Der Buchtipp von Marie-Louise Lichtenberg: John Boyne, So fern wie nah

John Boyne, So fern wie nah, Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Martina Tichy, Fischer Verlag 2014, 254 Seiten, ab 12 Jahre

Von Marie-Louise Lichtenberg

Vor 103 Jahren begann der Erste Weltkrieg und damit eine neue, nie dagewesene menschenverachtende Form der Kriegsführung. Das Thema Krieg ist für Kinder eigentlich kein Thema, aber in unserer heutigen Zeit sehen auch junge Kinder fast täglich grausame Bilder von Kriegen. Viele von ihnen erleben es persönlich, was der Krieg aus den Menschen macht – Kriegsflüchtlinge oder die Rückkehrer aus Afghanistan sind oft gestört, psychisch krank und finden nicht mehr in das normale Leben zurück.

In dem Buch „So fern wie nah“ wird Alfie mit der Grausamkeit des Krieges konfrontiert. Er lebt mit seiner Familie in London und ist fünf Jahre alt, als sein Vater, der eigentlich Milchmann ist, freiwillig als Soldat in den Krieg zieht. Alfies Mutter und Großmutter wollen das verhindern, sein Vater meldet sich trotzdem. Er ist nicht nur davon überzeugt, dass der Krieg bis Weihnachten vorbei ist, sondern sieht es auch als seine Pflicht an, für das Vaterland zu kämpfen.

In der ersten Zeit schreibt der Vater noch Briefe, doch irgendwann bleiben sie aus. Die Mutter beschwichtigt Alfie mit der Ausrede, der Vater dürfe sich aus Geheimhaltungsgründen nicht melden. Alfie hat jedoch Zweifel an diesen Erklärungen und hat Angst, dass sein Vater gefallen sei.

Die Mutter arbeitet an mehreren Arbeitsstellen, da es der Familie finanziell nicht gut geht. Alfie will seine Mutter unterstützen und arbeitet heimlich als Schuhputzer am Bahnhof Kings Cross. Einer seiner Kunden ist Arzt und über ihn erfährt er, dass sein Vater in einer Klinik lebt. Er findet die letzten Briefe des Vaters an die Mutter, versteht aber nicht so recht, was darin steht und was der Vater meint.

Heimlich macht Alfie sich auf den Weg in die Klinik, sucht und findet seinen Vater. Er ist mehr als geschockt, als er sieht, in welchem Zustand dieser ist. Er scheint ihn nicht zu erkennen.

In der psychiatrischen Klinik werden traumatisierte Soldaten behandelt, die unter dem sogenannten Granatenschock leiden. Der Stellungskrieg in den Schützengräben hat nicht nur zahllose körperlich versehrte Soldaten, sondern ebenso zahllose psychisch kranke Menschen hinterlassen – auf allen Seiten.

John Boyne gelingt es meisterlich, spannend und einfühlsam eine Geschichte zu erzählen, die die Perspektive des Kindes an keiner Stelle verlässt. Alfie wird schnell „groß“, aber das ist so, wenn Kinder zu früh mit schlimmen Dingen konfrontiert werden. Seine Verstörung und seine Handlungen sind gut nachvollziehbar.

Der Autor schafft es, die Grausamkeit eines Krieges kindgerecht darzustellen, ohne zu verharmlosen. Ferner überzeugen seine feinfühlige Erzählweise über die Kriegsbegeisterung damals und die völlige Fehleinschätzung vieler, was Krieg immer bedeutet – Elend, Tod, Verletzungen, grausame Verstümmelungen, leidende Zivilbevölkerung, traumatisierte Soldaten. Es ist aber auch eine Realität, dass es immer Menschen gibt, die gegen den Krieg sind, ihre Teilnahme verweigern und massive persönliche Nachteile und Strafen in Kauf nehmen. Wie Joe Patience, „der Drückeberger aus Nr.16“ (Seite 238), der Zivilcourage zeigt und letztendlich den Vater rettet.

John Boyne ist ein besonderes Buch gelungen, weil es das Zerstörerische eines Krieges am Schicksal der Menschen in hoher literarischer Qualität darstellt und damit dem Friedensgedanken gerecht wird.

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