„Nicht alles, was noch erlaubt ist, ist sinnvoll“

Den Beitrag von Georg Watzlawek entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung dem Bürgerportal Bergisch Gladbach, in-gl.de:

Auf die zweite Corona-Welle hatte sich der Kreis Rhein-Berg vorbereitet und das Lagezentrum wieder ausgebaut. Die „extreme Rasanz“ der Pandemie bringe die Behörde dennoch an den Rand ihrer Kräfte, sagt Krisenstab-Leiter Erik Werdel. Er erklärt, warum er von immer neuen Kontaktbeschränkungen nichts hält – und was nun erforderlich sei, um die Krise zu bewältigen.

Noch habe der Krisenstab des Rheinisch-Bergischen Kreises „die Steuerung in der Hand”, sagte Erik Werdel, Leiter des Krisenstabs und Kreisdirektor, am Freitag im Gespräch mit dem Bürgerportal: „Wir stehen in einer extremen Herausforderung – ob es eine Überforderung ist, wird sich jetzt zeigen.“

Kurz vor dem Interview hatte das Gesundheitsamt 48 positive Corona-Tests bestätigt, mehr als je zuvor an einem Tag seit Beginn der Pandemie. Schon am Samstag wurde diese hohe Zahl weit in den Schatten gestellt. Die Grafik der 7-Tage-Inzidenz weist einen fast senkrechten Anstieg auf knapp unter 100 aus, das Tempo und die absoluten Zahlen haben die erste Welle im Frühjahr weit hinter sich gelassen.

Der Krisenstab analysiere jeden Tag die Lage und habe auch über weitergehende Maßnahmen beraten, sollte die Inzidenz über 100 gehen, sagte Werdel am Samstag. Aber das könne nur in Abstimmung mit dem Land NRW geschehen – und das habe bislang keine weiteren Regeln festgelegt. Auch nicht in Städten, die schon länger über 100 liegen.

Allerdings: sollten in Rhein-Berg „besondere Quellpunkte“ für Infektionen erkennbar werden, behalte sich der Krisenstab besondere Maßnahmen vor.

Vorerst halte der Kreis aber an seiner alten Strategie fest: Kontakte aufspüren, Infektionsketten unterbrechen – und immer wieder für Abstand, Hygiene und Alltagsmasken werben, betont Werdel. Dabei komme es auf die Verantwortung aller an; der Staat dürfe und solle „nicht in jedes Haus hineinschauen, nicht alles totregulieren“.

Corona-Bekämpfung als Zusatzaufgabe

Alles in allem sind in der Kreisverwaltung wieder rund 200 Personen mit der Corona-Bekämpfung beschäftigt. 20 Kräfte für das Lagezentrum hat der Kreis bereits befristet eingestellt, 20 weitere sollen folgen. Zudem helfen zehn Bundeswehr-Soldat:innen aus.

Hätte diese Aufstockung, der Einsatz der Bundeswehr, nicht schon viel früher geschehen können? Mit dem Wissen von heute wäre das besser gewesen, sagt Werdel, „wir sind nicht so gut aufgestellt, wie wir es sein sollten“.

Aber die „extreme Rasanz“ der Entwicklung sei nicht vorhersehbar gewesen. Bis vor wenigen Tagen sei ein Einsatz von Soldat:innen kein Thema gewesen, nun schicke die Bundeswehr auf einen Schlag zehn Kräfte.

Die meisten Mitarbeiter:innen bewältigen die Corona-Aufgaben zusätzlich zum normalen Pensum. Denn im Gegensatz zum Frühjahr befinde sich der Kreis eben nicht in einer „Lockdown-Situation”, in der fast alle Dienststellen geschlossen waren.

Das soll dieses Mal verhindert werden – weil es sich auf die Bürger:innen auswirke, wenn Zulassungsstelle, Jobcenter oder Kulturbüro ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen.

Engpässe bei der Nachverfolgung, am Bürgertelefon und in den Testlabors

Eine Überforderung des Gesundheitssystem sieht der Kreisdirektor nicht. Anders als im Frühjahr seien alle wichtige Einrichtungen gut vorbereitet und versorgt. Das gelte für die Krankenhäuser, aber auch für die Pflege- und Seniorenheime. Sie hätten viel aus der ersten Welle gelernt und entsprechend reagiert.

Dass es bei der Nachverfolgung der Kontakten und bei der Beantwortung von Fragen am Bürgertelefon zu Verzögerungen und auch Fehlern kommt, räumt Werdel ein. „Wir tun alles, was wir können“, aber wenn zum Beispiel 100 Testergebnisse auf einen Schwung herein kommen, dauere es seine Zeit, bis alle abgearbeitet sind.

Vor allem die Überlastung der privaten Testlabors, auf die auch der Kreis zurückgreifen muss, führe zu großen Verzögerungen. Im Moment könne es sieben bis acht Tage dauern, bis die Testergebnisse vorliegen. Schnelltests würden einen großen Fortschritt bringen, seien aber noch nicht zuverlässig genug.

Woher kommen die Infektionen?

Angesichts der hohen Zahlen werde es irgendwann einen Strategiewechsel geben müssen, sagt Werdel. Schon jetzt könne man nicht alle Kontakte nachverfolgen – und über den Ursprung der Infektionen wisse man nur sehr wenig.

Relativ sicher sei nur, dass es nicht die Schulen und Kitas seien, ebensowenig die Pflegeeinrichtungen. Dort komme es zwar immer wieder zu einzelnen Fällen – aber die würden in der Regel von außen hereingebracht.

Daher gehe es auch für den Schulstart nach den Herbstferien an diesem Montag keine neuen Auflagen, sie sollen weiter im Regelbetrieb arbeiten.

Ansteckungen in größerer Zahl hatte es in den vergangenen Monaten nicht gegeben, mit Ausnahme des Wohnheims der Moscheegemeinde und des aktuellen Falls eines Flüchtlingsheims in Overath.

Nun gehe man davon aus, dass die meisten Infektionen im privaten Umfeld passieren, bei Feiern und Treffen.

„Es passiert offenbar noch zu viel, überall dort, wo der Staat nicht hineinschaut und reguliert“, sagt Werdel. Aber der Staat dürfe auch gar nicht in die Häuser hinein regieren und müsse auf die Eigenverantwortung setzen.

„Maskenpflicht – aber nicht überall”

Daher plädiert Werdel jetzt nicht für weitere Maßnahmen, über die bereits beschlossenen hinaus. Auch andere Kreisen, die bei der 7-Tage-Inzidenz schon vor Tagen über 100 lagen, hätten bislang nicht zu weiteren Beschränkungen gegriffen.

Die Maskenpflicht im Unterricht, bislang nur eine dringende Empfehlung des Krisenstabs, sei ja inzwischen auch vom Schulministerium verfügt worden. „Ich bin nicht für eine vollständige Maskenpflicht im Außenbereich. Im Wald und auf der Straße brauchen wir sie nicht – aber überall dort, wo kein ausreichender Abstand möglich ist und keine Frischluft gewährleistet ist“, sagt Werdel.

Werdels Meinung nach mache es auch keinen Sinn, mit Blick auf die Inzidenzwerte die Kontaktbeschränkungen immer weiter herunterzufahren: „Irgendwann darf man nur noch drei Personen treffen, dann zwei, dann eine? Was soll das bringen“, fragt er.

Auch könne man die Sperrstunde für die Kneipen von jetzt 23 Uhr vorziehen, aber würde damit riskieren, dass die Leute zuhause mit weniger Kontrolle weiter feiern.

„Ein Maß finden, das akzeptiert wird“

Auch eine Kontrolle von Feiern im privaten Bereich halte er nicht für gut, der Staat solle und dürfe sich nicht in die Privatsphäre hinein gehen. „Wir müssen ein Maß finden, das akzeptiert wird“, betont Werdel.

Wichtiger als die Vorschriften sei ohnehin die Eigenverantwortung. Den Satz „Ich darf das ja“, könne er nicht mehr hören, ärgert sich Werdel. Man solle sich nicht fragen, ob etwas noch erlaubt sei, sondern ob es sinnvoll sei – und im Zweifel auf ein Fest, ein Treffen oder auch auf eine Sportveranstaltungen verzichten.

Im Prinzip funktioniere das auch – bis auf einige, offenbar weitreichende Ausnahmen.

Dann gebe es aber noch die Fehler, die auch den Vorsichtigen passieren: „Das ist wie mit den Kühlketten: eine Unterbrechung kann fatale Folgen haben“, erläutert der Kreisdirektor. Zum Beispiel hielten sich die Schüler:innen im Schulbus und im Unterricht zwar an die Maskenpflicht, aber sobald sie den Schulhof in ihrer Clique verließen würden sie die Maske abnehmen. Das sei zwar erlaubt, aber eben nicht konsequent.

Überfüllte Schulbusse könnten ein Problem sein, räumt Werdel ein. Allerdings helfe dort die Maske – und zweitens würde ein Ausbau der Kapazitäten einen großen, personellen und logistischen Aufwand nach sich ziehen.

Strategiewechsel, wenn die Zahlen weiter steigen

Wenn die aktuelle Strategie, die Zahlen klein zu halten, nicht mehr funktionieren, müsse es einen Wechsel geben, sagt Werdel. Aber diese neue Strategie könne nicht die des Rheinisch-Bergischen Kreises sein, sie müsse allgemein im ganzen Land gelten.

Diese neue Strategie könne nach Werdels persönlichen Einschätzung nur sein, dass man sich „auf die Bevölkerungsgruppen konzentriert, die am meisten gefährdet ist“.

Beitragsfoto: Erik Werdel ist Kreisdirektor. Derzeit aber auch der Leiter des Krisenstabs © Joachim Rieger

Kommentare (2) Schreibe einen Kommentar

    • P. Hermann
    • 25.10.20, 11:25 Uhr

    Werdels Meinung nach mache es auch keinen Sinn, mit Blick auf die Inzidenzwerte die Kontaktbeschränkungen immer weiter herunterzufahren: „Irgendwann darf man nur noch drei Personen treffen, dann zwei, dann eine? Was soll das bringen“, fragt er.

    … wenn Herr Werdel sich diese Frage wirklich stellt, dann hat er das Wesen einer Pandemie wohl nicht erfasst. Was, wenn nicht Kontaktbeschränkungen, bringen die Inzidenzwerte nach unten? Ist das wirklich er richtige Mann an der Spitze eines Krisenstabes? Ich finde diese Aussage höchst fragwürdig.

    In diesem Sinne, bleiben Sie gesund,
    P. Hermann

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