Ein Wort zum Montag, dem 21. September 2020
VON CORNELIA SENG
„Der andere könnte recht haben – das ist eine zutiefst christliche Lebenseinstellung. Es ist eine Haltung, die man einem Menschen anmerkt“, sagte vor kurzem die Pfarrerin in der Predigt im Bergpark Wilhelmshöhe.
Tatsächlich fallen mir gleich etliche Beispiele aus der Bibel ein. Am eindrücklichsten ist die Erzählung, in der Jesus auf eine Frau aus dem südlichen Syrien trifft (Mk.7, 24-30). Sie gehört nicht zum Volk der Juden. Und doch bittet sie Jesus um Heilung für ihre kranke Tochter. Zunächst weist Jesus sie barsch ab. Er sei nur zu den Kindern des Volkes Israel gekommen, sagt er. Doch sie gibt nicht auf. Überraschend ändert er daraufhin seine Meinung. Ausgrenzung war nie seine Sache. Alle Menschen, nicht nur die Juden, sollen teilhaben an der neuen Welt Gottes.
Unser Zusammenleben in der Demokratie funktioniert nur, wenn Menschen grundsätzlich in dieser Haltung leben: Der/die andere könnte recht haben. Ich kann mich (heute) irren. Vielleicht bin ich es, die etwas übersieht oder falsch einschätzt. Auch staatliche Behörden und amtliche Entscheidungen können die Menschenrechte verletzen. Wieviele Asylverfahren müssen per Gerichtsbeschluss ein zweites Mal überprüft werden!
Ich erinnere mich an ein Gespräch im Auto auf der Rückfahrt von Langenfeld. Ich habe J. aus Pakistan zur Flüchtlingsberatung begleitet. Dort arbeitet eine Rechtsanwältin, die sich auskennt im Asylrecht. J. wundert sich, dass er nichts bezahlen muss. „Die Flüchtlingsberatungsstelle wird vom Land NRW, vom Familienministerium, unterstützt“, erkläre ich ihm. „Dann bezahlt der Minister dafür, dass ich gegen ihn Recht bekomme“, resümiert J. verwundert. In Pakistan ist das in der Praxis schwer vorstellbar. In diesem Moment war ich tatsächlich ein wenig stolz auf unser Land.
„Der/die andere könnte recht haben“, das ist eine Haltung, die von uns allen gelebt werden muss. Im Streit der politischen Parteien, in der Arbeit von Gremien und im tagtäglichen Miteinander. Auch das ist Menschenwürde. Der/die andere darf eine abweichende Meinung vertreten, er darf mich mit Anstand kritisieren. Ich höre zu, ich höre hin. Ich nehme ihn ernst. Und ich erwarte dasselbe von ihm. Nur dadurch gewinnen wir gemeinsam neue Ideen.
Folgen wir der Macht der gemeinsamen Ideen oder der Idee der Macht?
Zu diesem Thema las ich folgendes, natürlich nicht von so hoher Stelle, sondern nur von einem Fußballer, der das einmal gesagt haben soll:
“Es heißt ja, mit dummen Menschen zu streiten, sei wie mit einer Taube Schach zu spielen: Egal, wie gut du Schach spielst, die Taube wird alle Figuren umwerfen, auf das Brett kacken und herumstolzieren, als hätte sie gewonnen.”
Wie findet man nun heraus mit wem man im tagtäglichen Miteinander gerade zu tun hat, bevor die Figuren umfallen und der Tisch beschmutzt wird?