Von Fritz Wolf
In Zeiten, wo schon ein deutscher Außenminister schweren politischen Gegenwind kriegt, wenn er Deeskalation im Verhältnis zu Russland beschwört und in Zeiten, da das Gedenken an den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion aus dem öffentlichen Bewusstsein rückt (und gerückt wird) – hier zwei Filme, die das Bild wieder etwas grade rücken. „Schatten des Krieges“. Teil 1: „Das sowjetische Erbe“. Von Artem Demenok Teil 2 „Das vergessene Verbrechen“. Von Andreas Christoph Schmidt. Grimme-Preis 2017 für beide Autoren. (Phoenix, So 02.04.2017, 03.10 – 04.40)
Bei ihrer Fernsehausstrahlung wurden beiden Filme unter dem Obertitel „Schatten des Krieges“ nicht wahrgenommen, wie sie es verdient hätten; kaum eine Zeitung brachte eine Vorkritik. Dabei sind diese Filme in mehrerlei Hinsicht ungewöhnlich und die Art, wie sie Geschichte erzählen, jenseits von Routinen. Zudem und zuallerst auch eine nötige Korrektur des wieder festgefrorenen Blicks auf das heutige Russland und seine prägende Geschichte.
„Das sowjetische Erbe“ titel Artem Demenok den ersten Teil und er macht sich auf die Suche nach den Mythen, Legenden und Lebenslügen des „Großen Vaterländischen Krieges“. So nennen die Russen den Zweiten Weltkrieg, der für sie mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 begann, vor nunmehr 75 Jahren. Der Regisseur nennt den „Großen Vaterländischen Krieg“ auch den zweiten Gründungsmythos der Sowjetunion. Und im Großen die individuellen Geschichten: Augenzeugen und Überlebende, die noch erstaunlich klar erzählen können. Dazu Expertinnen wie die Historikerin Maja Turowskaja, die sich vor allem mit dem Stalinismus beschäftigt.
Artem Demenok inszeniert seinen Film als eine Reise zu den Stein gewordenen Erinnerungen. In vielen Städten stehen Monumente, die an Krieg und Krieger erinnern, fast immer in heroischer Gestik. Wie in Sewastopol, das lange gegen die Deutsche Wehrmacht erfolgreich verteidigt werden konnte und das so eng mit der sowjetischen Flotte verbunden war, dass Putin bei der Annexion der Krim daran anknüpfen konnte. Wie in Brest, das als erste Stadt Opfer des deutschen Überfalls wurde und deren Einwohner so wenig wie die dort stationierten Soldaten darauf vorbereitet waren. Für Stalin eine Schmach, in seinen Kriegserinnerungen erwähnt er Brest nicht einmal. Erst nach seinem Tod wurde Brest Heldenstadt und erhielt ein großes Mahnmal. Dazu die individuellen Erlebnisse eines Überlebenden, in dessen Geschichte auch ein Motiv anklingt, das sich durch beide Filme zieht: Wer überlebte, galt als Verräter und wurde in Lagern inhaftiert. Oder Schauplatz Kiew, wo in der Schlucht von Babi Jar eines der großen Verbrechen an den Kiewer Juden geschah; aber das Mahnmal von 1976 erinnerte nur an Sowjetbürger, nicht an Juden.
Auch Spielfilme haben Mythen und Legenden weiter verfestigt, Artemok zitiert aus mehreren Filmen. Wie etwa die Geschichte der 28 Panfilow-Soldaten, die 1941 beim Vormarsch der Deutschen 18 Panzer zerstört haben sollen. Ein riesiges Figurenensemble ehrt sie, ein Spielfilm erzählte ihre Geschichte. Aber diese Geschichte ist nicht wahr, sondern eine Erfindung der Armeezeitung Roter Stern. Als 2015 der Gedenkstellenleiter die historische Wahrheit aussprach, wollte niemand sie hören; er wurde entlassen. Und in der Gegenwart wird sogar wieder ein Spielfilm auf Basis der Erfindung gedreht. Artem Demenoks Film endet, historisch logisch, mit dem Kriegsende in Berlin, der Eroberung des Reichstags. Es fällt der schöne Satz: „Die Filmbilder sind gestellt, die Siegesgefühle echt“.
Ein nahezu vergessenes Verbrechen greift im zweiten Film Andreas Christoph Schmidt auf: Die Ermordung von drei Millionen sowjetischer Kriegsgefangener. Tod durch Hunger, Seuchen, Erfrieren, jedenfalls Mord. Die Lager unterstanden der Wehrmacht und die fühlte sich nicht an die Genfer Kriegsgefangenen-Konvention gebunden. Auch Schmidt sucht Orte der Verbrechen auf, etwa Wietzendorf in der Lüngeburger Heide. Von den meisten Gefangenenlagern existieren nur noch kaum sichtbare Reste: „Das vergessene Verbrechen“.
Schmidts erzählerischer Ansatzpunkt sind Fotos von Wehrmachtssoldaten. Viele hatten eine Kamera dabei. Die Bilder handeln selten von Kriegshandlungen, viel von Routine oder fröhlichem Soldatenalltag. „Schließlich war der Feldzug auch eine Reise, vielleicht die einzige im Leben“ merkt der Autor im Kommentar ironisch an und benennt ein Lieblingsmotiv: „Ich, der Wachmann und die Gefangenen“. Andere wiederum fotografieren, um zu dokumentieren, aber mit der Einstellung „Fremdes von oben herab“. Und offenbar ohne jedes Schuldbewusstsein. Davon zeigen Bildeinstellung wie auch Bemerkungen auf den Bilderrückseiten.
Beide Filme sind in der Machart unterschiedlich und in der Haltung eins. Es geht um Erinnerung und um die Korrektur von Erinnerung. „Der Mensch erinnert sich anders als der Staat“ heißt es einmal in Artem Demenoks Film. Es ist die These des Films, dass der Staat die Mahnmale für sich instrumentalisiert hat. Nach Kriegsende etwa, so eine Information des Films, waren Veteranen- Treffen vor allem Privatsache. Erst zwanzig Jahre später folgten die großen Paraden auf dem Roten Platz, die bis heute das Bild bestimmen. Besonders deutlich wird die Ambivalenz dieser Erinnerungskultur in Wolgograd, ehemals Stalingrad, wo die riesige Figur „Mutter Heimat ruft“ auf dem Mamaja-Hügel alles überragt. In der Gedenkstätte übernehmen (wie etwa auch in Sewastopol) die besten Schüler der Stadt Wach- und Ehrendienste – ein Zeichen, wie die Erinnerung an die riesigen Opfer immer noch die Gegenwart prägt. 27 Millionen Einwohner der Sowjetunion kamen im „Großen Vaterländischen Krieg“ ums Leben.
Eine Besonderheit beider Filme ist der Umgang mit dem Bildmaterial. Beide Autoren benutzen es nicht zur Illustration, sondern suchen es zum Sprechen zu bringen. Das geschieht ganz offen bei Andreas Christian Schmidt, der die Bilder genau untersucht, welche Einstellungen in ihnen stecken , kameratechnische wie politisch-ideologische; er lehrt uns damit auch Bilderlesen. Artem Demenok verwendet Filmausschnitte oder Werke der Bildenden Kunst nicht einfach nur als dokumentarisches Material, sondern verwandelt sie in historischen Erzählstoff, macht scheinbar Authentisches als Inszeniertes kenntlich werden und Ideologisches in den Spielfilmszenen.
Geschichte ist immer auch Vergangenheit unter dem Gesichtspunkt der Gegenwart. Vor allem Artem Demenok setzt diese Einsicht auch in Filmsprache um. Sein Film springt in harten Schnitten zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin- und her, will die Vergegenwärtigung erzwingen und schmerzhaft spürbar machen. Bewegst sich in harten Gegensätzen zwischen Allgemeinem und Individuellem, zwischen dem Verlauf des Krieges und dem individuellen Erlebnis. Gerade diese harten Montagen schaffen
eine starke Wirkung, der man sich kaum entziehen kann. Verglichen damit ist Andreas Christoph Schmidts Film weicher, auch trauriger, fast ein Requiem, dies verstärkt noch durch eine tragende Musik von Arvo Pärt.
Beide Filme jedenfalls sind Geschichtserzählung und Geschichtskorrektur in einem. Und die Entlarvung der Mythen und Legenden lässt das wirkliche Geschehen keineswegs vergessen. Besonders deutlich zeigt das die Schlussszene des ersten Films. Da sucht der Autor ein Denkmal auf, das weniger spektakulär ist und auch von der staatlichen Erinnerungsmaschinerie nicht aufgesogen wurde. Es stammt von dem Bildhauer Daniil Medianski und erinnert an gefallene Schulkameraden; Moskau, Schule 110. Die Plastiken, schmale Körper, nachdenkliche Gestik, haben nichts Heroisches an sich. Und zitiert ist am Mahnmal ein Satz, zugeschrieben einem der gefallenen Schüler: „Gedenket meiner, ich war ein Mensch des Künftigen. Der Mensch des Künftigen ist Humanist. Ich starb dafür, dass so die Menschheit wird.“