Den nachfolgenden Beitrag von Kristina Schreiber entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung der Autorin von ihrer Website und ihrem Blog. Frau Schreiber ist Journalistin, Marketingexpertin sowie Fachfrau und Beraterin in Sachen Digitalisierung. Wir veröffentlichen diesen Beitrag, weil er an alltagspraktischen Beispielen deutlich macht, wie wenig Digitalisierung in Deutschland bislang voran gekommen ist:
Von Kristina Schreiber
Wer in Schweden Kaffee bestellt oder einfach nur Bus fährt, darf mitunter selbst bei Kleinstbeträgen bzw. an abgeschiedenen Orten nur per Karte zahlen. Oft heißt es offensiv: „Vi hanterar ej kontanter.“ Oder: „Wir handeln nicht mit Bargeld.“ Auch mein Kajak habe ich auf einer Schäreninsel auf einem iPad nebst iZettle-Hardware entliehen und bezahlt. Den Kreditkartenbeleg gibt’s per SMS oder Mail. Wer in einer schwedischen Fußgängerzone einem Barden Geld spendet, tut selbst dies digital. Alldieweil wird die gebührenpflichtige Parkdauer des Autos nicht per Sprint zum Parkautomaten verlängert. Parkautomaten sucht man ohnehin vergeblich. Stattdessen ziehen Parker den Regler der Payment-App „SMS Park“ um eine Wunschzeitspanne in die Zukunft. Die Anwendung zeigt sogar die voraussichtlichen Parkgebühren an und meldet sich per Push-Nachricht, kurz bevor die Frist abläuft.
Bekenntnis zu Digital in den 90ern eingeleitet
Oberflächlich betrachtet, lautet die Botschaft: In Schweden brauchst du kein Bargeld (was absolut stimmt). Doch Schweden ist mehr: Das nordische Königreich hat bereits vor der Jahrtausendwende die Weichen für eine digitalisierte Gesellschaft gestellt – in der Bildung, im Gesundheitswesen und im Zusammenspiel mit Behörden und der Zivilgesellschaft. Dieser Ansatz geht weit über hierzu(„neu“)lande viel diskutierte Funkloch-Melde-Apps und das reine Verbuddeln von Glasfaserkabeln hinaus.
Teil der Allgemeinbildung: In Schweden ist ganzheitliche Digitalisierung Chefsache
Digitalisierung muss, folgt man der schwedischen Argumentation, durchdacht sein und sämtliche Bereiche der Gesellschaft durchdringen. Die Skandinavier haben dies schon in den 90ern verstanden und formulierten – als viele Staaten die Notwendigkeit noch nicht sahen – bereits im Jahr 2000 ihre digitale Strategie „ICT Information Society for all“. Diese hat es sich auf die Fahne geschrieben, „das Beste aus den Möglichkeiten der Digitalisierung herauszuholen“ und Bestandteil der Allgemeinbildung zu werden. Immerhin sollen Erwerbstätige digitale Fähigkeiten erwerben können, um für den Arbeitsmarkt fit zu sein. Denn das schwedische Digital-Augenmerk ruht auf dem Bildungssystem und der Anpassung von Qualifikationen für ein lebenslanges Lernen – was sich längst in der schwedischen Wirtschaft – etwa in der Mobilität und der Start-up-Landschaft – niederschlägt.
Mehr erfolgreiche Start-ups als im Silicon Valley
So hat sich die schwedische Hauptstadt in den letzten Jahren zum Zentrum für Tech-Gründungen entwickelt. Laut dem Start-up-Städte-Index rangiert Stockholm bei der Attraktivität für Gründer weltweit auf Platz fünf hinter Singapur, Helsinki, San Francisco und Berlin. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl gibt es dort mehr erfolgreiche Neugründungen als im Silicon Valley.
Das zupackende schwedische Bekenntnis zu Digital rund um Humankapital, Internetnutzung und E-Government katapultierte das Land im Digitalisierungs-Index „DESI“ der Europäischen Union 2018 auf Platz zwei (ein Jahr zuvor noch Platz drei) hinter Dänemark. Zum Vergleich: Deutschland stürzte binnen eines Jahres von Platz elf in 2017 auf Rang vierzehn ab. Bei der Wettbewerbsfähigkeit in Sachen Digitale Fitness rangiert Schweden auf Platz drei hinter den USA und Singapur. Dies identifiziert die Lausanner Hochschule IMD in ihrem „World Digital Competitiveness Yearbook“ beim Vergleich von 60 nationalen Märkten vor dem Hintergrund von Wissen, Technologie und sogenannter Future Readiness.
Infrastruktur für gesellschaftlichen Zusammenhalt
Doch was machen die Schweden anders? Das Land sät nicht nur Vertrauen in Digitalisierungsmöglichkeiten. Ein sogenanntes Broadband Forum, gegründet 2010 und mit Abgesandten der Regierung, aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft, koordiniert bis heute den Ausbau digitaler Initiativen. Darunter fällt etwa der Zugang zu einer flächendeckenden Breitbandversorgung von 1 Gbit/s für sämtliche Bürger.
Großstädte wie Stockholm sind allerdings schon längst zu 99 Prozent mit Glasfaser versorgt und kaum ein schwedischer Bürger muss mehr als 25 Euro für einen schnellen Internetzugang berappen, um Zugang zu sämtlichen gesellschaftlich relevanten Informationen und Diensten zu erhalten. Dies trägt auch zum sozialen Zusammenhalt bei. Ein kontinuierlicher marktorientierter Ausbau, ergänzt durch Maßnahmen der öffentlichen Hand, so die politische Willensbekundung, wirkt auch dort, wo Marktmechanismen nicht ausreichen. Denn die Infrastruktur dient lediglich als Mittel zum digitalen Zweck.
E-Krone: Auf dem Weg in die bargeldlose Gesellschaft
Schweden, 1661 europäischer Pionier beim Einführen von Geldscheinen als offizielles Zahlungsmittel, befindet sich konsequent und weltweit führend auf dem Weg in die bargeldlose Gesellschaft. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt zahleichen Banküberfällen, der intensiven Nutzung von Kreditkarten seit den Neunzigerjahren sowie der Einführung eines der ersten LTE-Mobilfunknetze im Jahr 2009 bei zeitgleichem Abbau von Bankautomaten zu verdanken.
Wegen dieser No-Cash- bzw. Digital-Payment-Affinität sank in Schweden die Zahl der Banküberfälle von 110 vor einer Dekade auf fünf im Jahr 2017. Inzwischen beträgt der Wert des Bargelds im Umlauf umgerechnet nur noch 5,7 Milliarden Euro. Die schwedische Cash-Transaktionsquote rangiert mittlerweile unter der 20-Prozent-Marke. In der Hauptstadt bevorraten nur noch zwei von zwanzig SEB-Niederlassungen Bargeld. Wegen des Vertrauens in das heimische Zahlungsmittel erwägt die Schwedische Reichsbank seit einiger Zeit die Einführung einer E-Krone.
Wie Schweden sein Bargeld substituiert
Trotz opponierender Rentnerverbände und selbsternannter Bargeldaufständler („Kontantupproret“) wird Bargeld spätestens in fünf Jahren aus Schweden verschwunden sein. Denn bald wird keiner mehr Scheine und Münzen vorhalten und annehmen wollen. Immerhin sorgen Zahlungsanbieter wie Swish, Klarna, iZettle, allesamt schwedische Innovatoren, für attraktive und bequeme Cash-Alternativen.
E-Health: Wenn Rettungswagen Vitaldaten an die Notaufnahme funken
Unterdessen hat das schwedische Gesundheitssystem die elektronische Patientenakte eingeführt. 19 von 20 Rezepten werden inzwischen papierlos ausgestellt und landen digital bei der beauftragten Apotheke. Derweil sind die ersten Rettungswagen im Rahmen von Modellprojekten mit einem System ausgestattet, das Vitaldaten von Unfallopfern und Kranken an die Notaufnahme funkt. Selbst die bei ihrer Effektivität umstrittenen virtuellen Arzt-Sprechstunden via Tablet und Smartphone gehören längst zum guten Ton.
E-Government: Finanzamt erstellt Steuererklärung elektronisch
Wer nicht nur mit Ärzten, sondern auch mit Behörden und Banken kommuniziert, kann über seine Personennummer – eine in Schweden flächendeckend genutzte Personen-ID – mehr als 3.000 App-basierte Services nutzen. So laufen viele Behördengänge elektronisch ab. Ein Normalbürger muss beispielsweise die vom Finanzamt vorausgefüllte Steuererklärung nur noch per SMS bestätigen und benötigt in der Regel keinen Steuerberater mehr.
Blockchain verdrängt klassisches Grundbuch
Seit einer Testphase, die es im Mai 2017 abgeschlossen hat, nutzt das schwedische Grundbuchamt die Blockchain des israelisch-schwedischen Start-ups Chromaway. Dadurch erhofft es sich Einsparpotenziale von umgerechnet rund 100 Millionen Euro. Denn, die kryptografische Technologie, bei der Blöcke kettenartig fortgeschrieben und zur Identitätsprüfung mit Zeitstempeln und Transaktionsdaten versehen werden, gilt als sicher: Daten lassen sich nachträglich nicht mehr ändern.
Um einen schwedischen Grundbucheintrag vorzunehmen, müssen Käufer, Verkäufer, Makler und Bank registriert und in ihren jeweiligen Rollen bestätigt sein. Dann kann die Beglaubigung bzw. Transaktion via Blockchain fälschungssicher festgeschrieben werden. Der aktuelle Stand lässt sich in der App jederzeit nachvollziehen. Das digitale Grundbuch ist öffentlich und damit transparent einsehbar.
Der Zeitbedarf für einen Grundbucheintag schrumpft mit Hilfe dieser Technologie von vier Monaten auf lediglich ein paar Tage. Nur die Notare scheinen nicht „amused“. So sagte der Notar Prof. Dr. Maximilian Zimmer, der an der Hochschule Harz in Wernigerode lehrt, dem Branchendienst „Immobilienmanager“, die Technologie könne die durch das Notarsystem bestehenden Sicherheitsmechanismen nicht ausgleichen und schütze somit Kunden nicht vor unvorteilhaften Verträgen.
Digitale Bildung: Tablets flächendeckend
Schwedens Digitalisierungsstrategie fokussiert vor allem den Bildungssektor. Wer weiß, wie Schulen in Deutschland mit IT ausgestattet sind, dem wird Schwedens Bildungspolitik Tränen der Rührung und des Neids in die Augen treiben. Dort fließen erkleckliche 45 Prozent der Gemeindeeinnahmen in Bildungseinrichtungen. Schüler sowie Lehrpersonal erhalten Schulungen in Sachen Medienkompetenz. Während viele deutsche Lehrer fast nur über ein Smart Board (elektronische Tafel) sowie einen bis wenige Computer pro Klasse gebieten, setzt Schweden Tablets im Schulunterricht als digitale Lehrmittel längst flächendeckend ein.
Hohe Investitionen in KI
Und die digitale Revolution geht noch viel weiter: Schweden wird zum Beispiel in der nächsten Dekade öffentliche und privatwirtschaftliche Budgets im sechsstelligen Euro-Millionenbereich allein in Künstliche Intelligenz investieren.
„Schöne Worte in den bisherigen Parteiprogrammen und ein wenig Twitter reichen nicht aus, um die Digitalisierung zu meistern und werden leider zu oft ohne Sinn und Verstand rein auf Technologie bezogen“
Digitalisierung: Schweden vs. Deutschland
Unterm Strich dürfen wir Schweden für seine langfristige nationale Strategie und sein klares Ziel Respekt zollen. Deutschland scheint hingegen noch meilenweit entfernt: „Es wäre gut zuzugeben, dass alle vier großen, demokratischen Volksparteien hier geschlafen und den Wesenskern der Digitalisierung missverstanden haben. Die Politik braucht jetzt eine Zäsur. Sie muss lernen, professionell mit der Digitalisierung umzugehen“, kritisiert Sandra Goetz, die seit 20 Jahren beruflich in der Digitalwirtschaft unterwegs ist und als Landesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen in Hamburg den politischen Schwerpunkt „Gleichstellungspolitik und Digitalisierung“ der ASF Hamburg promotet.
„Schöne Worte in den bisherigen Parteiprogrammen und ein wenig Twitter reichen nicht aus, um die Digitalisierung zu meistern und werden leider zu oft ohne Sinn und Verstand rein auf Technologie bezogen“, betont Goetz. Stattdessen müsse der Digitalisierungsdiskurs die Lebensperspektiven des oder der Einzelnen beleuchten. Es brauche einen gesamtgesellschaftlichen Zugang und Digitalkenntnisse – vor allem im sozialen Bereich.
Insofern gibt Schweden – eben auch in puncto Umsetzung einer fundierten Strategie – ein gutes Vorbild ab, wie sich Deutschland digital transformieren ließe. Die Zeit jedenfalls läuft.