Die fremde Handschrift

VON YVONNE SCHWANKE

Im traurigen Monat November war’s, Die Tage wurden trüber, Der Wind riß von den Bäumen das Laub, Da reist ich nach Deutschland hinüber.
Das dichtete schon Heinrich Heine in seinem berühmten Wintermärchen. Die Bäume sind ohne Laub und wir feiern die Heiligen, ehren die Toten und begehen den Volkstrauertag. An dem gedenken wir der Kriegstoten und sämtlicher Opfer von Gewaltherrschaft, Krieg oder Vertreibung. Und passend zum November und zum Volkstrauertag wieder ein Rechercheergebnis von Yvonne Schwanke auf der Suche nach einem Seesoldaten aus Durholzen. Viel Spaß
, Forum Wermelskirchen

Schon einmal wurde ich von einem Überraschungs-Feldpostfund aus dem ersten Weltkrieg gepackt und in eine längst vergessene Zeit zurückgeschleudert. Die „Post von Paul“ führte mich auf eine Odyssee, die an der Ostfront des Kriegsjahres 1916 ihren Anfang nahm und bis ins tiefste Sibirien in das Jahr 1919 führte.

Mein Uropa Walter Hessenbruch wurde seinerzeit ebenfalls eingezogen.

Man verfrachtete ihn an die Westfront in Belgien und Frankreich. Von dort schrieb er über 100 Karten und Briefe an seine Frau Toni und die beiden kleinen Kinder Karl und Antonie.
Die Korrespondenz reicht zeitlich von September 1914 bis zum Oktober 1918.
Uropa Walters Handschrift war gestochen schmal und er verfasste alles in Kurrentschrift.
Mit anderen Worten: Uropa Walter vermochte mit seiner sauberen Sauklaue, Unmengen eng aneinandergedrängte Informationen auf einer kleinen Postkarte zu verewigen.
(So er denn nicht nur einen einzigen Satz schrieb.)
Jeder der schon einmal als Anfänger versucht hat, uralte Postkarteninhalte zu transkribieren, weiß, dass es sich dabei um nervenaufreibende Kleinstarbeit handeln kann.
Vor mehr als 20 Jahren hatte ich es schon einmal mit einer Übersetzung seiner vermaledeiten Handschrift versucht und war kläglich gescheitert.

Uropa Walter Hessenbruch 2.v.r.vorne

Die Existenz der Feldpost an sich war somit seit langem bekannt.
Doch inhaltlich enthielt sie dann doch eine Überraschung:

Als ich die Karten nach Datum sortiere und dabei jede einzelne kurz überfliege, fällt mir urplötzlich eine leicht lesbare Handschrift ins Auge.
Die Karte ist vom 7.11.1915 und zeigt vorne den gemalten Hafeneingang von Ostende und Schiffe auf einer stürmischen See.
Verwirrt starre ich auf den Text: „Erlaubt sich zu grüßen, Seesoldat vom Stein“, steht da unvermittelt.

Neugierig gehe ich im Internet die Verlustlisten des ersten Weltkriegs durch und finde tatsächlich zwei Seesoldaten mit Namen Walter vom Stein.
(Zur Info: In den Verlustlisten wurden nicht nur Todesfälle, sondern auch Verwundete und in Gefangenschaft geratene Soldaten aufgeführt. )
Der eine Walter stammte aus Solingen und der andere – erstaunt starre ich auf den Ortsnamen – aus unserem Nachbardorf Durholzen. Der muss es sein!

Der Link führt mich zu dem uralten Listeneintrag und hinter Walter vom Steins Namen steht : t. = Tot.
Zusätzlich checke ich seinen Namen in der sogenannten „Geheimen Marine Verlustliste“ und stoße dort tatsächlich auf weitere Angaben:
T.3.12, g. G, K. = Tod am 3.12 durch ein großes Geschoss in den Kopf.

Der Mann mit der leserlichen Handschrift, der sich am 7.11.15 auf Uropas Karte „erlaubt hatte zu grüßen“, starb nur knapp 4 Wochen später durch einen Kopfschuss.
Für mich eine dystopisch surreale Vorstellung.
Ich fahre mit dem Finger über die Schrift und frage mich, wie dieser Mensch wohl gewesen sein mag.
Welchen Beruf hatte er? Was waren seine Träume? War er verliebt, verheiratet? Hatte er Kinder?

Hinter diesem kurz hingekritzelten 105 Jahre alten Gruß steckt eine Geschichte und ich will wissen, was ich dazu noch herausfinden kann.
Doch, wie schon bei der Recherche nach Paul, ist auch hier mal wieder meine Geduld gefordert.

Einige Wochen später empfängt Herr Gries die liebe Ute Keller und mich in den aufregenden Archivkatakomben des Bergischen Geschichtsvereins (BGV) Wermelskirchen. Dank seiner Hilfe finden wir die Sterbeurkunde recht zügig, was mich bei der Recherche zu „meinem“ Seesoldaten vom Stein tatsächlich ein ganzes Stück weiterbringt

Die Sterbeurkunde wurde mehr als ein halbes Jahr nach Walters Tod, am 29.6.1916, ausgestellt und enthält folgende Informationen:
der Kommandeur des 2. Ersatz-Seebataillons Nummer 2 hat mitgeteilt, dass der Seesoldat des 3. Marine Infanterie Regiments, Eugen Walter vom Stein, Anstreicher, ledig.
21 Jahre alt, evangelischer Religion, wohnhaft in Wermelskirchen-Durholzen, geboren zu Durholzen, Stadtgemeinde Wermelskirchen
Sohn der Eheleute Anstreicher und Landwirt Albert vom Stein und Elise geborene Paffrath, wohnhaft in Wermelskirchen, bei Ketsbrug in Belgien, am dritten Dezember des Jahres tausendneunhundertfünfzehn gefallen sei.
Die genaue Zeit des Todes ist nicht festgestellt worden
.

„Ach guck“, denke ich, „EUGEN Walter! Du Seesoldat warst eigentlich gelernter Anstreicher. Und wurdest nur 21 Jahre alt.“
Verdammter Krieg.

In den darauffolgenden Wochen beginne ich damit, sämtliche zusammengetragenen Abstellraumfund-Fotos zu sortieren.
Mein Urgroßvater Walter Hessenbruch brachte erstaunlich viele Fotos aus seiner Kriegszeit mit.
Damals wurden diese meist mit einer Postkarte auf der Rückseite ausgedruckt und so dachte ich zunächst, dass es sich bei fast allen um „allgemeine“, also eher unpersönliche Fotos handelte.
Als ich, mit einer große Lupe und dem Handy im Anschlag, die vorhandenen Fotos sichte, erkenne ich darauf jedoch recht häufig meinen Urgroßvater.
Ein Foto zeigt ein großes dunkles Holzkreuz auf einem frischen Grab inmitten anderer frischer Gräber. Schon sehr oft habe ich es in den Händen gehalten und betrachtet. Heute, es ist der 20.11.2019, bin ich dabei, es per Whatsapp an meinen lieben Recherche-Helfer und Experten Tommy Gratza weiterzuleiten, als mir ein bisher unbemerktes Detail ins Auge fällt. 
Auf dem Kreuzbalken ist eine schwache Inschrift erkennbar.
Neugierig schaue ich mir das Ganze daraufhin noch einmal näher an und mir stockt der Atem.

„Nein! Nein! Das kann nicht sein!“, denke ich und meine Nackenhaare richten sich ein klein wenig auf.
Noch einmal nehme ich mein Handy zur Hand, zoome näher heran und bekomme Gänsehaut.

Auf dem Grabkreuz steht: 
Seesoldat Walter vom Stein
(Kompanie und Dienstgrad)
gefallen 3.12.
1915
in Ketsbrug

Ruhe in Frieden

Ich besitze tatsächlich ein Bild vom Grab „meines“ gesuchten Seesoldaten!
Fassungslos setze ich mich erst einmal hin.
„Das gibt es doch gar nicht!“, denke ich und rufe sofort Ute Keller an, um ihr von dem Fund zu berichten.
Es dauert eine Weile bis meine Gänsehaut verschwindet.

Und wieder ist es wie seinerzeit bei Paul. Ute und ich sind uns einig:
Ich MUSS weitersuchen.
Wie sah er aus, der Seesoldat Walter vom Stein? Wo hat er in Durholzen gewohnt? Wer ist mit ihm verwandt?

Dieses Mal setze ich im Nachbardorf Durholzen an und frage meinen Freund Elmar Kaiser, der dort aufgewachsen ist.
„Sag mal, gibt es in Durholzen noch irgendwo „vom Steins“?“, frage ich
„Boah, also nicht, dass ich wüsste. Könnten ja aber auch in Unterdurholzen gewohnt haben“, erwidert Elmar.
Also frage ich meine Nachbarin Mimi (Marion Posingies), die ursprünglich aus Unterdurholzen stammt.

(Aus 12 Häusern und fünf Scheunen bestehende Ortschaften werden hier im Bergischen gerne in Ober- und Unterdorf unterteilt, das ist meist auf geographische Gegebenheiten zurückzuführen und selten auf akuten Größenwahn.)

Aber auch Mimi kann leider nicht mit weiteren Informationen aufwarten.
Ich trete also auf der Stelle und komme nicht weiter. Mal wieder.

Monate vergehen. Monate, ich denen ich viel arbeite und viel wandere.
Schon unzählige Male wanderte ich am Mahnmal im Wellerbusch vorbei.
Schon unzählige Male überflog ich die in Stein gemeißelten Namen.
Und nun nehme ich zum ersten Mal bewußt wahr, dass auch der Name “meines” Seesoldaten darauf festgehalten ist.
Für uns sind es nur noch aneinandergereihte Buchstaben ohne Inhalt, ohne Leben, ohne Bilder, ohne eigene Geschichte.
„Ich versuche wirklich, ein Stück von Dir zu wiederzufinden, Seesoldat“, verspreche ich dem Namen auf dem Denkmal und überlege, wie meine Suche weitergehen könnte.

Wieder einige Wochen später….
Der Familienname „vom Stein“ ist fest in Wermelskirchen verankert.

Aus einem Impuls heraus wende ich mich daher an den einzigen mir bekannten Namensvetter meines Seesoldaten: den außergewöhnlichen Walter vom Stein.
Im Januar 2020 kommt es in der Firma Steintex zu einem herausragenden Treffen mit dem interessanten und interessierten Walter vom Stein.
Schnell wird klar, dass der „Steintex“-Zweig nicht der gesuchte „vom Stein“-Zweig ist.
Das gesamte Sit-In ist jedoch ein informatives, multidimensionales Erlebnis auf allen Ebenen im Zuge dessen ich auch noch den Senior Herrn August Günther vom Stein kennenlernen und ein bisschen zulabern darf.

Wieder gerät meine Seesoldaten-Suche ins Stocken, denn ein bis dato unbekanntes Virus stellt die bisher bekannte Welt auf den Kopf.
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Es ist Anfang August 2020, ich fege vor meiner Ladentür als ein Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite Halt macht.
Ein freundlich wirkender älterer Herr steigt aus und beginnt mit der ausgiebigen Aufbereitung der Holztür meiner Nachbarn.
„Malermeister Jürgen vom Stein“ lese ich, lege den Kopf schief und denke nach.

Später am gleichen Tag begebe ich mich mit Andreas „Kemmi“ Kemman in den Untergrund.
Wir “abenteuern” gemeinsam in die alte Mine zwischen Staels- und Knochenmühle, die ich schon lange mal erkunden wollte.
Kemmi erklärte sich freundlicherweise bereit, mit mir in das dunkle Loch im Boden zu steigen. Er kennt sich nämlich dort aus. Ich nicht.

Während unserer Tour erzähle ich ihm von der Seesoldaten Recherche und dass meine nächste Aktion so aussehen wird, dass ich den momentan in Buchholzen beschäftigten Malermeister Jürgen vom Stein diesbezüglich heute noch ansprechen werde.
Immerhin haben er und der Seesoldat den gleichen Beruf.
„Maler und Lackierer in der xten Generation? Findest Du nicht, dass ist ein bisschen weit hergeholt?“, meint Kemmi, ebenfalls Ahnenforscher.
„Wir Hessenbruchs sind Schreiner in der vierten Generation“, antworte ich schulterzuckend, „sooo weit hergeholt finde ich das gar nicht. Fragen schadet nicht.“
„Bin gespannt“, antwortet er.

Kemmi entpuppt sich übrigens als großartiger „Fremdenführer“.
Zwei Stunden, eine Mine, ein Grab im Wald, einen Steinbruch und eine Entdeckung von alten Kettenfahrzeuglaufrädern später lande ich wieder zuhause.

Im Abenteuermodus und in Gummistiefeln stürze ich aus dem Auto und stürme entschlossen auf den nichtsahnenden Herrn vom Stein zu, der friedlich an der Haustür herumwerkelt.
„Guten Tag! Entschuldigung“, sage ich, „ich hätte da mal eine Frage an Sie: Hat Ihre Familie mal in Durholzen gewohnt? Also, so vor ungefähr 100 Jahren?“
„ Ja klar!“, lacht er, „genau in dem Haus, in dem die Familie Kaiser wohnt!“
(„Ach guck, Elmar. Es wohnten doch „vom Steins“ in Durholzen!“, denke ich fassungslos.)
„Wissen Sie, ich suche nach einem Seesoldaten namens Walter vom Stein aus Durholzen“, sage ich, „der hat 1915 auf einer der Feldpostkarten meines Urgroßvaters einen Gruß hinterlassen.“
Während ich das sage, fällt mir auf, wie schräg sich das Ganze für Außenstehende anhören muß. Auweia.

„Ach, der Walter! Ja, der war mit mir verwandt. Ist aber damals in Belgien erschossen worden“, erwidert Herr vom Stein so, als sei es das selbstverständlichste der Welt.  
„In Ketsbrug“, erwidere ich in erstauntem Autopilotmodus.
„Ja, irgendwo da“, sagt er.
„Wie? Sie kennen seine Geschichte? Nach all der Zeit?“, ich bin erschüttert.
„Natürlich! Der Walter, das war ein Draufgänger. Wo immer irgendwas los war, da stand der in vorderster Reihe. So ein Abenteurer war das. Und nach dem Krieg wollte der sogar nach Afrika auswandern. Na ja, dazu kam es dann ja nicht mehr“, endet Herr vom Stein freundlich lächelnd.
„Der war Anstreicher so wie Sie“, sage ich und muss mich davon abhalten, diesen netten Menschen nicht fest zu knuddeln.
„Ich bin Anstreicher in 7. Generation. Aber nach mir ist dann auch Schluss“, sagt er lachend.
(„7. Generation, Kemmi! Ha! Unwahrscheinlich, aber möglich!“, innerlich tanze ich vor Freude.)
„Sagen Sie, existiert vielleicht irgendwo noch ein Foto dieses Seesoldaten und Draufgängers Walter vom Stein?“, frage ich zaghaft und wage nicht zu hoffen.
„Klar. Meine Tochter hat eins.“
Nach diesem Satz schlägt mir das Herz bis zum Hals.
„Könnten Sie mir das abfotografieren und dann via Whatsapp zuschicken“, frage ich aufgeregt.
„Ich kann das nicht so mit dem neumodischen Kram. Aber ich frage meine Tochter gerne“, sagt er und schon wieder könnte ich ihn herzen.
„Ich habe sogar ein Foto vom Grab“, sagt er.
„Ich auch! Hat, glaube ich, mein Urgroßvater gemacht“, sage ich.
„Wer war denn der Urgroßvater?“
„Walter Hessenbruch.“
„Ach nee, die Welt ist klein“, sagt er und freut sich mit mir.
„Der Walter, der war ein richtiger Draufgänger“, sagt er noch einmal lächelnd und seufzt.
Ich gebe ihm meine Visitenkarte und erneutes Warten beginnt.  

Noch am gleichen Abend erhalte ich von Kristina vom Stein, der Tochter des freundlichen Malermeisters, das ersehnte Foto von Seesoldat Walter vom Stein, seines Zeichens Draufgänger und Anstreicher.

Darf ich vorstellen?

Draufgänger, Anstreicher und Seesoldat Eugen Walter vom Stein

Ein kurzer Gruß auf einer 105Jahre alten Postkarte führte nicht nur zu Begegnungen mit interessanten und hilfsbereiten Menschen, sondern ließ die Erinnerung an einen jungen Mann aufleben, der vor über 100 Jahren in den Krieg zog und nicht mehr zurückkehrte.

Hinter allen Namen auf allen Kriegs-Mahnmälern der Welt stand einst ein Menschenleben.
Gingen wir ehrfüchtiger mit dem Leben um, wenn wir versuchten, uns bewußt zu machen, dass hinter allen Namen auf allen Kriegs-Mahnmälern der Welt einst ein Menschenleben stand?

Walter vom Stein jedenfalls ist nicht mehr länger nur ein Name unter vielen auf einem alten Gedenkstein im Weller Busch, also nicht für mich jedenfalls.
Dieser Name hier bekam sein Gesicht und einen kleinen Teil seiner Geschichte zurück.
(Und ich danke allen, die das möglich gemacht haben, von Herzen.)

Das Leben eines Menschen besteht aus Geschichten.
Und man ist erst dann wirklich tot, wenn die Spuren und Geschichten, die man in der Welt hinterlassen hat, vergessen sind.

Kommentare (4) Schreibe einen Kommentar

    • Thomas Gratza
    • 07.11.20, 18:17 Uhr

    Danke für diese außergewöhnliche Geschichte und interessante Recherche. Und das Ich in deiner Story einen Platz gefunden habe. Das erfreut mich wirklich sehr. Gruß Tommy

    Antworten

      • Wönni
      • 08.11.20, 9:45 Uhr

      Danke, dass Du mir bei jeder dusseligen Frage mit Rat und Tat zur Seite stehst, oh wandelndes Militärlexikon. Liebste Grüße

      Antworten

    • Angelika Macholl
    • 07.11.20, 22:17 Uhr

    Hinter dem Hause Kaiser in Durholzen steht ein Schuppen an der Straße. Jetzt eine Garage. Dort hat in meiner Erinnerung immer ein alter Mann an Motorrädern und sonstigen Maschinen rumgeschraubt.
    Der hieß vom Stein. Da war ich als Kind mit meinem Vater.
    Und bei dem Beruf Anstreicher wäre mein Tipp an Dich auf jeden Fall Jürgen vom Stein gewesen.
    LG
    Angelika

    Antworten

      • Wönni
      • 08.11.20, 9:46 Uhr

      Beim nächsten Mal frage ich Dich sofort, meine Liebe. Liebe Grüße

      Antworten

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