Warum der Kampf gegen Corona in Rhein-Berg aus dem Ruder lief

Den Beitrag von Georg Watzlawek entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung dem Bürgerportal Bergisch Gladbach:

VON GEORG WATZLAWEK*

Rheinisch-Bergischer Kreis | Anfang April schlug die dritte Corona-Welle im Kreishaus ein, innerhalb von zehn Tagen verdreifachte sich die Inzidenz auf 222. Die Welle traf das Team in Lagezentrum und Krisenstab in einer prekären Lage, durch politische Entscheidungen wurde sie dramatisch verschärft. Das zeigte sich rasch in der Statistik, schlug aber auch auf die Kontaktnachverfolgung durch. Jetzt, nachdem das Schlimmste überstanden ist, erläutern die Akteure, wie es dazu kommen konnte.

Kreisdirektor Erik Werdel hat seit vergangener Woche das „vollumfängliche” Mandat, während der offenbar längerfristigen Erkrankung von Landrat Stephan Santelmann die Bekämpfung der Pandemie wieder verantwortlich anzugehen. Nachdem er den seit mehr als einem Jahr bewährten Krisenstab wieder hochgefahren hat stellte er sich jetzt gemeinsam mit zuständigen Dezernent:innen und Führungskräften aus Lagezentrum und Krisenstab einem Pressegespräch, um offene Fragen zu klären – und einen Ausblick zu geben.

Was brachte den Kreis ins Wanken?

Zunächst war Vergangenheitsbewältigung ansagt. Was war Anfang April passiert, dass zunächst die Statistik und dann die gesamte Außendarstellung des Kreises ins Wanken geriet?

Die Antworten gibt Markus Fischer, als Dezernent für den Bereich Gesundheit zuständig und seit Ausbruch der Pandemie auch Leiter des Lagezentrums, das die tägliche Arbeit bei der Corona-Bekämpfung leistet und zwischenzeitlich 140 Köpfe umfasste.

Dezernent Markus Fischer. Foto: RBK

Fischer führt ein ganzes Bündel von Faktoren an.

Da ist erstens die schiere Zahl von täglichen Neuinfektionen, die schon für sich genommen ausreichte, um das Lagezentrum in der Phase des exponentiellen Anstiegs an den Rand der Belastung zu führen.

Da sind zweitens Personalprobleme: Fluktuationen und Abgänge hatten das Personal ausgedünnt. Die Bundeswehr hatte das Kontingent der abgeordneten Soldat:innen zwar erhöht – aber die werden immer noch alle vier Wochen ausgetauscht und müssen immer wieder vom Stammpersonal neu eingearbeitet werden.

Drittens gab es eine IT-Umstellung: Für die digitalen Meldungen der Labore an das Gesundheitsamt wurde Anfang April das bundesweit einheitliche Demis-System eingeführt – was zu einem deutlichen Mehraufwand bei der Bearbeitung der neuen Meldungen führte.

Denn es meldet nicht nur die Neuinfektionen, sondern auf dem gleichen Weg auch Nachtests, um die Virusvariante zu bestimmen, und Wiederholungstests. Im Lagezentrum muss daher mühsam und manuell geklärt werden, welche der Meldungen nun tatsächlich neue Fälle sind – die dann in die Statistik eingehen und nachverfolgt werden müssen.

Viertens häuften sich IT-Pannen. Nicht beim eigenen, selbst entwickelten System des Kreises, betont Fischer, sondern bei Demis, bei der Annahme der Daten durch das Landeszentrum und in einzelnen Laboren.

Das führte zum inzwischen wohlbekannte Effekt: ein immer kleinere Teil der täglichen Fälle konnte umgehend abgearbeitet werden, immer mehr Fälle stauten sich zurück, die Erstmeldungen der Inzidenz wich immer weiter von der realen, nachträglich korrigierten Inzidenz ab.

Und das zu einer Zeit, in der wichtige Schwellenwerte wie die Marken von 200, 165 und 150 unterschritten wurden. Oder nur scheinbar unterschritten wurden.

Warum der Krisenstab nicht reagieren konnte

Normalerweise hätte in diesem Fall der Krisenstab eingegriffen. Dafür ist er grundsätzlich da, verfügt über weitreichende Kompetenzen, setzt die normalen Strukturen und Arbeitszeiten außer Kraft und kann Personal aus allen Bereichen heranziehen, erläuterte Cassandra Stähler, die Geschäftsführerin des Krisenstabs.

Normalerweise gilt das, aber nicht in diesem April. Landrat Stephan Santelmann, der für die Arbeit der Kreisverwaltung politisch verantwortlich ist und über dem Krisenstab steht, ging immer häufiger andere Wege.

Landrat Stephan Santelmann Über die Auseinandersetzung zwischen Santelmann, Werdel und dem Krisenstab über die Aufweichung der ersten Notbremse kurz vor und nach Ostern hatten das Bürgerportal und der Kölner Stadtanzeiger mehrfach berichtet.

Bekannt war auch, dass der Landrat das Impfzentrum bereits im Dezember aus der Verantwortung des Krisenstabs herausgenommen hatte. Aber es gab offenbar mehrere Fälle, in denen der Krisenstab die Verantwortung für Dinge tragen musste, die der Landrat außerhalb des Krisenstabs und gegen den Rat der Fachleute entschieden hatte.

Am 12. April wurde der Konflikt öffentlich, Werdel war nicht mehr bereit, als Krisenstabsleiter Dinge zu verantworten, die er nicht entschieden hatte – und gab diese Funktion ab.

Wie das Chaos überhand nahm

Santelmann übernahm, und das Chaos brach aus. Der Landrat kündigte an, den Krisenstab zu deaktivieren und die Pandemie-Bekämpfung in die normalen Strukturen der Verwaltung zu integrieren.

Zum Entsetzen von großen Teilen der Mitarbeiterschaft. Mehrere Personen aus seinem direkten Umfeld, aus seinem eigenen Büro und aus der Pressestelle ließen sich versetzen oder meldeten sich krank. Der Personalrat führt das in einem Brief, den der Stadt-Anzeiger veröffentlichte, direkt auf den Arbeitsstil Santelmanns zurück.

Zunächst beantwortete der Landrat persönlich Presseanfragen, verschickte Pressemitteilungen mit einem offenen Verteiler, unterstützt von einer ahnungslosen externen Marketingfachkraft. Echte Antworten bekamen die Journalisten dabei nicht, die direkte Kommunikation mit den Bürger:innen auf der hochfrequentierten Facebookseite des Kreises wurde zunächst bunter und verstummte dann.

Die gemeldeten Inzidenzwerte entfernten sich immer weiter von der Realität, und auch die Kontaktaktierung positiver Fälle sowie die Nachverfolgung der Kontakte dauerte immer länger.

Doch dann wurde Landrat Santelmann am 23. April selbst positiv auf das Corona-Virus getestet, unter Quarantäne gestellt und krank geschrieben. Der nach eigenen Angaben milde Verlauf der Erkrankung erwies sich offenbar als hartnäckig, wann Santelmann in den Dienst zurückkehrt ist immer noch unklar.

Wie sich die Sache wendete

Dennoch weigerte sich Santelmann zunächst, seinem gesetzlichen Vertreter, Kreisdirektor Werdel, das volle Mandat zu Bekämpfung der Pandemie zu erteilen. Es dauerte eine gute Woche, bevor der Landrat – inzwischen unter massivem Druck aller Fraktionen und später auch der CDU – am 12. Mai einlenkte. Einen Monat nachdem Werdel den Krisenstab verlassen hatte.

Nun ergriff der Kreisdirektor wieder das Ruder, fuhr den Krisenstab hoch, holte einen Teil der versetzten Kräfte wie die Sprecherin des Krisenstabs und Büroleiterin des Landrats, Birgit Bär zurück.

Kreisdirektor Erik Werdel leitet den Krisenstab, Foto: Joachim Rieger

Wie es voran geht

Diesen Kurs der Stabilisierung wollen Werdel, die zuständigen Dezernenten und der gesamte Krisenstab jetzt fortsetzen. Die Altlasten in der Statistik sind bereits aufgearbeitet, die tägliche Meldung der (zurückgehenden) Fallzahlen läuft wieder reibungslos.

Infizierte Personen werden jetzt wieder – in der Regel – spätestens am Folgetag vom Lagezentrum angerufen, erläutert Dezernent Fischer. Dass es in Einzelfällen dennoch mehrere Tage dauert, könne er allerdings nicht ganz ausschließen.

Und auch das Impfzentrum wurde – zum ersten Mal – in die Strukturen des Krisenstabs eingegliedert. Beim Impftempo hat der Kreis ordentlich aufgeholt, mit einer Impfquote von über 41 Prozent liegt er derzeit in NRW auf Rang sechs der 53 Kommunen. Die Impfung der Prioritätsgruppe zwei soll noch im Mai abgeschlossen werden.

Auch bei der Einbindung von Apps zu Kontaktnachverfolgung, wie der Luca-App, ist der Kreis voran gekommen; die entsprechenden Daten sollen noch in dieser Woche verarbeitet werden können, parallel werden die Rahmenbedingungen für weitere Apps geschaffen.

Eine Umstellung auf das bundesweite Sormas-System könne der Kreis derzeit jedoch noch nicht bewältigen, stellt Dezernent Fischer klar. Aber das sei bei den meisten Gesundheitsämtern in NRW so – und das eigene System sei wenigstens genauso gut, eingespielt und noch dazu flexibler anpassbar.

Inzwischen hat die Kreisverwaltung sogar wieder Luft für Sonderleistungen auf eigene Initiative. In diesen Tagen verschickt sie rund 10.000 Nachweise an alle Personen, die positiv auf Corona getestet worden waren und inzwischen als genesen gelten. Ein Antrag ist nicht nötig, der Nachweis flattert einfach so in den Briefkasten.

*Georg Watzlawek ist Journalist, Volkswirt und Gründer des Bürgerportals Bergisch Gladbach. gwatzlawek@in-gl.de

Beitragsfoto © Claudia-GL (https://commons.wikimedia.org/wiki/Commons:GNU_Free_Documentation_License,_version_1.2)

Kommentare (4) Schreibe einen Kommentar

  1. “Alle gegen Santelmann!” könnte die Überschrift ihres Beitrags lauten.

    Die Aufweichung der NRW-Notbremse Anfang April 2021 war unbestritten einer der Höhepunkte in dieser Beschreibung.
    Doch es fehlt eine entscheidende Ursache für diese fatale Fehlentscheidung. Am Abend des 7. April 2021 haben die acht Bürgermeister*innen der Kommunen im Kreis den Landrat quasi dazu gedrängt die Notbremse mit der “Test-option” auszuhebeln. Vorher wollte der Landrat die Notbremse noch aktivieren. (siehe Presse) Er hat sich aber von den Bürgermeister*innen, allen voran der Bürgermeister aus Bergisch Gladbach und seine Ampelkoalition aus GRÜNEN, SPD, FDP (siehe Presse), überreden lassen. Am nächsten Tag nach der Bürgermeister*innenkonferenz mit dem Landrat hatte der Chef des Krisenstabs seinen Rücktritt angeboten, weil er genau diese Entscheidung ablehnte.

    Bitte genau bleiben bei der Berichterstattung und bitte fragen sie doch auch mal die Bürgermeister*innen im Kreis welchen Anteil sie an diesem Desaster haben…. “eine Panne”?

    Noch wenige Tage zuvor wurde diskutiert, ob Bergisch Gladbach, Wermelskirchen und Burscheid Modellprojekte werden. Die drei Bürgermeister hatte dieses beim Land NRW beantragt und wurden glücklicherweise dort abgelehnt, weil die Kommunen die notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllen konnten. Trotzdem und trotz steigernder Inzidenz wollte man Lockerungen für die Wirtschaft durchsetzen, hat so die Gesundheit und sogar Leben in Gefahr gebracht und die Pandemie unnötig verlängert.

    Hofberichterstattung ist es das zwar noch nicht, aber einseitig auf Santelmann einzuprügeln ist nicht ganz fair. Es gab mehr Beteiligte, denn auch die GRÜNEN und die CDU haben den Landrat bis vor wenige Tagen noch gestützt und verteidigt und Kritiker sogar diffamiert, sie würden die Menschen durch ihre Kritik “verunsichern” und deren Gesundheit “gefährden”. Auch über diese unrühmlicher Rolle dieser beiden Mehrheits-Parteien im Kreistag wird lieber nicht berichtet. … Warum eigentlich nicht?

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    • Grauganz
    • 20.05.21, 22:29 Uhr

    Lieber Tomas, ich verstehe ja, daß Du gerne viele oder fast alle anderen Parteivertreter auf der Anklage- oder mindestens auf der Kritikbank sitzen hättest. Das muß man aus der engeren Parteienlogik heraus vielleicht auch so machen. Ja, Bürgermeister wollten in ihren Städten ein Modell aufziehen. Aber: Alle drei genannten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister haben keinen erfahrenen Krisenstab mit Expertise und Erfahrung an der Seite und alle drei Bürgermeisterinnen und Bürgermeister haben in dieser Causa auch nicht zu entscheiden. Es ist alleine der Landrat, der zu entscheiden hatte und hat. Und er hat entschieden. Gänzlich falsch und fatal. Gegen seine eigenen Leute, gegen seine Experten, gegen die versammelte Erfahrung in der Kreisverwaltung. Das ist das entscheidende Faktum. Es ist gut, daß dieses Faktum ans Licht gekommen ist, durch die Bemühungen von Medien zuvörderst. Erst später auch mit Hilfe von Parteien und Politikern und Verwaltungsmitarbeitern. Und offenbar reihen sich die Fehlentscheidungen aus den letzten Wochen ein in ein offenbar bereits seit längerem beschädigtes Arbeitsklima im Kreishaus, für das nach Auskunft derer, die bislang das Wort ergriffen haben, vor allem auch der Landrat die Verantwortung innehat. Es geht nicht nur um Politik und aktuell falsche Entscheidungen, sondern wahrscheinlich auch um grundlegendere Führungsschwächen und Motovationsverluste. Da hilft der Rundumschlag auf alle anderen Parteien als die Linke nicht wirklich weiter.

    Gruß,

    Wolfgang Horn

    Antworten

  2. Der verlinkte Beitrag geht nicht auf die tatsächlichen Hintergründe ein, sondern sucht nur einen Sündenbock!

    Ich habe keinen Anlass den Landrat “zu verteidigen”. Tatsächlich hat er eine krasse Fehlentscheidung getroffen. Statt den politischen Bürgermeister*innen in den Kreiskommunen nach dem Mund zu reden, hätte er auf seinen Krisenstab und Experten hören sollen. Er trägt die Verantwortung für diesen Fehler, denn er hätte auch anders machen können.

    Natürlich könnte man jetzt aus reinem Opportunismus weiter “Alle auf Santelmann” einschlagen, weil es ja alle anderen auch so machen, nachdem sie ihn sogar vorher in Schutz genommen oder geschont haben. Selbst seine eigenen CDU-Parteikolleg*innen schweigen und verteidigen ihn nicht mehr. Alle versuchen ihre Hände in Unschuld zu waschen und wollen nicht in das Desaster reingezogen werden, obwohl es viel mehr Akteure gab, als der obigen Artikel uns verrät.

    Noch vor wenigen Wochen wurde regelrecht gejubelt, dass die NRW-Notbremse für den Kreis gelockert wurde und so mancher Kolumnist und Kommentator hatte Kritik an den “Modellprojekte” und “Lockerungen mit Test-Option” ignoriert. Damals lobte den “Mainstream” den Landrat dafür, dass er das alles unterstützt hatte. Dann fuhr der Kreis mit diesem Kurs frontal an die Wand und die Kritiker wollte man trotzdem nicht gehört haben. Es war und ist so durchsichtig und heuchlerisch, ….

    Wer alle Aussagen aus dem Kreishaus genau gelesen und auch einige davon selbst gehört hat, hat sicher auch wahrgenommen, dass es tatsächlich auch ein strukturelles Problem im Haus gibt, was letztlich einer zentralen Gründe und Ursachen für das Versagen der Kreisverwaltung war und ist.

    Der Fisch stinkt immer vom Kopf aus, aber es stinken auch die Flossen …. Der Kopf in der Kreisverwaltung besteht nicht nur aus einem Mann, sondern aus dem gesamten Verwaltungsvorstand und den Dezernenten.

    Die Mehrheitskoalition aus CDU/GRÜNE im Kreistag haben die letzten Jahre versäumt wichtige Probleme anzugehen und die Verwaltung zu modernisieren. Nur ein Beispiel ist das “sprichwörtliche” Problem mit der Übermittlung der Daten mit einem Fax, welches dann sogar ausgefallen ist. Außerdem die absolute jahrzehntelange Verfilzung der Kreisverwaltung mit der CDU.

    Wer also nun die gesamte Schuld auf dem Landrat abladen will, greift nicht nur zu kurz, sondern verschont auch noch die anderen Ursachen und Akteure. Jetzt jubelt man lieber einem neuen “Tribun” zu ohne die offenen Fragen Fragen und Probleme wirksam anzugehen . Man muss also tiefer gehen und genauer hinschauen.

    * BTW: Wenn ich in Parteilogik denken würde, würde ich mich “dummpaddelig” und unkritisch der Kampagne “Alle gegen Santelmann” anschließen, denn der ist von der CDU. Das wäre genau das politische Kalkül, was du mir vorwirfst. Doch würde sich damit nichts ändern!

    * P.S.: Andere haben auch Parteibücher und denen kommt das Bashing gerade richtig, …

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    • Heidbüchel
    • 21.05.21, 13:35 Uhr

    Dankeschön Herr Werdel und Team

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