Nominierungen der Kritikerjury: Sparte Kinderbuch
VON MARIE-LOUISE LICHTENBERG

Schon bei den alljährlichen Weihnachtsbesuchen fand Sara Steinar, den Sohn von Mamas bester Freundin Karin, furchtbar. Und nun, da Karin gestorben ist, soll er nicht mehr nur über die Feiertage zu Besuch kommen, sondern bei ihnen dauerhaft ein neues Zuhause finden. Schlimmer noch: Er wird mit Sara in ihrem Zimmer wohnen!
Steinars Einzug bringt das familiäre Zusammenleben komplett durcheinander. Obwohl Sara den Ernst der Lage versteht, kann ihr Herz sich nicht dazu durchringen, Steinar zu mögen. In Saras Bauch wohnt ein „Ich-Halt-Das-Nicht-Mehr-Aus-Tier“, das kratzt und beißt und heraus will. In ihrer Zerrissenheit findet Sara einen ungewöhnlichen Weg, um ihre Gefühle besser kontrollieren zu können: Sie wird zu Steinars großem Bruder – zu Alfred, der mit Steinar spielt, ihn gewinnen lässt und ihm das Lesen beibringt.
Sensibel nehmen Saras Eltern diese neue Identität ihres Kindes an, akzeptieren den Kurzhaarschnitt und die Jungenklamotten. Gleichzeitig aber lassen sie Alfred immer wieder ihre Liebe zu Sara spüren und ebnen ihr damit den Weg, wieder als Sara in der Familie zu leben.
Linde Hagerup hat einen fein gesponnenen psychologischen Kinderroman in knappen, sensiblen Worten verfasst, der durch die in kräftigem Blau und Gelb gehaltenen Scherenschnitte von Felicitas Horstschäfer eine besondere emotionale Tiefe erhält. Gabriele Haefsʼ hervorragende Übersetzung dieser tiefgründigen Verwandlungsgeschichte lässt viele Fragen offen und regt so zum gemeinsamen Nachdenken an.
Linde Hagerup (Text) • Felicitas Horstschäfer (Ill.) • Ein Bruder zu viel • Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs • Gerstenberg • ISBN 978-3-8369-5678-9 • 14,95 € • Ab Neun

400 Kilometer nordnordöstlich von Moskau lebt Frossja mit ihrer Großmutter Aglaja und einigen sprechenden Hühnern in einem alten Bauernhaus aus dem 19. Jahrhundert. Frossjas Eltern sind Geologen und in der Welt unterwegs, während Frossja die Dorfschule besucht, in der nur noch zwei weitere Kinder unterrichtet werden. Sie bezeichnet sich selbst als „waschechtes Bauernweib“, hat das Herz auf dem rechten Fleck und fürchtet sich vor fast nichts.
Als ihre Großmutter vom Dach fällt und für längere Zeit ins Krankenhaus in eine ferne Stadt kommt, muss Frossja den Haushalt allein bewältigen. Unterstützung bekommt sie von Gerassim, dem kaffeesüchtigen, sprechenden Bären, der auch ganz hervorragend singen kann und so das Fortbestehen des kleinen Dorfchores sichert. Als die Sehnsucht Frossja dazu treibt, ihre Großmutter zu besuchen und sich durch unglaubliche Schneemengen bis nach Wologda durchzuschlagen, passiert das Verrückte, das dem Buch zusätzlich eine besondere Note verleiht: Das Haus der Großmutter wird abgebaut und ins Museum für Holzbaukunst transportiert!
Stansilaw Wostokows Kindergeschichte steckt voller skurriler Ideen, selbstbewusster Kinder, liebenswerter Erwachsener und verrückter Verwicklungen, die Thomas Weiler mit viel Sprachwitz aus dem Russischen ins Deutsche übertragen hat. Die Illustrationen von Marija Woronzowa tragen dazu bei, dass dem Roman die märchenhafte Stimmung nie abhandenkommt.
Stanislaw Wostokow (Text) • Marija Woronzowa (Ill.) • Frossja Furchtlos oder von sprechenden Hühnern und verschwindenden Häusern • Aus dem Russischen von Thomas Weiler • Knesebeck Verlag • ISBN 978-3-95728-259-0 •14,00 € • Ab 9 Neun
Die Texte stammen von den jeweiligen Jurys.