Den Beitrag von Dr. Mark Terkessidis entnehmen wir dem Waterbölles, dem kommunalpolitischen Forum für Remscheid:
VON DR. MARK TERKESSIDIS*
Es herrschte nahezu Weltuntergangsstimmung, als neulich im Wartezimmer meiner Ärztin drei etwas betagtere Frauen sich über die Veränderungen auf der Straße unterhielten: Da »draußen« im Straßenverkehr, da gehe es ja so aggressiv zu, man könne ja kaum noch auf die Straße gehen, früher habe es das alles nicht gegeben.
Nun liegt die Praxis in einem Viertel, das gemeinhin als bürgerlich bezeichnet wird – von einem Sicherheitsproblem kann keine Rede sein. Woher also kommt der Eindruck der Gefahr? Es kann kein Zweifel bestehen, dass sich auch die bürgerlichen Viertel in den letzten Jahren verändert haben. Junge Familien sind zugezogen, Familien mit Migrationshintergrund, auch viele »Expatriates«. Diese Personen leben oft weniger in geographischen Nachbarschaften als vielmehr in Netzwerken: Sie kennen oft die Leute nicht, die unmittelbar unter ihnen wohnen, haben aber Bekannte überall in Deutschland und manchmal auch rund um den Globus.
Haben sie Migrationshintergrund, besitzen sie häufiger Wohneigentum im Herkunftsland oder pflegen zumindest andauernde transnationale Familienbindungen. Diese Welt der Netzwerke bildet sich in den Vierteln oft nicht mehr physisch ab. Die traditionelle Bewohnerschaft trifft in den Bäckereien keine Bekannten zum Plausch mehr, der Einzelhandel ist in Händen von Geschäftsleuten türkischer oder afghanischer Herkunft, und in den Kneipen, in denen früher Mundart gesprochen wurde, hört man heute oft Englisch. Gefährlicher ist es durch diese Veränderungen keineswegs geworden, aber die Welt erscheint den angestammten Bewohnern nicht mehr vertraut. Selbst wenn sich gar nichts verändert hat, kursieren in den Medien all die Geschichten über das, was in Paris passiert ist oder in Köln oder in all den anderen Großstädten im »Multikultiwahn«. Das möchte man »bei sich« nicht haben – oft genug sind die Vorbehalte gegen die Einwanderungsgesellschaft dort am größten, wo kaum oder keine Personen mit Migrationshintergrund leben.
Seit der Flucht von etwa 900.000 Menschen nach Deutschland im Jahr 2015 sind die Auseinandersetzungen um das Thema »Migration« heftiger geworden. Tatsächlich hat dieses Ereignis auch den Letzten klargemacht, dass Einwanderung kein Randthema mehr ist, sondern zentrale Bedeutung auch und vor allem für unsere Zukunft hat. Doch mit der Normalität von Migration tut sich die Republik weiter schwer: Die oft blauäugig begeisterte »Willkommenskultur« schlug schnell um in einen ebenso unangemessenen Pessimismus. Die wohlwollenden Befürworter der Einwanderungsgesellschaft betonen oft, die Vielfalt an sich sei eine großartige Sache – »Vielfalt, das Beste gegen Einfalt«, hieß etwa zwei Jahre hintereinander das Motto der »interkulturellen Wochen«.
Doch ist Vielfalt tatsächlich immer gut? Kann Vielfalt nicht auch Vertrauen zerstören, allen Beteiligten auf die Nerven gehen, Ärger machen? Diversität hat immer dann positive Effekte, wenn sie auch bewusst gestaltet wird. Inzwischen hat sich gezeigt, dass die üblichen Sondermaßnahmen und Reparaturarbeiten nicht ausreichen, sondern die Institutionen, Organisationen und Einrichtungen der Gesellschaft sich auf eine neue Weise an der unhintergehbaren Vielheit der Bevölkerung ausrichten müssen.
Diese Vielheit – (der stärkere Begriff ist hier bewusst gewählt) – hat keineswegs nur mit Migration zu tun. Es geht eben nicht um Sonderleistungen für die »Hinzugekommenen«. Die Gesellschaft benötigt »Vielheitspläne«, die sich an den unterschiedlichen Voraussetzungen, Hintergründen und Referenzrahmen aller Individuen orientieren. Reformen sind notwendig – und Einwanderung dient beständig als eine Art Passepartout, um viele grundsätzliche Probleme des Wandels zu erörtern. Damit wäre Migration aber auch ein Anlass, um zu lernen. Das wiederum wäre mit dem Eingeständnis verbunden, nicht immer alles zu wissen, sondern sich in einem Prozess der Veränderung zu befinden. Dieser Prozess mag Experimente erfordern, holperig sein und er mag auch mehr als ein paar Jahre dauern. Vielleicht erfolgt aber im Moment ein neues »Kennen-Lernen « der eigenen Gesellschaft, in dem das Vertrauen sich neu bildet.
Wenn über die hohen Einwanderungszahlen des Jahres 2015 gesprochen wird, über die »Million«, die Deutschland aufgenommen hat, taucht im Hintergrund sofort die Vorstellung eines Ausnahmezustandes auf. Eine so hohe Zahl von Einwanderern konnte ja nicht »normal« sein, wobei Normalität in der Bundesrepublik ganz selbstverständlich mit Sesshaftigkeit in Verbindung gebracht wird. Doch schaut man sich die Zahlen in puncto Einwanderung noch einmal genau an, die das statistische Bundesamt peinlich genau zusammenstellt, dann wirkt diese Zahl gar nicht so imposant. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg war Deutschland das europäische Land mit den größten Bevölkerungsverschiebungen. 1944 hielten sich acht Millionen »Ausländer« im Reich auf, Zwangsarbeiter die meisten, die dann als »Displaced Persons« in ihre Heimatländer zurückkehrten. Zwölf Millionen Ostflüchtlinge kamen ins Land, bis der Zuzug nach dem Bau der Berliner Mauer versiegte. Gleich danach begann die Masseneinwanderung aus jenen Staaten, mit denen die Bundesrepublik ab 1955 sogenannte Anwerbeabkommen geschlossen hatte. Schaut man sich die Statistik nach 1965 für die alte Bundesrepublik an, gab es bis 1990 etwa 18 Millionen Zuzüge und 13 Millionen Fortzüge über die Landesgrenze hinaus. Für das vereinigte Deutschland von 1990 bis 2014 sehen die Zahlen so aus: 23 Millionen kamen und 17 Millionen gingen. Daraus ergibt sich eine Gesamtzahl von 71 Millionen Menschen, die zwischen 1965 und 2014 ihren Wohnsitz wahlweise nach Deutschland oder ins Ausland verlegten, das sind ungefähr eineinhalb Millionen pro Jahr. Angesichts dieser Zahlen wirkt die große »Welle« des Jahres 2015 deutlich weniger imposant als angenommen. Geht man zudem davon aus, dass das Land Einwanderung braucht und auch will, so könnte der »Saldo« der letzten zwei Jahre vielleicht erstmals ordentlich ausfallen. In den letzten 15 Jahren zuvor jedenfalls hat die Bevölkerung durch Migration gerade mal um sechs Millionen Menschen zugenommen, also 250 000 im Jahr, was wiederum einem bescheidenen jährlichen Wachstum von 0,3 Prozent entspricht.
Mit Blick auf diese Statistik wäre es angebracht, die Perspektive auf Migration generell zu ändern. In Deutschland wird jede neue »Welle« der Einwanderung im Grunde als eine Art Epiphanie betrachtet: Immer müssen neue Personen »aufgenommen« werden, immer hat man Angst, immer muss man sich an das »Fremde« gewöhnen. Gleichzeitig scheint das einheimische »Wir« trotz etwa der Mobilität immer gleichzubleiben. Die Positionierung des Wanderungsgeschehens außerhalb der Normalität provoziert anscheinend auch die immergleichen Reaktionen und Diskussionen. Die einen bestehen auf der »Gastfreundschaft« oder organisieren »Willkommenskultur«. Das »Helfen« geht dabei oft mit ziemlich vagen Vorstellungen vom Gegenstand der Hilfe einher: Wer Geflüchteten unter die Arme greift, findet es bald frustrierend, wenn diese Geflüchteten keine moralisch unambivalenten Opfer sind, sondern menschlich allzu menschliche Wesen, eben manchmal auch Leute, die falsche Geschichten erzählen, sich undankbar zeigen, unverschämte Ansprüche stellen oder gewalttätig oder kriminell werden.
Die anderen wiederum sehen die Einwanderer stets als Bedrohung: Sie sehen kaum einmal Individuen, sie argumentieren mit hohen Zahlen und noch höheren Dunkelziffern und sprechen von den Grenzen der Belastung und der »Integrationsfähigkeit« der einheimischen Bevölkerung. An der Tatsache, dass Migration seit Jahrzehnten massenhaft geschieht und schlicht eine Realität darstellt, hat die Bundesrepublik offenbar weiter schwer zu schlucken. (…)
Von konservativer Seite ist heute oft zu hören, die Veränderung im Sinne von Vielheitsplänen sei ein staatlicher Dirigismus der schlimmsten Art, der die Leute nicht mitnehmen und am Ende für den Erfolg von Populisten sorgen würde. Zugleich tauchen wieder Ideen von Integration auf, die ganz traditionell daherkommen, so etwa das Grundsatzprogramm der CSU: »Wir geben Integration eine Richtung: Wer bei uns lebt, muss sich in unser gesellschaftliches Miteinander einfügen und an die Regeln des Zusammenlebens halten.« Plötzlich wird Integration selbst in Berlin, wo zuvor der Aspekt der Partizipation gestärkt wurde, in einem neuen »Masterplan« wieder an die Idee von Sicherheit gekoppelt. Und im Bund winkte das Parlament im Eilverfahren ein neues Integrationsgesetz durch, in dem eine unklar definierte »Integration« als Voraussetzung für einen festen Aufenthalt gilt – als hätten die letzten Jahre nicht gezeigt, dass ein unklarer Aufenthaltsstatus jede Form einer vernünftigen Eingliederung in die Gesellschaft unmöglich macht. Nun würde ich gegen das Argument von der »Diversity «-Ideologie als Treiber für den Populismus einwenden: Ist Populismus nicht gerade eher eine Folge des Gefühls, dass die Politik heute gar nichts mehr dirigiert? Dass sie eine Mischung darstellt aus Herumlavieren, Opportunismus, Lobbyismus, Angst, Halbwissen, unklaren und angefangenen Reformen und Dilettantismus in der Durchführung? Und das Ergebnis daherkommt wie ein Flughafen oder ein Bahnhof, dessen Fertigstellung sich wegen ständiger Einmischungen, Umplanungen, Verschleierung, Wechsel in den Verantwortlichkeiten und uneingestandenen Kostenexplosionen endlos verschiebt?
In Deutschland wird Wandel immer wieder nur als Ergänzung, also additiv gedacht. Es gibt ein Problem, also schaffen wir einen neuen Sonderbereich. Die jeweilige Ansammlung von Einzelprojekten – oder auch die Arbeitskreise, »federführenden« Stellen – dienen dann als »Token«, um den Regelbetrieb nicht antasten zu müssen. Da machen »wir« doch schon etwas, »wir« sind auf einem »guten Weg«, heißt es dann oft, und man zeigt mit dem Finger auf das Projekt oder die Stelle. Dieses additive Vorgehen kostet nicht nur viel Geld, sondern verhindert auch echte Innovation. Es kommt jedoch darauf an, die jeweiligen Schritte in das Bestehende zu implementieren. Die Migration ist häufig nur ein Symbol – das eigentliche Thema ist der Mangel an echten Reformen in dieser Gesellschaft. Warum sollte eine solche Reform nicht in Angriff genommen werden? Warum kann Wandel nicht als kreative Herausforderung verstanden werden? Was ich aktuell am wenigsten verstehe, ist der exzessive Pessimismus in Gesellschaften, die wohlhabend sind und doch eigentlich alle Möglichkeiten zur Veränderung zur Verfügung haben. Das Problem ist nicht die Nostalgie eines Teils der Bevölkerung, sondern die Schwäche der progressiven Visionen. Veränderung braucht Optimismus und einen langen Atem. Und die Bereitschaft zum Streit. Niemand hat gesagt, die Gesellschaft der Vielheit sei eine gemütliche Angelegenheit.
*Dr. Mark Terkessidis, Dipl.-Psych., Dr phil., freier Autor und Migrationsforscher, in Berlin und Köln lebend, war Referent auf dem Empfang des Integrationbsrates Remscheid und hielt einen mündlichen Vortrag ohne Manuskript. Dem Waterbölles hat er eine PDF-Datei mit einer gekürzten Ausgabe des Vorwortes aus seinem Buch ím Reclam-Verlag überlassen und einer zusätzlichen Veröffentlichung im Forum Wermelskirchen ebenfalls zugestimmt.
Mark Terkessidis • Nach der Flucht. Neue Ideen für die Einwanderungsgesellschaft. [Was bedeutet das alles?] • Originalausgabe • Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen • 79 Seiten • ISBN 978-3-15-019449-2 •UB 19449 • 6,00 Euro • auch als E-Book erhältlich (ISBN 978-3-15-961267-6)