Buchtipps XII – Nominierung der Kritikerjury
VON MARIE-LOUISE LICHTENBERG
Es sind zwei besondere Titel, die ich zum 8. Mai 2021 empfehle. An diesem Tag jährt sich zum 76. Mal das Ende des 2. Weltkrieges, der einer der verheerendsten Kriege der Menschheit war, und die Befreiung vom Nationalsozialismus. Ich bin sehr froh, dass gleich zwei Titel für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2021 nominiert sind, die das Thema Nationalsozialismus aufgreifen. Erinnern bedeutet aufklären.
Max Mannheimer (1920 – 2016), Überlebender der Shoah, sagte einmal zu Jüngeren: „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“

Wilma Geldof • Reden ist Verrat. Nach der wahren Geschichte der Freddie Oversteegen • Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer • Gerstenberg • ISBN 978-3-8369-6045-8 • 18,00 € (D), 18,50 € (A) • Ab 15 Jahren
Als Freddie 15 Jahre alt ist, endet ihre Jugend: Mit ihrer Schwester schließt sie sich im August 1941 in ihrer niederländischen Heimat einer kommunistischen Widerstandsgruppe gegen die deutschen Besatzer an. Sie muss lernen, niemandem mehr zu trauen, immer ein paar Schritte voraus zu denken. Anfangs geht es noch darum, Flugblätter zu verteilen oder Kurierdienste zu übernehmen. Doch die Aufgaben werden fordernder; Freddie versteckt Menschen, beteiligt sich an Sabotageakten und an der Tötung eines Besatzers. Sie handelt aus voller Überzeugung, aber auch mit zunehmenden Zweifeln und Skrupeln. Ist dieser Widerstand der richtige Weg? Ist Gewalt zu rechtfertigen?
Wilma Geldof erzählt einen packenden Roman auf Basis der Erinnerungen von Freddie Oversteegen (1925-2018). In der versierten Übersetzung von Verena Kiefer wird Freddies Denken und Fühlen in allen Nuancen greifbar. Geldof stilisiert keine Ikone eines lange vergessenen Widerstandskapitels, sie zeichnet ein vielschichtiges Bild eines zerbrechlichen, fragenden, aber auch eines unendlich mutigen Mädchens. Die besondere Stärke des Romans liegt darin, dass er Freddie nicht nur als Widerstandskämpferin zeigt, sondern eindrücklich auch ihre Ängste, die Unmöglichkeit einer ungetrübten ersten Liebe und die ständige Furcht, verraten zu werden, nicht ausspart.
Nominierung der Jugendjury

Jean-Claude Grumberg (Text) • Ulrike Möltgen (Ill.) • Das kostbarste aller Güter. Ein Märchen • Aus dem Französischen von Edmund Jacoby • Jacoby & Stuart • ISBN 978-3-96428-073-2 • 16,00 € (D), 16,50 € (A) • Ab 13 Jahren
1943: Ein Vater wirft seine neugeborene Tochter durch die Luke eines Güterzuges hinaus in den Wald und rettet sie so vor dem sicheren Tod im Vernichtungslager. Wie durch ein Wunder findet eine arme Holzfällerfrau das „kleine Gut“ (S. 29) an den Gleisen. Gegen alle Widrigkeiten zieht sie es als ihr eigenes Kind auf.
In dieser beeindruckenden Geschichte zeigt sich die Gattung Märchen z.B. durch die Einteilung der Handlung in Gut und Böse, Liebe und Hass, Mitgefühl und Gleichgültigkeit. Mit wortgewaltiger poetischer Sprache beschreibt der Autor die damalige Lebenswelt: Not und Armut, schwere körperliche Arbeit und Angst vor Krieg und Verbrechen. Wir erleben hautnah Beweggründe, Empfindungen und Entwicklungen seiner Charaktere mit. Ebenso eindringlich, glaubhaft und berührend werden wir von der Kraft der Liebe überzeugt. Gleichzeitig sehen wir Menschen gewalttätige Verbrechen begehen. Dadurch erkennen wir, dass das Böse nichts Abstraktes ist und sind aufgefordert aufzupassen, damit so etwas wie die Shoah nie wieder geschehen kann. Die düster wirkenden Zeichnungen greifen die Stimmung des Geschehens auf.
Die Texte wurden von der Kritiker- bzw. der Jugendjury erstellt.