30. September 2019
Es ist verrückt und wunderschön zugleich zu erfahren, welche Entwicklungen und Reaktionen die Veröffentlichung des ersten Teils “Post von Paul” nach sich gezogen haben.
Ute “Uti” Keller teilte den Link in einer Ahnenforschungsgruppe auf Facebook.
Gestern, kurz vor Mitternacht (ich schlief bereits), schickte Uti einen Screenshot aus FB. Eine Frau schreibt dort: “Sehr bewegende Geschichte. Mein Urgroßvater war ebenfalls vor dem 1. Weltkrieg Glasbläser und hat meine Uroma in Wipperfürth kennengelernt. Wer weiß, vielleicht kannte er Paul….”
Ich lese die Nachricht morgens, bin mit einem Schlag hellwach und möchte sofort mit der netten Dame chatten.
Uti stellt den Kontakt her.
Noch vor 9 Uhr morgens lerne ich eine weitere wundervolle Person kennen, die sehr viel über die Geschichte ihres Glasbläser-Urgroßvaters erzählen kann. Meine Frage, in welcher Firma dieser gearbeitet habe, kann sie mir zunächst aber leider auch nicht beantworten.
Nachmittags erhalte ich eine weitere Nachricht von ihr:
Laut ihren Eltern sei die Möglichkeit groß, dass ihr Opa, somit auch eventuell Paul, bei der Firma Radium in Wipperfürth gearbeitet haben könnten.
Radium! Glühbirnen! Natürlich!
Den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen …
Abends wende ich mich über das Kontaktformular der Webseite mit einer ungewöhnlichen Anfrage an die Firma:
“Sehr geehrte Damen und Herren!
Vor einigen Wochen fand ich Kriegsgefangenenpost aus dem ersten Weltkrieg.
Der Absender war der Glasbläser Paul Saarmann aus Fürstenwalde, der seit ca. 1904/05 in Wipperfürth ansässig war und im 1. Weltkrieg in russischer Gefangenschaft landete.
War er in Ihrem damals neu gegründeten Unternehmen beschäftigt?
Können Sie mir eventuell mit Unterlagen, Fotos oder Informationen weiterhelfen?
Für eine Antwort Ihrerseits wäre ich sehr dankbar!!
Hier meine aktuellen Recherchen zu Paul Saarmann:
https://forumwk.de/2019/09/28/post-von-paul/
Mit freundlichen Grüßen
Yvonne Schwanke “
Und wieder einmal heißt es: Warten!
1.Oktober
Eine Koinzidenz jagt die nächste …
Ich unterhalte mich mit einer lieben Klientin und erzähle, dass ich der Antwort auf die Frage, was einen Glasbläser aus Fürstenwalde wohl damals nach Wipperfürth getrieben haben mag, näher gekommen sei.
Ihre Antwort ist kurz, aber dafür mit durchschlagender Wirkung: “Radium!”
Perplex starre ich sie an: “Sag mal, wie kommst Du denn so schnell darauf?”
“Mein Mann arbeitet da und die suchen wohl gerade einen Glasbläser.”
Ich traue meinen Ohren kaum und sage, noch in leichter Schockstarre:
“Ich habe da gestern hingeschrieben und bis jetzt natürlich noch keine
Antwort erhalten.”
“Ich frage ihn mal, ob er nachhorchen kann.”
“Unfassbar!”, sage ich, “das ist unfassbar!”
“Hätte ich Dir direkt sagen können, wenn ich das vorher gewußt hätte!”
“So habe ich es halt nun von hinten durch die Brust ins Auge in Erfahrung bringen können und habe dafür einen weiteren hilfsbereiten Menschen kennengelernt.”
Wir amüsieren uns beide köstlich.
2.Oktober
Email-Antwort der Firma Radium:
“Hallo Frau Schwanke,
das ist ja eine sehr interessante Geschichte… leider können wir – was diese Zeit anbetrifft – hier nicht wirklich weiterhelfen, da es kein so weit zurückreichendes Archiv gibt.
Dennoch viel Erfolg bei der weiteren Suche!
mit freundlichen Grüßen/ Best regards “
Scheisse! Diese Spur verläuft also ins Leere.
Nun gut, daran werde ich mich wohl gewöhnen müssen …
Noch 8 Tage bis ich Dame “Ulli” wegen Hildes Koffer kontaktieren kann.
Um 17:30 Uhr erreicht mich folgende Email aus dem Landkreis Oder-Spree:
“Sehr geehrte Frau Schwanke,
Ihre Anfrage zu der Familie Saarmann wurde vom Standesamt Fürstenwalde an uns weitergeleitet und liegt mir zur Bearbeitung vor. Der Geburteneintrag von Gustav Paul Saarmann aus dem Geburtenbuch von 1885 des Standesamtes Fürstenwalde ist bei uns im Kreisarchiv vorhanden.
Für die weitere Bearbeitung und die Zustellung des Gebührenbescheides benötige ich Ihre Anschrift. Ich bin bis 13. Oktober nicht erreichbar und werde Ihr Anliegen ab dem 14. Oktober bearbeiten.
Freundliche Grüße “
Meine Anfrage stammte vom 12. September.
Ich atme tief ein und aus.
Geduld soll eine Tugend sein – aber als die verteilt wurde, war ich wohl schon weg, weil mir das Ganze einfach zu lange gedauert hat …
3.Oktober 2019
Um die Wartezeit zu überbrücken, nehme ich mir die 111 Feldpostkarten meines Ur-Großvaters Walter Hessenbruch vor, die er im 1.Weltkrieg an meine Uroma geschrieben hat.
Von diesen Karten wußte ich seit jeher, sie waren kein Überraschungsfund, so wie die von Paul. Zudem sind sie in Sütterlin bzw. Kurrentschrift verfasst.
Und zusätzlich hatte Ur-Oppa eine echte Sauklaue.
Ich beschließe also, meiner 91jährigen Nachbarin Meta auf den Keks zu gehen, damit sie mir bei der Übersetzung behilflich sein kann.
Während wir uns mit der Transkribierung abmühen, trifft ein weiterer meiner lieben Nachbarn ein. Da er standesamtliche Kenntnisse besitzt, fällt mir ein, dass sich vielleicht mit seiner Hilfe eine weitere offene Frage zu Paul klären läßt.
“In der mir vorliegenden Heiratsurkunde von Paul und Emma gibt es einen Zusatz, der Fragen aufwirft”, sage ich.
“Was für einen Zusatz?”, fragt er.
“Laut Heiratsurkunde aus dem Jahre 1908 erklärt Paul Saarmann, das „am 06.11.1905 in Wipperfürth geborene Kind Hildegard als das seinige anzuerkennen.” “Merkwürdiger Satz, wie ich finde. Kann es sein, dass Hildegard gar nicht seine leibliche Tochter war?”
Er überlegt kurz: “Das ist auf keinen Fall der Wortlaut einer Adoption. Zu 95% ist das ein Vaterschaftsanerkenntnis.”
„Unverheiratet schwanger zur damaligen Zeit?! Das hätte doch eigentlich zu einer Art Shotgun-Wedding führen müssen“, sage ich ungläubig.
„Tja, keine Ahnung“, erwidert mein Nachbar.
Ehehindernisse und Eheverbote
Wie kommt es, dass nicht früher geheiratet wurde? So wie heute war es nicht unwichtig, dass eine ausreichende Lebensgrundlage für eine neue Familie gegeben war. Viele warteten sicherlich mehr oder weniger freiwillig, bis sie in der Lage waren, diese zu gewährleisten. Einer der Gründe für das späte Heiratsalter lag aber auch in den verschiedenen Ehehindernissen und Eheverboten, die es in den deutschen Staaten gab. Oft wurde eine Heiratsgenehmigung der jeweils zuständigen Obrigkeit vorausgesetzt. Bereits im Mittelalter benötigten Heiratswillige oft die Zustimmung ihres Gutsherrn. In Hamburg (Anmerkung von mir: Hansestadt übrigens, wie Wipperfürth) war für die Erteilung einer Heiratsgenehmigung spätestens ab Mitte des 18. Jahrhunderts das Bürgerrecht notwendig. Dieses zu erwerben, kostete Geld, setzte voraus, dass man einem Erwerb nachging, von dem man leben konnte, und beinhaltete eine Bürgermilitärpflicht inkl. Anschaffungskosten für Uniform und Bewaffnung. Nicht jeder Heiratswillige konnte sich dies leisten. Für Zugezogene (Paul kam aus Fürstenwalde) waren die Bestimmungen noch schwerer zu erfüllen. Des Weiteren durften viele Einwohner ohnehin nicht heiraten. So z.B. einfache Soldaten, Handwerksgesellen (die erst mit Erlangung der Meisterwürde heiraten konnten) sowie nicht den Zünften angehörende Handwerker. Aber z.B. auch in Süddeutschland wurden die Heiratschancen der armen Bevölkerungsschichten ab Ende des 18. bis ins 19. Jahrhundert beschnitten. Offiziell sollte auf diesem Wege meist die Armut gemindert und die Armenkassen entlastet werden. Tatsächlich führten die Vorschriften keineswegs zu einer Verminderung von Armut, viel eher verfestigten sie die Ständeunterschiede und begünstigten das Entstehen von sogenannten Konkubinaten oder „wilden Ehen“ sowie von unehelichen Geburten. Manchmal konnte später noch eine Heirat erreicht werden, aber nicht immer. Als „sittenlos“ wurden die Lebensgemeinschaften vermutlich vor allem von Seiten der Kirche und der höheren Schichten angesehen, im eigenen Umfeld kann, mit Unterschieden, durchaus von einer gewissen Akzeptanz ausgegangen werden. Allerdings drohte eine polizeiliche Verfolgung und ggf. zwangsweise Trennung. Und was heißt das für die Ahnenforschung? Wir gehen für unsere Suche nach Vorfahren meist von einem Heiratsalter ab etwa 23-25 Jahren für beide Geschlechter aus. Für die Suche nach Kindern kann man durchaus auch 1-2 Jahre vor einem Heiratsdatum schauen. Wie beschrieben, kam es nämlich durchaus vor, dass erst nach der Geburt des ersten oder sogar mehrerer Kinder geheiratet wurde.
Quelle: BeyondHistory
Somit wäre also auch DAS geklärt. Hildegard war zu 99% Pauls leibliche Tochter.
Meta und ich schmeißen, was Uropas Post von der Westfront angeht, die Flinten in die Körner. Und so beschließe ich, noch einmal meiner geliebten 90jährigen Ruth auf den Senkel zu gehen.
4. Oktober
Habe Ruth besucht und sie hat 3 Karten von Ur-Opa transkribieren können.
Sie wollte wissen, ob es Neuigkeiten von Paul gäbe. Ich erzähle ihr, dass wir nun die Bestätigung haben, dass Hildegard doch seine leibliche Tochter war.
„Immerhin etwas“, brummt sie.
Wir klappern alte schwarz-weiß Fotografien ab und sie identifiziert die Schreiber einiger alter Briefe an meine Ur-Oma und Oma.
Ich verspreche ihr, Bescheid zu geben, sobald ich Neuigkeiten habe.
5. Oktober
Auf Anraten meines lieben Nachbarn mit den Standesamtskenntnissen, schreibe ich bezüglich der Uropa-Karten-Transkribierung an Volker Ernst vom Bergischen Geschichtsverein (BGV) Wermelskirchen.
„Wenn der das nicht lesen kann, kanns keiner,“ ist die Aussage, die ich von mehreren Menschen zu hören bekommen habe.
7. Oktober
Und so lerne ich kurz darauf, zunächst virtuell, den Sütterlinfachmann Volker Ernst kennen, mit dem ich mich auf ein Treffen im BGV-Archiv Wermelskirchen verabrede.
8. Oktober
Herr Ernst suchte in den ihm vorliegenden Zeitungsinfos aus den Jahren des ersten Weltkrieges nach Hinweisen auf Paul. Er findet keine, was eigentlich auch völlig klar
ist, da Paul in Wipperfürth ansässig war und nicht in Wermelskirchen. Aber man weiß ja nie.
Spontan erkundige ich mich, ob ich zum BGV Stammtischtreffen am 9.10 hinzukommen darf.
9.Oktober
Erinnert ihr Euch noch an Ulli? Die Dame mit Hildes Koffer, die ich ab dem 10.10. anrufen konnte?
Ich gebe es zu, ich habe es nicht ausgehalten. Im Laufe des heutigen Tages versuchte ich, sie via Handy zu kontaktieren. Sie ging auch ran.
Allerdings geschah folgendes:“Frau Schwanke! Ich bin gerade unterwegs. Ja, natürlich erinnere ich mich. Aber diese Woche wird kn…..“
Es knackt. Das Gespräch wurde unterbrochen. Ich wähle erneut. Besetzt.
Das darf doch nicht wahr sein! kreischt es hysterisch in mir.
Dann, eine Nachricht auf meiner Mailbox:“ Hallo Frau Schwanke. Ich bins. Ich rufe in ca. zwei Stunden noch mal an, weil ich noch unterwegs bin und keinen Kalender zur Hand hab. Bis nachher! Tschüß!“
Ich warte also. Mal wieder. Aber weder zwei Stunden später noch bis zum späten Abend erfolgt ein Rückruf.
Mit meinem Laptop, Ur-Opas Karten und den heißen Kohlen, auf denen ich bezüglich des Rückrufes sitze, mache ich mich abends auf den Weg in die Gaststätte, in der der Stammtisch des BGV stattfindet.
Ich treffe auf einen freundlichen Trupp, die sich als passionierte, kenntnisreiche Jäger und Sammler von Informationen aus der Vergangenheit entpuppen.
Ich bin so begeistert über deren leidenschaftliches Engagement, dass ich diesen Menschen guten Gewissens vorübergehend die Karten meines Ur-Opas anvertraue.
„In Sachen Paul“ verweist Volker auf Erich Kahl, den Vorsitzenden des HGV Wipperfürth.
10.Oktober
Versuche es am späten Morgen telefonisch bei Frau Ulli wegen des Koffertermins. Erfolglos. Bin resigniert. Nachmittags versuche ich es wieder. Niemand geht ran. Bin etwas niedergeschlagen.
Ich kontaktiere Herrn Kahl vom HGV via Email, schicke ihm den „Post-von-Paul-Link“, den Wortlaut der Heiratsurkunde von Paul und Emma und einige weitere Ergebnisse meiner Recherchen und frage, ob er mir weiterhelfen könne.
11.Oktober
Leichte innere Krise. Soll die Spur wirklich hier enden? Inakzeptabel.
Ich entscheide mich daher, gegen Mittag noch einmal bei Fr. Ulli anzurufen. Dieses Mal auf dem Festnetz.
Ich erreiche sie tatsächlich.
„Ach, Frau Schwanke! Gottseidank, dass Sie sich melden. Erst hatte ich vergessen zurückzurufen und dann sind Sie nicht rangegangen, als ich es versucht habe.“
Ich bin erleichtert und wir vereinbaren den „Kofferöffnungstermin“ für Mittwoch, den 16.10. um 10:30 Uhr.
„Viel ist aber nicht mehr da“, sagt sie. „Die Hauptsache ist, dass noch etwas da ist“, sage ich und hoffe trotzdem insgeheim noch auf ein Foto von Paul.
12.Oktober – 15.Oktober
Habe Antwort von Herrn Kahl erhalten und bin mal wieder völlig begeistert und berührt von dem Enthusiasmus und dem Wissen der Heimatforscher.
Werde in den nächsten Zeilen die Ergebnisse unseres Schriftverkehrs vom 12.-15.10 für Euch zusammenfassen:
Im Adressbuch von 1910 ist Paul Saarmann als wohnhaft in der Gaulstraße (leider ohne Hausnummer) in Wipperfürth verzeichnet.
Die Adresse des Trauzeugen August Wigger kann, dank Herrn Kahl, ebenfalls festgestellt werden. Der Trauzeuge Voerste ist zunächst nicht auffindbar. Herr Kahl reist für mich weiter zurück in der Zeit ins Adressbuch von 1900:
„Paul Saarmann taucht im Adressbuch für 1900 nicht auf. Das ist aber auch nicht verwunderlich. Einmal enthält das Adressbuch deutlich weniger Namen als das von 1910; wahrscheinlich war die Eintragung noch kostenpflichtig. Zum anderen wurden in Wipperfürth erst seit 1902 Glühbirnen hergestellt, und zwar zunächst für Taschenlampen. 1904 tat sich der junge Fabrikant Richard Drecker, der in einem Schuppen neben der 1902 abgebrannten väterlichen Wollgarnspinnerei produzierte, mit Adolf Berrenberg zusammen, einem Mitarbeiter Thomas A. Edisons, der aus Griemeringhausen bei Marienheide stammte und im Besitz von Patenten war. Seit Dezember 1904 heißt die Firma Radium.
Interessant ist ein anderer Fund im Adressbuch von 1900: Der
Weichensteller Ludwig Knapp (Vater von Pauls Frau Emma) wohnte ebenso wie die Witwe Louis Voerste im Haus Bahnstraße 3. Das war wahrscheinlich das Bahnhofsgebäude, denn die Witwe Voerste betrieb das Bahnhofsrestaurant.”
Wir stellen also fest, dass Emma mit ihrem späteren Trauzeugen in einem Haus wohnte.
Herr Kahl sendet mir Fotos des alten Bahnhofes, der leider mittlerweile abgerissen und durch ein neues Gebäude ersetzt worden ist:
Meine Phantasie geht auf die Reise: Emma wohnte also am Bahnhof in Wipperfürth! Höchstwahrscheinlich half sie der Witwe Voerste gelegentlich im Bahnhofsrestaurant aus.
Irgendwann zwischen 1902 und 1905 trifft dort ein junger Glasbläser aus Fürstenwalde ein, der von dem aufstrebenden Lampenunternehmen Berrenberg/Radium gehört oder dort sogar bereits einen Arbeitsplatz in Aussicht hat.
Dieser junge Mann macht Halt im Bahnhofsrestaurant und erkundigt sich bei der Bedienung nach einer freien Wohnung in der Stadt. Ungefähr so könnte die Geschichte von Paul und Emma ihren Anfang genommen haben …
Doch gibt es die Adresse noch, an die Pauls Briefe gerichtet waren? Als ich dem findigen Herrn Kahl Hausnummer und Strasse nenne, an die Pauls Briefe adressiert waren, kann er sogar ein Foto aus dem Hut zaubern, bei dem es sich möglicherweise um eben jenes Haus handelt und, zusätzlich, mit ziemlicher Sicherheit, aber ebenfalls ohne Gewähr, eben jenes Haus unter neuer Adresse ausmachen. Es steht immer noch, ist jedoch umgebaut worden.
Prompt juckt es mir abermals in den Fingern … man könnte ja mal einen Brief an die jetzigen
Besitzer schreiben und nachfragen, ob da nicht vielleicht, also …eventuell … ach was, erst mal die Kofferöffnung abwarten.
16.Oktober
Kofferöffnungstag!
Endlich! Es ist 10:22 Uhr, als ich erneut den schmalen kleinen Weg zwischen Häuschen hochfahre und mein Auto genau dort hinstelle, wo beim letzten Mal der knallorange Wagen des Mieters gestanden hatte.
Ich bemerke, dass ich direkt vor einer Art Grabschmuck + Licht parke, und muß unwillkürlich lächeln, da bei uns zuhause der Grabstein meiner Tante Toni im Vorgarten steht.
Schließlich drücke ich den Klingelknopf und höre nach einiger Zeit, dass sich innen jemand vor sich hin pfeifend nähert.
Herr Ulli öffnet mir die Tür, seine Frau sei noch zur Grippeimpfung beim Arzt und käme jeden Moment zurück, sagt er, bittet mich herein und bietet mir einen Kaffee an.
Keine 2 Minuten später ist sie da. Ulli. Endlich lernt man sich persönlich kennen. Wir lassen uns in einem hübschen Wintergarten nieder und sie holt den kleinen braunen Koffer von Hilde. Sie rekapituliert alles, an was sie sich noch von meiner Familie erinnern kann und das ist einiges. Sie erinnert sich an meinen Opa, meine Oma, die einen Jungen hatten (meinen Papa) und an eine alleinstehende Frau (Toni, deren Grabstein in meinem
Garten steht). Auch hat sie mitbekommen, dass mein Papa vor einigen Jahren verstorben ist.
Schließlich öffnen wir den Koffer. Papiere und Akten rutschen uns entgegen und wir gehen sie durch. Dabei erzählt sie von Hilde, die mit Emma und Alma zusammen wohnte.
„Äh, Alma?“, frage ich.
„Emma hatte zwei Schwestern, Alma und die … hach Vorname weg … Frau Pohlhaus”, erklärt Ulli.
Ich schlage mir mit der flachen Hand vor die Stirn: “Der Name Pohlhaus kommt in Pauls Briefen auch vor! Jetzt kann ich ihn zuordnen! Ich wusste gar nicht, dass Emma Schwestern hatte. Leben noch irgendwelche Nachfahren?“
„Soweit ich weiß, sind alle tot“, erwidert Ulli.
Wir finden Hildes Meisterbrief, ihr Schulzeugnisheft und ein sehr altes Formular. Ich weiß nicht, warum, aber mir schießen die Tränen in die Augen, als ich bemerke, was da vor mir liegt:
das Original von Paul Saarmanns Sterbeurkunde.
„Und … es gibt keine Fotos?“, frage ich.
„Nein. Also, nicht dass ich wüsste. Ich habe lange bei Hilde gearbeitet und habe niemals irgendwelche Fotoalben oder Ähnliches gesehen …“
„Und Emmas Schwester Alma war nicht verheiratet?“
„Nein.“
„Also „ungeöffnet zurück“ wie Hilde?“, frage ich.
Ulli lacht: „Mag sein. Weiß ich nicht.“
Sterbekassenbelege rutschen uns entgegen. „Hilde hatte für alles gesorgt. Ich mußte mich nur um die Umsetzung kümmern. Im Februar diesen Jahres habe ich ihr Grab aufgelöst, waren ja 30 Jahre rum.“
„Oh. Da bin ich wohl mal wieder zu spät. Aber Hilde ist doch 1986 verstorben …“, sage ich.
„Nein. 1989. Sie hatte 1986 einen Schlaganfall und lag daraufhin 3 Jahre im Pflegeheim.“
Ich ging die ganze Zeit vom falschen Todeszeitpunkt aus. Oh Mann.
Aber gut, mir war ja ebenfalls nicht klar gewesen, dass Hildes Mama zwei Schwestern gehabt hatte.
Dass es noch dicker kommen sollte, konnte ich in diesem Moment noch nicht ahnen.
Wir gehen weiter die Papiere durch, als mir ein Kondolenzbrief ins Auge fällt. „Caroline Saarmann? Merseburg?“, frage ich und irgendetwas klingelt leise in mir.
„Ja. Das war wohl Hildes Cousine!“, sagt Ulli.
„Oh Mann! Dann hatte Paul also Geschwister! Ist das schön!“
Ein kleiner, magentafarbener Zettel rutscht aus dem weiß-grauen Stapel.
Ich lese einen Nachnamen, eine Straße und wieder: “Merseburg”.
Eine alte Erinnerungsspur rastet in meinem Hirn ein, fällt, wie eine kaputte Zugbrücke in neues Wissen und unwillkürlich entfährt mir: „Franz und Rina?!“
„Ja! Genau! Rina! Die waren auch ein paar Mal hier!“
„Ich weiß, die haben bei uns gewohnt“, sage ich und in diesem Moment wird aus dem leisen Ahnungsklingeln ein donnernder Haufen Geistesblitze.
‘Das ist jetzt nicht wahr’, denkt es in mir, ‘das ist nicht wahr: seit Wochen bin ich auf der Suche nach weiteren Angehörigen von Paul…. DABEI KENNE ICH SIE SEIT JAHREN …’
“Von hinten durch die Brust ins Auge”, murmele ich fassungslos halblaut vor mich hin.
“Also, wenn meine Annahme richtig ist und Rina die Tochter von Caroline Saarmann ist, dann kenne ich Pauls Großnichte seit Jahren und konnte einfach nie eine Verbindung herleiten, weil die Verwandtschaftsverhältnisse nie klar waren”, sage ich überwältigt und weiß nicht, ob ich hysterisch lachen oder weinen soll.
Solche skurrilen, unerwarteten Rechercheergebnisse kann man sich nicht ausdenken. Sie passieren einfach.
„Es freut mich, dass der Koffer tatsächlich weitergeholfen hat!“
Wir reden noch eine Weile und ich bin Dame Ulli rückblickend sehr dankbar, für die Treue mit der sie zu der alleinstehenden Hildegard gehalten hat: „Sie war offen und gradlinig, ein feiner Mensch. Und sie hatte ausdrucksstarke Augen bis zuletzt, die Hilde“, sagt Ulli und das freut mich sehr.
Auf der Heimfahrt sitze ich, teils amüsiert und erfreut, teils schockiert und fassungslos, teils achichweißnichtwie hinter meinem Steuer. Ich rufe meine Mutter an und erzähle ihr von den Ergebnissen.
Die Reaktion meiner Mutter: “ACH JAA!! Da fällt mir ein, dass Hilde damals keinen Platz hatte, ihren Besuch unterzubringen und dann Oma Leni gefragt hat, ob Franz und Rina bei uns unterkommen könnten. Und so kam dann der Kontakt zustande! Jetzt, wo Du es sagst, dämmert es mir.“
(Fein! Ich freue mich WIRKLICH, dass dir das JETZT einfällt, Mama!, denke ich stumm.)
„Mama, dann check doch mal bitte, ob die Caroline, die müsste zwar jetzt 90 oder älter sein, noch unter der Adresse lebt, die in Google steht. Du kanntest die doch irgendwie.“
Mama macht mit und erweist sich als sehr gute Rechercheurin. Zwanzig min später ruft sie zurück:
„Die Nummer war nicht mehr vergeben. Da habe ich dann die Auskunft angerufen und der Mann sagt, die sei vor Jahren abgemeldet und nicht neu vergeben worden. Dann habe ich ihn gefragt, ob er nicht mal die Altenheime der Gegend dort nach dem Namen abklappern könne. Hat er tatsächlich gemacht. War aber nix. Und da habe ich dann die alte Nummer von Franz und Rina herausgesucht und gewählt. Und Rina war direkt dran. Wir haben uns beide so gefreut nach so vielen Jahren voneinander zu hören. Ich habe ihr kurz gesagt, worum es geht.
Du kannst sie heute Nachmittag anrufen. Ich schicke dir gleich die Nummer.“
„Klasse, Mama! Das hast Du MEGA gut gemacht!“, freue ich mich.
Am Nachmittag klingelt es leider vergeblich, als ich die Nummer wähle und so verschiebe ich den Anruf auf den nächsten Tag.
17. Oktober
Es ist früher Nachmittag als ich, nach einer recht kurzen Nacht, todmüde einen erneuten Anrufversuch starte. Rina geht ans Telefon.
Wir können beide nicht sagen, wie lange wir uns schon nicht gesehen oder gesprochen haben. Es ist jedenfalls sehr lange her. Ich frage sie: „ Sag mal, bist Du eine geborene Saarmann?“
„Ja. Bin ich.“ Dieses Mal lag ich also mit meiner Vermutung nicht falsch.
Und dann erzähle ich ihr von Pauls Post und schicke ihr später den ersten Forum Wermelskirchen-Paul-Link via Whatsapp.
Ergebnis des Telefonats: Gustav Paul Saarmann hatte einen Bruder und eine Schwester.
Pauls Bruder wurde 1897 geboren (war also zwölf Jahre jünger als Paul) und bekam mit seiner Frau Caroline Tochter Rina und eine weitere Tochter (die mittlerweile verstorben ist.)
Rina, mit der ich gerade telefoniere, ist somit Pauls Großnichte.
Ich telefoniere mit einer Angehörigen Pauls, die ich mich zu suchen aufgemacht hatte und die ich unwissentlich seit Jahren bereits kannte … wie herrlich verrückt doch das Leben sein kann!
Ich frage nach Fotos von Paul. Sie antwortet, ihre verstorbene Schwester habe nach Mutter Caroline Saarmanns Tod alle Fotos bekommen und sie könne nicht sagen, ob ihr Schwager die noch besäße, und wenn, ob etwas dabei sei.
Aber sie wolle sich kümmern und ich finde es schön, nach all der Zeit ihre Stimme zu hören.
Ich hoffe weiterhin auf Fotos.
Aber, selbst wenn keine mehr existieren sollten, von Paul und Emma oder den anderen (was mich traurig machen würde), so hat mich diese skurrile Rechercheodyssee wieder zurück zu Menschen geführt, die für lange Zeit immer mal wieder ein Teil unseres Familien-Lebens waren und die wir, aus welchem Grund auch immer, aus den Augen verloren hatten.
Und während dieser Suche traf ich auf viele großartige Leute, die ich sonst vielleicht nie getroffen hätte: Die passionierten Heimatforscher des BGV Wermelskirchen und Herrn Kahl vom HGV Wipperfürth, die nette Dame aus dem Internet, deren Uropa auch Glasbläser in Wipperfürth war, Frau Ulli mit dem Koffer, Frau Ullis netten Untermieter, Frau D. von der Bauunternehmung, die kompetente, lichtgeschwinde Dame aus dem Archiv Wipperfürth (die ich bald doch mal wieder kontaktieren muss) … und wer weiß, was noch auf mich wartet, da das Suchergebnis nach Pauls Grab noch offen steht …
Dank Rina weiß ich nun auch, daß Hilde wohl einst verlobt war, doch ihr Verlobter zog in den Krieg und kehrte, wie ihr Vater, nicht mehr zurück. So blieb sie dann allein.
Und wieder war es der Krieg, an den Hilde einen weiteren wichtigen Mann ihres Leben verlor.
Für mich heißt es weiterhin: Warten und hoffen, auf Fotos, Grab oder weitere Informationen.
Das Leben ist ein Abenteuer voller Geschichten, voller Twists und Turns und Sackgassen und es ist immer genau das, was man draus macht.
Aber eins ist es zumindest nie: Langweilig.
Die bisherigen Ergebnisse der Recherche waren jedenfalls die Mühen wert, finde ich.
Wieder mal eine tolle Erzählung. Und da sieht man mal wieder, wie klein die Welt eigentlich ist. Viel Erfolg bei der Suche nach dem Grab
Danke Dir sehr!
Ich musste ein paar mal ansetzen zum Lesen, heute Morgen hab ich endlich die Zeit gefunden, war ich doch schon sehr gespannt. Absolut interessant und fesselnd geschrieben.
LG
Volker
Danke schön! Liebe Grüße!
Ich mag absolut deine Art zu schreiben und freu mich schon jetzt auf den weiteren Verlauf. Spannend!
Vielen Dank, meine Liebe! Das freut mich sehr.
Guten Abend Yvonne, habe Dein Geschichte über Paul soeben an einem Stück gelesen. Du hast Dir wieklich viel Arbeit gemacht. Als Ahnenforscher kenne ich das. Eine großartige Geschichte, die Du wunderbar dokumentiert hast. Glückwunsch zu der Leistung. Glück Auf aus Dortmunf, Martin Janz.
Ich danke Dir recht herzlich für deine Nachricht! Liebe Grüße aus dem Bergischen