Der 9. November ist für die Deutschen ein guter und ein schlechter Tag zugleich
VON MARIE-LOUISE LICHTENBERG
Der 9. November ist für uns Deutsche ein Schicksalstag.
Am 9. November 1918 war die Monarchie beendet und die Republik wurde ausgerufen.
Am 9. November 1923 wurde der Putschversuch Hitlers vereitelt.
Am 9. November 1938, der Reichspogromnacht, wurden unzählige jüdische Menschen angegriffen, verhaftet, verletzt, getötet. Ihre Friedhöfe, Wohnhäuser und Geschäfte wurden geplündert, beschädigt, zerstört. Mindestens 1400 Synagogen wurden in Brand gesetzt und brannten aus. Die Täter waren Nationalsozialisten, SA (Sturmabteilung) und SS (Schutzstaffel) unter den Augen der Bürger, Nachbarn, Kollegen etc., toleriert von der Polizei und der Feuerwehr. Opfer waren jüdische Frauen, Männer und Kinder. Die genaue Zahl der Toten weiß man bis heute nicht. Ca. 30 000 Juden wurden zwangsweise in Konzentrationslagern inhaftiert.
Am 9. November 1989 fiel die Mauer in Berlin und Deutschland wurde wiedervereinigt. Da coronabedingt dieses Jahr alle Veranstaltungen abgesagt wurden, ist es mir wichtig, an dieser Stelle dieses denkwürdigen Tages zu gedenken und daran zu erinnern. Aus den zahlreichen und lesenswerten Büchern habe ich zwei ausgesucht, um sie zu empfehlen.
Buchtipp 1:
Franck Pavloff • „Brauner Morgen“ • Aus dem Französischen von Edmund Jacoby • Illustrationen mit Streetart des Künstlers C215 • Jacoby & Stuart, Berlin 2015 • 72 Seiten • Taschenbuch 5,00 € • Ab 14 Jahre
Auf der Rückseite des Buches steht: “Dieses Büchlein geht unter die Haut. Es erzählt von unseren kleinen Feigheiten, unseren alltäglichen Kompromissen und davon, wie wir uns so lange mit totalitären Kräften arrangieren, bis wir nicht mehr zurückkönnen, bis wir ihnen hilflos ausgeliefert sind. Der Text von „Brauner Morgen“ ist millionenfach gelesen worden und um die Welt gegangen. Hier wird er von den ebenso eindrucksvollen Wandbildern des Streetartkünstlers C215 begleitet. „Brauner Morgen“ steigt auf die Straße hinab, um uns aufzurütteln.“
Ich empfehle diese Parabel, weil sie auf wenigen Seiten von einem immer eingeschränkteren Leben, einem immer stärker werdenden willkürlichen Staat und einer immer größeren Angst der Menschen erzählt. Und – dass es irgendwann zu spät sein kann, sich zu wehren. Sie ist ein Aufruf, nicht zu schweigen sondern die Stimme zu erheben – immer und überall, wo es erforderlich ist.
Buchtipp 2:
Herausgegeben von Israel Gutman, Bella Gutterman und Yad Vashem, Jerusalem • „Das Auschwitz-Album. Die Geschichte eines Transports“ • Übersetzung: Alma Lessing • Wallstein Verlag, Göttingen 2005 • 276 Seiten • gebundene Ausgabe • 39,00 €
Auf der Rückseite des Buches steht: „Das Auschwitz-Album ist ein einzigartiges Dokument. Es zeigt aus der Perspektive der Täter einen einzigen Tag eines im Mai 1944 in Auschwitz angekommenen Transports ungarischer Juden. Systematisch fotografiert ein SS-Mann die Menschen und hält alle Stationen dieses Tages von der Ankunft über die Selektion bis hin zum Warten vor den Gaskammern emotionslos fest. Diese Aufnahmen stellt er dann zu einem Album zusammen. Neben den Bildern in diesem Album existieren nur ganz wenige – heimlich gemachte – Fotos aus Auschwitz aus den Kriegsjahren. Unter den Deportierten befindet sich auch Lili Jacob. Sie überlebt Auschwitz, im April 1945 wird sie nach Aufenthalt in weiteren Lagern im Konzentrationslager Mittelbau-Dora befreit. Nach einem Schwächeanfall wird sie in einer ehemaligen SS-Kaserne untergebracht. Dort entdeckt sie – es scheint wie eine göttliche Fügung oder ein Wunder – eben dieses Album. Sie erkennt auf den Aufnahmen ihren Rabbiner, Verwandte und auch sich selbst. Lili Jacob nimmt das Auschwitz-Album zunächst an sich. 1980 übergibt sie das Album zur Aufbewahrung und als ewiges Mahnmal der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Dort gelingt es in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau durch intensive Nachforschungen viele der Menschen auf den Fotografien zu identifizieren und ihnen ihre Namen, ihre Einzigartigkeit und Individualität zurückzugeben.“
Ich empfehle dieses Buch, weil es so realistisch zeigt, wohin Faschismus, Menschenfeindlichkeit und Fanatismus führen. Es stimmt: Zuerst kommen die bösen Gedanken, dann die bösen Worte und dann die bösen Taten. Es zeigt auf brutale Weise, wohin die Schandtaten und Verbrechen der Reichspogromnacht am 9. November 1938 geführt haben: In die Vernichtung von Millionen Menschen durch die Nazis. Und natürlich hat das Erinnern und Gedenken an diese schrecklichen Ereignisse auch mit uns heute zu tun. Schauen wir uns um, in Deutschland und anderen Ländern, die Populisten und Faschisten werden mehr, sind wieder laut und schrecken zunehmend vor Gewalt nicht zurück. Lassen Sie uns wachsam sein!