Jochen Bilstein hat in einer ursprünglich einem Netzwerk der Wermelskirchener Flüchtlingshilfe zugedachten Mail sein Erlebnis mit einem jungen Mann aus Guinea beschrieben, der ihm seine Erfahrungen in einem lybischen Lager und der dortigen Gewalt geschildert hatte. Die aufkommende Assoziation mit dem Lager Theresienstadt macht empathische Hilfe in unserer Stadt um so erforderlicher. Jochen Bilstein hat zugestimmt, seine Mail zu veröffentlichen:
Guten Morgen,
in den vergangenen Tagen haben wir alle in den Medien von dem Flüchtlingselend im Mittelmeer und in Libyen gelesen. Von den unerträglich grausamen Flüchtlingslagern in dem Bürgerkriegsland, in dem verbrecherische Gangs ein brutales Regiment über die Tausenden von Inhaftierten, vor allem schwarzafrikanischen Migranten, ausüben, fürstlich entlohnt aus Mitteln der Europäischen Union. Gestern traf ich mich mit einem jungen Mann aus Guinea, 21 Jahre, der vor sich vor etwas mehr als 2 Jahren den Weg durch die Subsaharastaaten auf den Weg nach Europa gemacht hatte. Wie viele strandete er erst einmal in einem libyschen Lager. Wir wollten eigentlich Sprachunterricht machen, Grammatik wiederholen. Als ich ihn aber auf seinen Fluchtweg ansprach, verwandelte sich der stille, im Sprachkurs zurückhaltende junge Afrikaner in einen Chronisten eigener Erfahrungen, der geradezu mit mehreren Zungen, auf Französisch und Deutsch, mit Händen und Füßen, über die unsägliche Gewalt berichtete, die er wie andere erfahren musste: Prügelstrafen, willkürliche Hinrichtungen, Sklavenarbeit. Die libyschen Bewacher ließen ihrem Rassismus gegenüber Schwarzafrikanern freien Lauf. A. berichtete auch von einer Delegation der EU in seinem Lager und fünf Flüchtlingen, die sich bei den Beobachtern beschwerten. Nach deren Abreise, so A., wurde alle fünf durch Kopfschüsse getötet. Ich bin mehr als vorsichtig beim Vergleich historischer Ereignisse (Das gilt besonders für das historisch einzigartige Verbrechen am europäischen Judentum.) mit aktuellen. Aber in diesem Fall ging mir ein Ereignis aus dem Ghetto Theresienstadt, in dem Juden aus ganz Europa gefangen waren, durch den Kopf. Das Ghetto wurde 1944 von einer Delegation des internationalen Roten Kreuzes besucht. Die SS – Bewacher spielten den Beobachtern ein Lagerleben vor, das mit den wirklichen Zuständen nichts zu tun hatte. So ließen sie die Kinderoper “Brundibar” aufführen. Nach der Abreise der Gäste wurden fast alle Mitwirkenden in die Gaskammern von Auschwitz deportiert. A. aus Guinea hat die Flucht geschafft. Er lebt jetzt in Wermelskirchen, möchte mehr Deutsch lernen und dann eine Lehre als Installateur oder Anstreicher machen. Seine Erlebnisse in Libyen aber trägt er mit sich, auch wenn man es ihm nicht anmerkt. Er braucht wie viele seiner Leidensgenossen unsere Empathie, unser Verständnis wie unsere konkrete Hilfe.
Ich wünsche ein schönes Wochenende
Jochen Bilstein
Ich weiß zwar jetzt nicht, um welchen unserer Schützlinge es geht, aber beim Lesen standen mir die Tränen in den Augen. Europa, wir, machen uns schuldig, indem viele den bequemen Weg gehen und die Augen vor dem weltweiten Fluchtdrama verschließen. Wir, in Europa, in Deutschland die diese menschenverachtende Abschottungspolitik zulassen.