„Hudekamp- Ein Heimatfilm“. Von Christian von Brockhausen und Pia-Luisa Lenz (NDR, Di 23.01.2018, 00.00-01.05)

Von Fritz Wolf

Heimat ist ja jetzt wieder groß im Gespräch, als Zufluchtsort gegen die Zumutungen der Globalisierung, als überschaubare kleine Welt, in der man sich vor der großen schützen will und inzwischen auch als Kampfbegriff der Rechten. Zwei Filmemacher nennen ihren Film über ein Hochhausviertel in Lübeck „Heimatfilm“ – mal schauen, ob der Begriff hier taugt. (NDR, Di 23.01.2018, 00.00-01.05)

Der elfjährige Ibo hat ein verantwortungsvolles Leben. Er muss sich um seine kleinen Geschwister kümmern, weil die Mutter offenbar dazu nicht in der Lage ist. Er bringt seine Schwester in den Kindergarten, abends sorgt er dafür, dass sie Zähneputzen und ins Bett gehen. Er und seine Geschwister haben mitansehen müssen, wie ihr Vater in der Wohnung starb. Auf die Frage, wie die Leute hier im Viertel seien, hat er eine klare Reihung: „Es gibt die Netten, die Bösen und die ganz Bösen“.

Ibo ist einer der Protagonisten im Dokumentarfilm Hudekamp von Christian von Brockhausen und Pia-Luisa Lenz. Hudekamp ist ein Hochhausviertel in Lübeck, das zu großen Teilen von Sozialhilfeempfängern bewohnt ist, ein sogenannte Problemviertel mit Drogen, Kriminalität, sozialen Konflikten. Die Filmemacher haben sich im Viertel einige Wochen lang eingemietet und einige ihrer Bewohner durch den Alltag begleitet. „Einen Heimatfilm“ nennen die Autoren ihren Film und es ist fürwahr eine fremde Heimat, die sie da vorfinden, jene Parallellgesellschaft am Rand der Wohlstandsgesellschaft.

Da ist der 38-jährige Sebastian aus dem 13. Stock, den wir gleich zu Beginn des Films in einer Szene erleben, in der er sich mit einem scheußlichen Kaltgetränk aus Instant-Kaffeeund Schnaps auf Pegel bringt. Wie viel Drogen er noch nimmt, weiß man nicht und dass er kaum etwas isst, erfährt man von anderen. Einmal hat seine Mutter beim Hausmeister angerufen und gefragt, ob ihr Sohn noch lebt. Da wohnt im 12. Stock die 71-jährige Annemie, deren Mann vor einem Jahr gestorben ist und die mit etwas Pflegehilfe nur sehr mühsam über den Alltag kommt. Da lebt im ersten Stock Karsten T mit seiner Frau Ramona, der die Welt vor seiner Tür mit einer Videokamera beobachtet, der Ausländer hasst und seinem deutschen Magen Gewürze nicht zumuten will – ein gespenstisches rechtes Milieu. Und da ist der 22-jährige Adnan, der mit seinen jüngern Brüdern noch in einem Zimmer wohnt, der in Hamburg studiert und Berufsschullehrer werden will und immer wieder die Erfahrung macht, als Migrantenkind abgewiesen zu werden.

Zentralfigur in diesem Film ist Hausmeister Klaus. Er sitzt in einem Raum mit viele Bildschirmen. 20 Videokameras beobachten das Geschehen in den Eingängen, den Fluren, auf den Spielplätzen. Er kennt die meisten Lebensgeschichten, hat eine Meinung dazu und kommentiert auch im Film die Protagonisten. Für den 11-jährigen Ibo, der auch manchmal gern mit Gleichaltrigen spielen möchte, hat er Zuspruch, Sebastian rät er vom Alkohol ab. Als wiederkehrendes Motiv dient den Autoren auch der in einem Hochhaus unvermeidlichen Lift, in dem die Protagonisten sich durchs Haus bewegen und in dem sich auch mal zusammentreffen. Die Absicht, hinter die Fassade auf einzelne Schicksale zu schauen, illustrieren sie allerdings etwas aufdringlich mit langen schwindeligen Fahrten der Helikopterkamera.

Die Autoren konzentrieren sich nur auf einige Bewohner, aber sie liefern keine Mini-Porträts, Die Bewegungen des Films haben eher etwas Beiläufiges, manches sieht wie zufällig aus, nicht wie bestellt oder organisiert. Offene Form, unabgeschlossen und daher mit Raum für Unerwartetes. Es ist die Stärke des Films, dass es ihm gelingt, überraschende Momente aus dieser Parallelwelt einzufangen. Mit Sebastian im Lift, plötzlich beginnt er zu hüpfen, grinst diabolisch und sagt grinsend: „Da kann man schon manchmal Angst kriegen“ – das Klaustrophobische dieser Liftfahrten gehört mit zum Wohnklima in diesem Haus. Und die gewiss größte Überraschung. Nachdem wir Sebastian und Annemie nacheinander kennengelernt haben, erzählt der Film, dass die beiden Verlorenen sich zusammentun wie der Blinde und der Einäugige. Wenigstens zeitweise und wenn Sebastian nicht ganz von der Rolle ist, hilft er der alten Frau beim Einkaufen, sie kochen miteinander, rauchen gemeinsam und schauen ganz romantisch bei Kerzenlicht Fußball im Fernsehen. Man hilft sich, auch an einem solchen Ort. Freilich schaut Annemie sich schon um, ob sie einen Platz in einem Projekt für Betreutes Wohnen finden kann. „Jeder geht seiner Wege“, sagt am Ende der philosophierende Hausmeister vom Dach des Hochhauses, wo man weiten Blick übers flache Land hat.

www.wolfsiehtfern.de

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