Von Fritz Wolf
48 Marathons ist Budhia Singh schon gelaufen. Ziemlich viel. Für einen Erwachsenen. Aber Budhia Singh ist fünf Jahre alt. Eine unglaubliche Geschichte und ein trauriger Film (HR, So 07.11.2016, 01.30-03.00)
Budhia Singh kam aus dem größten Slum der ostindischen Stadt Orissa. Der Vater trinkt und stirbt, die Mutter verkauft ihren Sohn für einige Rupien, er bettelt und kommt in ein Waisenhaus. Das wird betrieben von Biranchi Das, einem bekannten Judotrainer. Durch Zufall entdeckt er das erstaunliche Lauftalent des kleinen Jungen – und beginnt ihn aufzubauen zum künftigen indischen Superstar.
Von diesem Momentum aus entfaltet sich eine Geschichte von Dickens’schen Dimensionen. Eine Geschichte von Ehrgeiz, Brutalität, Armut, Hochmut, Ausbeutung, Mord. Biranchi treibt Budhia zu immer neuen Höchstleistungen, will aus ihm einen künftigen Olympiasieger machen und einen Helden für die unterdrückten indischen Volksmassen. Budhia wird ein Medienstar im ganzen Land. Als der Junge aber nach einem Lauf von 62 km kollabiert, dreht sich die Erfolgsgeschichte. Die Behörden untersagen dem Jungen und seinem Trainer die Läufe, der Konflikt zwischen einem Einzelnen und dem Staat eskaliert. Der Junge steht immer dazwischen. Die Mutter holt ihren Sohn zurück in den Slum und in die elenden Lebensverhältnisse und am Ende steht ein Mord. Biranchi wird vor seinem Waisenhaus erschossen, ein Auftragsmord, die Auftraggeber bleiben im Dunkeln. Der Film endet, da ist Budhia neun Jahre alt. Er geht zur Schule, läuft noch, hat jetzt auch gleichaltrige Freunde und denkt mit Dankbarkeit an seinen Trainer.
Die britische Filmemacherin Gemma Atwal hat über die Jahre diese unglaubliche Karriere des laufenden Wunderkinds verfolgt. Sie hebt den Film ins exemplarisch Märchenhafte mit kleinen Inszenierungen in Form von Schattenfilmen, die sich an der sehr alten Kunst von Lotte Reininger orientieren. Was die Geschichte selbst angeht, bezieht die Autorin keine Position. Sie schlägt sich weder auf die Seite des Jungen noch auf die der Behörden. Sie ist immer nah dran mit ihrer Kamera, manchmal so nah, etwa in den Szenen im Slum, dass man sich fragt, wie authentisch ihre Beobachtungen noch sind. Sie erspart den Zuschauern nichts, nicht die Auseinandersetzungen mit der Polizei, nicht die Verbrennung der Leiche von Biranchi. Ihr Film hat auch voyeuristische Züge und nicht alles will man unbedingt gesehen haben. Ohnehin ist es aus westlich-europäischer Sicht nahezu unmöglich, zu akzeptieren, dass einem Kind für ehrgeizige Ziele solche Leistungen abverlangt werden. Wobei man freilich auch das Argument des Trainers zur Kenntnis nehmen muss, dass gleich um die nächste Ecke tausende Fünfjährige in Fabriken und auf Müllhalden arbeiten, ohne dass jemand sich darum kümmerte. Ein harter Blick in eine andere Welt und viele Fragen offen.