Ein Vorwort als Buchtipp
VON MATTHIAS DOHMEN
Ab Mittwoch kann das von Matthias Dohmen herausgegebene Buch “Der Mann, der keinen Bahnhof kaufen wollte. Eine Familiengeschichte zwischen Schlesien, Bayern und dem Ruhrgebiet” käuflich erworben werden. An dieser Stelle veröffentlichen wir das Vorwort sowie eine Inhaltsangabe.
Eine untergegangene Generation?
Ein Leben, vollgepackt mit schwerer Arbeit unter Tage, dem immerwährenden Engagement für die Familie (Schwestern, Mutter, Ehefrau, Tochter, später Schwiegersohn und Enkel), Fußball und Trabrennsport, früh ein Automobil, über Jahrzehnte SPD-Stammwähler und Mitglied der – wie sie früher hieß – Industriegewerkschaft Bergbau und Energie, Buchklub, Pfeife, ein guter Nachbar: Vielfältig tritt uns in diesem Buch das Leben des Fritz Teschner gegenüber. Er hat in seinem langen Leben zahlreiche Dokumente aufbewahrt, statt sie der grauen oder blauen Tonne zu übereignen, so als wolle er sich jederzeit vergewissern können, wo seine Wurzeln lagen.
In Breslau wird er geboren, jener großen und stolzen Stadt, die im Jahr 150 in Ptolemäus’ Werk „Germania magna“ erwähnt, später zum polnischen Teilfürstentum Schlesien gehörte, zu Böhmen und später Ungarn, zur k. u. k. Monarchie und zu Preußen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Stadt unter polnische Verwaltung und wurde schließlich Teil der neuen polnischen Republik.
Im heutigen Wrocław kam Fritz Teschner zur Welt. Hatte er Heimweh nach der alten Heimat? Den Herausgeber, der 1989 Helmut Kohl bei seiner wegen des Mauerfalls unterbrochenen Polenreise begleitete, bat er, er möge Fotos von Breslau und der alten Matthiasstraße besorgen, falls ihn die Arbeit dorthin verschlüge. Sie tat es nicht, aber ein Kollege der DDR-Nachrichtenagentur ADN vermittelte den Kontakt zu einem polnischen Journalisten, der die Aufnahmen schoss und per Post übermittelte. Als der Ex-Breslauer sie in der Hand hielt und die Familie den Atem anhielt, legte er die Papierbilder nach kurzem, achtlos erscheinenden Blick beiseite. Ob er sie sich, später und ohne Zeugen, erneut und länger angesehen hat, ist anzunehmen. Gesprochen hat er später nicht darüber.
Maler und Anstreicher hat er gelernt – noch in seinen Siebzigern hat er zusammen mit seiner Frau im Haus der Tochter sämtliche Malerarbeiten besorgt (bis auf das Treppenhaus, dessen Rauputz nur mittels eines meterhohen Gerüsts anzubringen war). Gemalt hat er auch in seiner Freizeit – die Bilder finden sich so ungefähr in der Mitte dieser Veröffentlichung. Pinsel und Malkasten waren ein Ausgleich zur schweren Arbeit des Bergmannes. Er war, so ganz in der Tradition der Familie, ein Handwerker.
Wie er ins Ruhrgebiet kam, ist hier beschrieben. Die Zechen, deren letzte in diesem Jahr geschlossen wurde, waren immer „multikulti“, Magnet für Arbeitswillige aus vielen Nationen, nicht zuletzt aus dem heutigen Polen. Das Besondere in der Zeit nach 1945, nach Niederlage und Befreiung war, dass es sich bei den Menschen, die sich im Ruhrgebiet neu begannen, nicht selten um Deutsche handelte, die der Vertreibung zum Opfer gefallen waren.
Migration heißt das Stichwort.
Sie spielt eine Rolle in einigen der Zeitzeugenberichte, die von unterschiedlicher Länge sind und – hier mag hier und da das Personenregister hilfreich sein – im Zusammenhang gelesen werden sollten. Eine Darstellung von Fritz Teschners Tätigkeit unter Tage fehlt, schließlich sind die Arbeitskollegen längst tot oder waren nicht auffindbar. Aber Mosaiksteinchen liefern fast alle, die zu Wort kommen, und ein kleiner Widerschein findet sich in der Liste der Automobile, die Fritz gefahren hat und die er sich früher leisten konnte als andere, weil die Tariflöhne unter Tage relativ hoch lagen und Fritz das Familieneinkommen gerne durch Überstunden aufstockte. Auch die Übersichten, was er gern aß und welche Bücher er besaß und gelesen hat, bilden einen Beitrag zur Alltagsgeschichte des Ruhrgebiets.
Ein Wort zur Interviewtechnik. Wie in meinem Buch über die „1966er“, das in einem Wuppertaler Verlag erschienen ist, wechseln sich in den Beiträgen des ersten Kapitels wörtliche und indirekte (zusammenfassende) Rede ab, so wie sie in der ersten Niederschrift festgehalten und dann den „Quellen“ vorgelegt wurden. In der einen oder anderen Rezension ist dies als „direkt“ klassifiziert worden.
Zu den kürzeren Beiträgen gehört derjenige des Enkels Jan, der seinen Großvater in einer schwierigen Lebensphase konsultierte, als er entscheiden musste, zur Bundeswehr zu gehen oder nicht. Nach dem Gespräch, über das beide Stillschweigen vereinbarten, entschied sich Jan dazu zu verweigern. Fritz Teschner hatte sich die Zeit, in die er gestellt war, nicht aussuchen können, aber er zog Konsequenzen … oder legte Konsequenzen nahe. Niemand war bei dem Gespräch dabei, aber wir kennen das Ergebnis. Das Verhältnis der beiden war eng: Opa brachte ihm Fahrradfahren bei, spielte mit ihm, wenn wir essen waren und ihm langweilig wurde, draußen Fußball (das Sportgerät befand sich im Kofferraum) und sie nahmen ihn auf einem Urlaub in einem Centerpark mit.
Dieses kleine Werk über einen von der Statur her großen Mann lebt von den Zeugnissen, den Dokumenten, den beigefügten Übersichten und einigem mehr, wovon wir die Fotos last, not least erwähnen wollen. Ihre Qualität mag mitunter bescheiden sein, ihr zeithistorischer Wert ist um so größer. Dank gebührt an dieser Stelle Marianne Bengelsdorf sowie allen, die an der Erarbeitung und – hier muss Brigitte Dohmen und bezüglich des Vorworts Christian Oelemann lobende Erwähnung finden – Zusammenstellung und Korrektur beteiligt waren.
Dieses Buch wäre nicht zustande gekommen ohne die ahnengeschichtliche Arbeit von Irmgard Teschner, die letzten Endes die versprengten Mitglieder der (Groß-) Familie wieder zusammenbrachte: in einem Stammbaum und mehr noch in jetzt regelmäßigen Treffen. Teschner meets Teschner.
Ja, die Familie war ihm wichtig, was auch die Pfarrerin bemerkenswert fand, die auf der Trauerfeier sprach. Auch seinen Humor hob sie hervor.
Fritz war gern ironisch, aber nie verletzend. Zwei Dinge, die eine gewisse Bedeutung in seinem Leben gehabt haben, findet man auf dem Cover: Pfeife und Monopoly. Zu dem weit verbreiteten Gesellschaftsspiel versammelte sich ein Teil der Familie bei Treffen in Recklinghausen: Enkel Jan, dessen Freundin Juliane (die Heirat hat der Opa nicht mehr erlebt), Schwiegersohn und der Mann, der keinen Bahnhof kaufen wollte. Er besaß seine eigenen Vorstellungen vom Leben.
INHALTSANGABE
Vorwort [siehe oben]
Coco Fidora: Ansprache auf der Trauerfeier
ERINNERUNGEN
- Toni Teschner: Als Knecht in Bayern
- Brigitte Dohmen: „Lass meine Tochter in Ruhe”
- Matthias Dohmen: Tagebuchauszüge
- Jan Dohmen: Zeit für Neues
- Jule Gashi: Geld gebunkert
- Marianne Bengelsdorf: „Blau? Das ist verdammt schwer”
- Gerd-Dieter Pawlik: „Russisch Leder”
- Uwe Bauer: Kleben geblieben
- Ingrid und Johnny Gashi: „Ab und zu ein Weilchen”
- Ruth Ritzler/Günter Eikenberg: War sehr hilfsbereit
FAMILIENFORSCHUNGEN
- Irmgard Teschner: Die Spur der Ahnen
- Der Stammbaum
- Matthias Dohmen: Familienzusammenführung
ANHANG
- Topographisches Lieblingsessen
- Die Autos, die er fuhr
- Die Bibliothek eines Bergmanns
- Herausgeber und Autoren
Matthias Dohmen (Hrsg.) • Der Mann, der keinen Bahnhof kaufen wollte. Eine Familiengeschichte zwischen Schlesien, Bayern und dem Ruhrgebiet • Weilerswist: Verlag Ralf Liebe 2019 • ISBN 978-3-944566-91-7 • 96 Seiten mit zahlreichen Fotos und über 20 Seiten Faksimiles • 18,00 Euro