Von Fritz Wolf
Die Dokumentaristin Karin Jurschik drehte ihren Film über Tschernobyl 2011, da war von Fukushima noch keine Rede. Es zeigt sich, was alles schon hätte gelernt und gewusst werden können. Ein Film gegen unsere Vergesslichkeit (MDR, So 24.94.2016, 23.50-01.20; 1Festival Mi 27.04, 21.50-23.20; Phoenix, Sa 30.04.2016, 22.30-00.00)
In Deutschland verkündete Innenminister Zimmermann, eine vergleichbare Reaktorkatastrophe könne hier nicht eintreten, denn die deutschen Reaktoren seien „die besten der Welt“. In den französischen TV-Nachrichten verlautete der Wetterbericht, ein stabiles Azorenhoch halte den radioaktiven Fallout auf, zur Illustration wurde ein Stoppschild eingeblendet. In der Sowjetunion gab die Regierung erst drei Wochen nach dem Desaster die erste Pressekonferenz. Das war Tschernobyl vor 25 Jahren.
In „Die Wolke – Tschernobyl und die Folgen“ rekonstruiert die Dokumentaristin Karin Jurschik die Ereignisse nach dem 26. April 1986 in der Ukraine. Ihr Film ist aber mehr als eine Rekonstruktion der Katastrophe und ihrer Folgen. Er ist eine Studie über Mentalitäten, über Ängste, über politisches Verhalten und über politische Verantwortung. Über die Schönrednerei der Politik und die wachsende Verunsicherung in der Bevölkerung. Vieles erinnert an die Atomkatastrophe von Fukushima – wovon Karin Jurschik nichts ahnte, als sie ihren Film drehte. Auch Unterschiede werden sichtbar. Die Kommunikation vor allem. Man möchte kaum glauben, es sei erst 25 Jahre her, dass es den Sowjets mehrere Tage lang gelingen konnte, den Regierungen anderer Länder alle Informationen vorzuenthalten.
In Deutschland war die Reaktion auf die Wolke aus der Ukraine besonders stark. „Wenn Mütter besorgt sind, werden sie eine politische Macht“ urteilt Joschka Fischer über die damaligen Erfahrungen. Fischer war Umweltminister in Hessen, mit dem Ereignis überfordert wie andere Politiker auch, zog aber andere Schlussfolgerungen. Alle lernten damals neue Begriffe wie Becquerel und Milli-Sievert, es ging um Grenzwerte und darum, was man noch essen könne. Geigerzähler waren ausverkauft, der Sand auf Spielplätzen wurde ausgetauscht, Kinder bekamen Trockenmilch statt Fischmilch und Salat wurde tonnenweise untergepflügt.
Der Film befragt politische Akteure von damals. Rita Süßmuth etwa, damals Gesundheitsministerin, urteilt heute kritischer: „Ein Teil unserer Regierung wollte nicht einsehen, wie beträchtlich das Ausmaß war“ und „Es ist so viel heruntergespielt worden. Wir wollten auch lieber die beruhigenden Nachrichten als die nicht beruhigenden. Wir kamen fast in der Gefahr um und meinten, wir hätten die Gefahr im Griff.“ Die Regierung verließ sich auf die Empfehlungen der Strahlenschutzkommission und auf den Technikglauben.
Der Film hält das große Drama auch in den Geschichten Einzelner fest. In der Geschichte von Nejla Ersoy, die ihren Sohn Ferhad neun Monate nach Tschernobyl zur Welt brachte – ein Kind mit Down-Syndrom und damit kein Einzelfall; radioaktives Jod in der Luft ist wohl in die Keimzellen eingedrungen. Oder die Geschichte von Klaus Zöllner, damals DDR. Er musste mit acht Kumpeln verstrahlte LKW waschen, ehe sie in die BRD weiterfahren durften – er ist er letzte Überlebende der Gruppe. Oder die Geschichte von Olaf Ludwig, dem Radrennfahrer. Er fuhr mit flauem Gefühl zur Friedensfahrt, der Tour de France des Ostens, weil er über Westfernsehen von der Katastrophe wusste. Er gewann das Radrennen und erinnert sich noch an die Sprachregelung, wonach niemand die Floskel vom „strahlenden Sieger“ benutzen durfte.
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