ADFC: „Die Fahrradinfrastruktur ist grotesk unterdimensioniert“

Die Erfindung des Fahrrades jährte sich am Montag zum 200. Mal. DEMO, das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik, sprach mit dem Vorsitzenden des Fahrrad-Verbandes ADFC, Ulrich Syberg. Im Interview fordert der mehr Platz für Radfahrer, Fußgänger und den ÖPNV. Dafür müssten die Kommunen den Autos etwas Fläche wegnehmen.

Die Erfindung des Fahrrades jährt sich zum 200. Mal. Wie begeht der ADFC dieses Jubiläum?

Nicht mit Festakten, sondern mit einem kämpferischen Aktionsprogamm, weil die Radverkehrsförderung in Deutschland so unfassbar kraftlos ist. Unter dem Motto „Fahrradland Deutschland. Jetzt!“ organisiert der ADFC bis zur Bundestagswahl im ganzen Land riesige Sternfahrten – in Berlin werden über 100.000 radelnde Teilnehmer erwartet. Es wird Straßenaktionen mit Popup-Radspuren und politische Radtouren geben – aber es sind auch nette Formate dabei, wie historische Radelparaden und eine Aktionswoche gemeinsam mit dem Deutschen Städte- und Gemeindebund Mitte Juni. Alle Info gibt’s übrigens auf www.radlandjetzt.de.

Vor Kurzem hat der ADFC die Ergebnisse seines jährlichen „Fahrradklimatests“ vorgestellt, der die Fahrradfreundlichkeit deutscher Kommunen bewertet. Münster, Göttingen und Bocholt sind Spitzenreiter. Größte „Aufholer“ sind Bochum, Pforzheim und Marburg. Was sind die wichtigsten Merkmale einer fahrradfreundlichen Kommune?

Es geht um den knapp bemessenen Platz in den Kommunen. Es geht darum, dem Auto Platz wegzunehmen und ihn den Radfahrern, Fußgängern und dem ÖPNV zur Verfügung zu stellen. An erster Stelle steht deshalb immer ein starker politischer Kopf oder besser noch eine ganze Gruppe von Köpfen, die wirklich das Mobilitätsverhalten der Menschen verändern – und sie ausdrücklich zum Radfahren oder zum Zufußgehen einladen will.

Alles andere ist schnell gesagt: Ein durchgängiges Radverkehrsnetz quer durch die Stadt. Zwischen den Städten und im Umland der Metropolen brauchen wir kreuzungsfrei geführte Radschnellwege, wie in den Niederlanden, für Pendler. Breite Radwege, auf denen man überholen oder nebeneinander fahren kann. Ein gut gepflegter, leichtläufiger Belag. Winterdienst für Radwege. Falschparker auf Radwegen streng verfolgen. Ein großzügiges Angebot an sicheren Abstellplätzen. Niedriges Verkehrstempo und ein rücksichtsvolles Verkehrsklima, denn als ungeschützte Verkehrsteilnehmer fühlen sich Radfahrer viel schneller bedroht als Autoinsassen. Autofreie Sonntage, Fahrradaktionstage, Bürgermeistersprechstunden auf dem Rad, Kampagnen, wie „Mit dem Rad zur Arbeit“ oder „Stadtradeln“. Nicht zuletzt: Fahrradfreundliche Arbeitgeber, die ihren Mitarbeitern Diensträder, Fahrradparkplätze und Duschen zur Verfügung stellen. Es reicht nicht, Piktogramme und schmale Streifen auf die Fahrbahn zu malen. Radverkehr fördern heißt, sich von den autodominierten Stadtkonzepten zu verabschieden, den Raum neu aufzuteilen und attraktive Angebote für den Umstieg auf das Rad zu machen.

Um es einmal konkret zu machen: Können Sie ein aktuelles Projekt nennen, das aus Sicht des ADFC besonders beispielhaft ist?

Der Radschnellweg Ruhr, kurz: RS1, ist ein Leuchtturm-Projekt, auf das die ganze Welt schaut. Auf über 100 Kilometern wird er in ein paar Jahren quer durch das Ruhrgebiet führen, Städte, Unis, Arbeitgeber und Wohngebiete miteinander verknüpfen und im großen Stil die dauerverstopfte A40 entlasten. Radschnellwege gibt es in den Niederlanden, Flandern und sogar in London schon lange – und dort gibt es traumhafte Pendlerzahlen auf dem Rad. Der RS1 wird alle Rekorde brechen, da bin ich sicher. Die Zusammenarbeit zwischen den Kommunen in der Metropole Ruhr ist beispielgebend für ganz Deutschland.

Elektro-Bikes sind derzeit sehr populär. Von Jahr zu Jahr steigen die Verkaufszahlen, 2016 wurden nach Angaben des Zweirad-Industrie-Verbands mehr als 600.000 Stück verkauft. Sehen Sie im E-Bike die Zukunft das Radfahrens?

Elektroräder sind eine schöner Zuwachs in der Familie der Fahrräder. Sie bringen neue Zielgruppen auf das Rad und sie vergrößern den Radius und die Einsatzgebiete. Das „normale“ Fahrrad boomt aber ebenfalls weiter. Es ist einfach unschlagbar flexibel und effizient – und in unserer übertechnisierten Welt eine Erholung für Körper und Sinne.

Inwiefern müssen sich Kommunen auf E-Bikes umstellen und Radstrecken anders planen?

Sie müssen ganz generell die Radwege intuitiv verständlich und großzügig planen. Der E-Bike-Boom macht nur verstärkt auf ein Problem aufmerksam, dass es auch vorher schon gab: Die Fahrradinfrastruktur ist fast überall veraltet und grotesk unterdimensioniert. Deshalb gibt es unser Aktionsprogramm „Fahrradland Deutschland. Jetzt!“

Foto: Ulrich Syberg während der Präsentation des ADFC-Fahrradklima-Tests am 19. Mai in Berlin

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