehr instabil ist, d.h. das Insulin wurde offensichtlich abgebaut. Er hat dann Trypsin bildende Zellen vom Pankreas abgetrennt wodurch er das Insulin stabilisieren konnte. Der Literatur nach war es aber in erster Linie McLeod, der erkannte, dass er die Hilfe eines Biochemikers braucht, um das Insulin als reine Substanz zu gewinnen. Das war auch deswegen notwendig, um irgendwann auch zum humanen Patienten überzugehen, d.h. die Substanz musste wesentlich reiner sein, um verträglich zu sein
Das Insulin, das wir heute als pharmazeutische Substanz beziehen, ist allerdings nicht mehr aus Schlachtabfällen oder aus einem tierischen System isoliert. Das meiste davon ist biotechnologisch in Bakterien- oder Hefezellen exprimiert, d.h. das Gen für das Insulin wird in Hefen eingebracht und dann das Vorläuferinsulin in extrem großem Maßstab produziert. Bantings Versuche von den Schweinepankreasisolationen hießen damals, dass ein Patient ein Schweinepankreas pro Woche an Insulin benötigte. Das wäre heute bei den vielen Diabetes Typ 2 Fällen, die sich statistisch noch erhöhen werden, nicht mehr realisierbar.
Der weitere Vorteil bei der biotechnologischen Herstellung ist die Modifikation des Insulins. Man kann also einzelne Aminosäuren austauschen, man kann das Verhalten des Insulins beeinflussen und kann dadurch auch die Wirksamkeit beeinflussen. Es lassen sich sowohl schnell wirkende, als auch langsam wirkende Insuline herstellen und dann individuell auf die Bedürfnisse eines Patienten und dessen Krankheitsbild anwenden. Das Herstellen aus Bakterien ist nach wie vor nicht ganz einfach, da auch heute noch nach der Produktion weitere chemische Modifikationen erfolgen müssen. Im Säuger wird das fertige Insulin aus einem Vorläuferprotein prozessiert, ein Teil des Proteins wird entfernt, die beiden randständigen Peptide durch Disulfidbrücken miteinander verbunden. Diese enzymatische Ausstattung haben Bakterien nicht, weswegen diese Veränderungen durch biochemische Bandlungen an den Vorläuferproteinen realisiert werden.
Woher kommt der Name Insulin überhaupt?
Simon: Der kommt tatsächlich von dem Inselbegriff, der auch in dem Namen Insulin steckt. Nicht die gesamte Bauspeicheldrüse produziert das Insulin, sondern es gibt viele verschiedene Zelltypen im Pankreas. Und es gibt die sogenannten Langerhansschen Inseln, erstmalig durch den Pathologen Paul Langerhans beschrieben. Im Mikroskop sieht man das im histologischen Schnitt. Das sind Ansammlungen von einzelnen besonderen Zellen. Die sind ans Blutgefäßsystem angeschlossen und dafür verantwortlich, den Blutzuckerspiegel zu messen. Sie haben nicht nur die Aufgabe das Insulin zu produzieren, zu sekretieren, sondern auch als Regelfunktion den Blutzuckerspiegel zu messen. Und wenn er dann zu hoch ist, also eine Schwelle überschreitet, dann produzieren sie das Insulin und geben es in den Blutkreislauf ab. Da sind diese Langerhans
schen Inseln wichtig. Es gibt auch bei Insulindefizienz, d.h. bei Diabetes Typ 1 sogar Transplantationsmöglichkeiten (Inseltransplantation), wenn die Langerhans`schen Inseln aufgrund von Autoimmunkrankheiten angegriffen sind.
Der 5-jährige Ted Ryder war dann 1922 einer der ersten Patienten, der mit Insulin behandelt werden konnte. Er wog zu Beginn der Behandlung nur noch 12 Kilogramm und starb 1993 im Alter von 76 Jahren. Er ist mit 70 Jahren Diabetes-Dauer der wahrscheinlich längste dokumentierte Fall von andauernder Insulinbehandlung in der Medizingeschichte. Wie viele Menschen sind eigentlich an Diabetes erkrankt?
Simon: Man muss natürlich zwischen den verschiedenen Diabetesvarianten unterscheiden. Wir haben Diabetes Typ 1, das ist eine Autoimmunerkrankung, eine relativ seltene Variante, die ungefähr 10% der gesamten Diabetespatienten haben. Der häufigere Fall ist Diabetes Typ 2, wo der Körper noch Insulin produziert, aber die Aufnahme in die Empfängerzellen gestört ist oder nicht mehr stattfindet. Interessanterweise wird hier vom Pankreas manchmal noch mehr Insulin produziert, weil er versucht gegen zu regulieren, und das funktioniert auch im Anfangsstadium der Krankheit.
Diabetes Typ 2 ist das, was man früher auch als Altersdiabetes bezeichnet hat. Das entwickelt sich erst im Laufe des Lebens und wurde oft nicht rechtzeitig diagnostiziert. Heute kommt man von diesem Begriff ab, denn man hat heute neue Risikofaktoren identifiziert. Dazu gehört in erster Linie Übergewicht, aufgrund dessen viele junge Menschen diesen Diabetes Typ 2 entwickeln. Das sind 90% der Diabetesfälle.
In Deutschland leiden ca. 10% der Bevölkerung an Diabetes. Das ist eine der großen Volkskrankheiten, wobei natürlich nicht alle Patienten Insulin spritzen müssen. Zur Vollständigkeit muss man noch die Schwangerschaftsdiabetes mit einbeziehen. Da kommt es bei einer Schwangerschaft zu einer blockierten Insulinfunktion durch Hormone, die über die Plazenta ausgeschieden werden. Das Hormonsystem gerät durcheinander und es gibt eine kurzzeitige Diabetesform, die sich normalerweise nach der Entbindung wieder reguliert, obwohl das Risiko an Diabetes Typ 2 zu erkranken in der Schwangerschaft sieben Mal höher ist.
Wenn man das aufsummiert, hat man eine gemittelte Prävalenz von Diabetes in Europa von 6,4%. Erschreckend dabei ist tatsächlich, wir haben auch eine gesteigerte Prävalenz bei Diabetes Typ 1 von 3% und es gibt eine neue Studie vom DDZ (Deutsches Diabetes Zentrum) und dem Robert-Koch-Institut, nach der die Wissenschaftler in einer Prognose bis 2040 von einer bis zu 77%igen Steigerung von Diabetes Typ 2 ausgehen. Der massive Anstieg des größten Risikofaktors, nämlich des Übergewichts, wird sich in der nächsten Zeit heftig auswirken. Das ist schon erschreckend zu lesen, dass es jetzt schon fast 10% der Bevölkerung in einigen Ländern sind. Wenn man dann noch eine solche Steigerung mit einberechnet, dann sind wir ja schon auf mehr als 15% der Bevölkerung. Man darf nicht vergessen, auch Diabetes Typ 2- Patienten haben eine geringere Lebenserwartung und auch trotz den guten Therapiemöglichkeiten stellt die Krankheit immer noch eine heftige Beeinträchtigung der Lebensqualität dar. Nicht zu vergessen natürlich ist es ein riesiger Kostenfaktor für unser Gesundheitssystem.
Banting erhielt 1923 als jüngster Mediziner mit gerade 32 Jahren zusammen mit John McLeod den Nobelpreis für Medizin für die Entdeckung des Insulins. Die beiden waren danach aber keine Freunde mehr. Was war geschehen?
Simon: Das lässt sich anhand der Literatur schwer nachvollziehen. Es wird teilweise beschrieben, dass sie sich schon früher in den Haaren hatten. Was man lesen kann ist, dass McLeod als Institutsdirektor Banting sehr gefördert hat. Das hat anfangs gut funktioniert. McLeod hat sich den Überlieferungen nach später sinnvoll in das Projekt eingemischt, er hat nämlich gesehen, dass Banting ein relativ unreines Insulin produziert hat und veranlasst, dass ein Biochemiker zum Team stieß, der das Insulin reiner herstellte, um die Möglichkeit zu haben, ein tierisches Präparat einem Menschen zu spritzen.
Der Nobelpreis ging nun zu gleichen Teilen an den Institutsdirektor und den Leiter der AG. Charles Best, der als Assistent wesentliche Beiträge geleistet hat, als auch der Biochemiker James Collin, der die Aufreinigungen gemacht hatte, gingen leer aus. Diese Einmischung hat offensichtlich zu einer Entzweiung der beiden geführt. Banting hat sein Preisgeld mit Best geteilt. McLeod hat es mit Collin geteilt. Es ist schwierig zu beurteilen, welchen wirklichen Beitrag McLeod zu dem Projekt beigetragen hat. Und fragen kann man sie heute nicht mehr.
Martin Simon\
studierte bis 2005 an der TU Kaiserslautern und wurde dann 2012 Juniorprofessor an der Universität des Saarlandes. Seit 2018 leitet er die Fachgruppe Molekulare Zellbiologie und Mikrobiologie in der Fakultät Mathematik und Naturwissenschaften an der Bergischen Universität.
Beitragsfoto: Prof. Dr. Marin Simon / Molekulare Zell- und Mikrobiologie (c) UniService Transfer