Wieder und wieder taucht Yvonne Schwanke nach einem Fund von Unterlagen und Dokumenten in die Geschichte ein und läßt uns Leser des Forum Wermelskirchen teilhaben an ihren Nachforschungen und den Erkenntnissen, die ihre Spuren im Weltdorf Buchholzen, an dessen Rand Wermelskirchen sich befindet, hinterlassen haben. Wir können nur hoffen, daß Yvonne Schwanke noch lange auf Spuren der Vergangenheit trifft und die Geschichten hinter diesen Funden aufspürt und lebendig werden läßt. Danke, Wolfgang Horn
VON YVONNE SCHWANKE
Sie rutschten mir aus dem Boden einer alten, ausgedienten Schublade
entgegen. Postkarten mit schwarz-weißen Motiven, die an unsere Buchholzer Adresse, jedoch an keines meiner damaligen Familienmitglieder adressiert waren, sondern an einen gewissen Otto Babinsky.
Otto Babinsky schien für eine kurze Zeit, und zwar von Januar bis Februar 1939, im Haus meiner Ur-Großeltern gewohnt zu haben. Höchstwahrscheinlich war er im Zuge der Kinderlandverschickung bei meiner Familie untergebracht worden.
Ich schätze Ottos damaliges Alter auf etwa 11-12 Jahre. Er stammte aus Praskowitz an der Elbe. Otto war ein sogenannter “Sudetendeutscher”.
Sudetendeutsche ist eine alternative Bezeichnung der Deutschböhmen, Deutschmährer und Deutschschlesier.
In meinem Hinterkopf rumoren die Erinnerungen alter Erzählungen:
Wurden die Sudetendeutschen nach dem Krieg nicht von den Tschechen
vertrieben?
Als ich in den gängigen Suchforen auf der Suche nach Otto nicht weiter komme, überlege ich, wie sich meine Recherche fortsetzen läßt. Aus purer Verzweiflung google ich seinen Namen und stoße vollkommen unerwartet und überraschend tatsächlich auf eine Spur:
Dank der Geschichten von Lydia Radestock geb. Rosenkranz, der “Oma im Netz”: http://www.prackovice-litochovice.cz/images/lydia/lydia-radestock-prackovice.pdf
Am Ende der Seite 31 erinnert sie sich: “Nach rechts ging es zum Bahnhofs-Wartesaal für alle, denen man etwas vorzuwerfen glaubte oder die für wert befunden wurden, für die neuen Herren zu arbeiten. Sie wurden in der Folge zur Zwangsarbeit im benachbarten Internierungslager Lerchenfeld eingeteilt; die männlichen Jugendlichen (darunter Hugo Fritsch – 14 Jahre, Gustaf Schubert – 17 Jahre, Franz Beck – 17 Jahre, Otto Babinsky – 17 Jahre) jedoch kamen nach Kladno ins Kohlenbergwerk. Alle diese Menschen sollten Grauenhaftes erleben. Wir haben viele von ihnen niemals wieder gesehen, weil sie ermordet wurden oder an ihren Verletzungen, Hunger oder Krankheiten gestorben sind…….” ZITAT ENDE
Oma Lydias Bericht über die Ereignisse während der damaligen Vertreibung lässt mich zutiefst schockiert und erschüttert zurück.
Hitler brachte unbarmherziges Leid in die Welt, und das erlittene Leid der unterdrückten Staaten erzeugte Hass und den Ruf nach Vergeltung.
Nach dem Erlass der Benes-Dekrete, wurde allen Deutschen auf tschechischem Gebiet die Rechte auf Besitz und Aufenthalt aberkannt.
Sie wurden enteignet und vertrieben. Und die Woge des Leids die Hitler und seine Schergen über die Welt brachten, vervielfachte sich zu einem
gigantischen Tsunami, als sich der Hass der Tschechen auf die Sudetendeutschen entlud.
Während ich mich durch diverse Lektüre zur Vertreibung der Sudetendeutschen wühle, wird mir erneut bewußt, wie einfach und gleichzeitig komplex dieses Thema ist:
Die Tschechen wurden von den Nazis unterdrückt, geknechtet, enteignet und getötet. Als die Nazis geschlagen waren, begannen die Tschechen aus Rache die Sudetendeutschen zu unterdrücken, zu knechten, zu enteignen und zu töten. Eine Spirale des Hasses, die erneut unsägliches Leid hervorbrachte.
Solche Erinnerungen sollten niemals in Vergessenheit geraten und besonders all jenen als Zwangslektüre auferlegt werden, die sich genußvoll im Dreck völkischer Überlegenheitsphantasien suhlen.
Im Krieg gab und gibt es keine Sieger.
Nur Opfer.
Zu meiner Bestürzung starb Oma Lydia 2015 im Alter von 92 Jahren.
Ich kann sie also leider nicht mehr fragen, ob sie Otto Babinsky jemals wiedergesehen hat. Frustriert sitze ich vor meinem PC und überlege, wie es weitergehen soll.
Schließlich wende ich mich an das “Forum der Sudetendeutschen”.
Innerhalb weniger Stunden erhalte ich Nachricht von einem freundlichen Ahnenforscher, der meine Anfrage in die Mailingliste des Forums stellt. Er macht mir keine großen Hoffnungen auf weitere Informationen zu Otto, schickt mir dennoch zeitgleich eine Kopie des Hochzeits- und Geburtseintrags von Ottos Mutter.
Die rein sachlichen Angaben in den Registern bestätigen eine meiner Vermutungen, denn Ottos Mutter schrieb: “Nochmals Grüße von deiner Schwester Rosa, mir und meinem Mann…”Die Bezeichnung “meinem Mann” impliziert, dass es sich dabei nicht um Ottos leiblichen Vater handelte. Und die Registereinträge bestätigen tatsächlich, dass Ottos Eltern bereits 1921 getrennt lebten und die Ehe am 13.3.1939 geschieden wurde.
Weitere Informationen aber lassen auf sich warten. Tagelang tut sich nichts. Ich hasse diese Warterei zutiefst. Aber leider gehört es dazu.
Vollkommen unerwartet trifft eine Nachricht aus dem Forum der Sudetendeutschen ein, eine Dame will einen Eintrag zu Otto Babinsky im tschechischen Militärarchiv gefunden haben.
Mein erster Gedanke: “Häh, tschechisches Militärarchiv?!” Die findige Dame ergänzt jedoch ein google-übersetztes Zitat zur Datenbank:
“Die Datenbank enthält hauptsächlich CS Bürger und Landsleute, die in Einheiten der tschechoslowakischen Exilarmee oder als Angehörige anderer alliierter Armeen gedient haben. Es enthält auch Personen, die, obwohl sie eingezogen wurden oder unter verschiedenen Umständen, nur den Nachweis von MS bestanden haben. Militärs im Exil, die aber tatsächlich nicht Militärdienst geleistet haben.”
Irritiert und mit vielen Fragezeichen im Kopf sende ich in englischer Sprache eine Anfrage an das tschechische Militärarchiv.
Fast genau einen Monat später erhalte ich eine freundliche Antwort, in der man sich entschuldigt, leider keine weiteren Informationen über Otto vorliegen zu haben als den beigefügten Anhang; desweiteren rät man mir, mich an das staatliche Archiv in Litomerice/Leitmeritz zu wenden.
Bei dem beigefügten Anhang aus dem Militärarchiv handelt es sich um ein Verhörprotokoll vom 27. September 1945. Otto wurde tatsächlich noch Anfang Dezember 1944 zum militärischen Dienst eingezogen und war Soldat in Ausbildung. “Flieger” steht da auf Deutsch und 1. Beobachtung Ausbildung und Horchkompanie. (1BHK)
Dank des versierten, wandelnden Militärlexikons Tommy Gratza, der mir bei solchen Recherchen stets zuverlässig mit Rat und Tat zur Seite steht, erfahre ich, dass es sich hierbei um Flak Luftwaffen Soldaten handelte, die eine Ausbildung zum Beobachter an den Flugabwehrgeräten und als Horchposten an den Flugerkennungsgeräten bekamen.
Ich sende den Verhörbogen an den freundlichen Ahnenforscher aus dem Sudetenforum. Dieser kontaktiert seinen Kumpel Werner Honal, der des Tschechischen mächtig ist und flugs das gesamte Formular übersetzt.
Den hochinteressanten Vermutungen der beiden folge ich via Email, währenddessen schwinden jedoch meine Hoffnungen auf eine möglichst unkomplizierte Aufklärung zu Ottos Schicksal.
Das oben abgebildete Formular enthält die folgenden Angaben:
Am 27.9.1945 bekam Otto die Krieggefangenennummer 2221 und die Verhörnummer 5357.
Seit dem 20.4.1939 war er Mitglied der Hitlerjugend und wurde am 5.12.1944 zur Ausbildung bei der deutschen Wehrmacht eingezogen.
Im zivilen Leben war er in der Ausbildung zum Buchhalter und ledig.
Ottos Mutter war gebürtige Tschechin, sein Vater war Deutscher.
Er sprach fließend deutsch und gutes tschechisch.
Otto hatte fünf Geschwister: Karl, 20 Jahre alt, Wehrmachtsangehöriger
Rosa, 30 Jahre alt, wohnhaft in Praskowitz
Irma, 25 Jahre alt, verheiratete Schindler, wohnhaft in Praskowitz
Greta, 22 Jahre alt, verheiratete Budweiser, wohnhaft in Praskowitz
Gertrud, 12 Jahre alt.
Der letzte Satz des Verhörbogens besagt: Ich erkläre, dass ich mich freiwillig und ohne jeden Druck zur tschechischen Armee im Ausland anmelde.
Musste Otto, als Wehrmachtsangehöriger, also gar der tschechischen Armee beitreten, um nicht auf der Stelle exekutiert zu werden?
Praskowitz, 7.5.1940
Die besten Pfingstgrüße
sendet Otto Babinsky u. Eltern
Liebe Pflegeeltern!
Wie geht es Euch denn immer?
Hoffentlich seid Ihr alle gesund. Ist Karl schon eingerückt? (Er meinte meinen Opa Karl Hessenbruch.)
Umstehend ist ein Bild vom Hochwasser welches heuer viel Schaden angerichtet hat.
“Eingerückt”… ein Wort, das mich unwillkürlich zusammenzucken läßt.
Dies ist der erste und letzte von Otto selbst verfasste Brief.
Als er diese Zeilen schrieb konnt er nicht ahnen, dass er etwas mehr als 5 Jahre später ins Kohlebergwerk deportiert werden sollte.
Hat er überlebt?
Im Januar 2020 erhalte ich die Antwort des Archives Leitmeritz (Litomerice). Die Dame Ilona antwortet, dass sich in den vorliegenden Unterlagen keine Informationen über das Leben Otto Babinskys nach dem Krieg befinden. Es ist lediglich bekannt, dass die Eltern und die kleine Schwester Gertrud bis 1951 in ihrem Haus in Praskowitz blieben und nicht vertrieben wurden.
Dame Ilona war sogar so freundlich, die Bürgermeisterin von Praskowitz (Prakovice) anzurufen und um Mithilfe zu bitten und rät mir, mich dorthin zu wenden.
Außerdem soll ich das Staatsarchiv in Prag kontaktieren, das Unterlagen bezüglich der Kohlenmine in Kladno bereitstellen könnte.
Mit neuem Elan lege ich los und schreibe auf englisch eine lange Email an die Bürgermeisterin von Praskowitz, die keine 12 Minuten später (!!) antwortet und erklärt, dass sie einige Locals befragen und mit weiteren Informationen auf mich zukommen wird.
Erfreut, aufgeregt und etwas ungeduldig sitze ich vor meinem Laptop und wende mich nun an das Prager Staatsarchiv.
Zwei Wochen später wird mir von dort aus mitgeteilt, dass es keine Unterlagen zu Otto Babinsky im Internierungslager Kladno gibt.
Von einem Bürgermeisterinnen-Feedback bis dato (September 2022) auch keine Spur.
Am 26. Februar 2020 wende ich mich, auf Anraten des freundlichen Herrn Honal, erneut an das tschechische Militärarchiv, um vielleicht doch noch neue Erkenntnisse zu Ottos Verbleib einzuholen.
Und tatsächlich erhalte ich am 2. März 2020 die Infotmation, dass es auf der Rückseite des Verhörbogens einen bisher unbeachtet gebliebenen Zusatz gibt. Der zuständige Militärbeauftragte vermerkte am 27.9.1944 nämlich handschriftlich: “Ich empfehle, ihn nicht zu akzeptieren”.
Vielleicht Ottos Todesurteil.
Über all diese Entwicklungen informiere ich den Ahnenforscher Herrn Heidrich vom Sudetendeutschen Forum. Dieser rät mir, die WAst (Wehrmachtsauskunftstelle) anzuschreiben und Telefonbücher zu durchsuchen.
Am 12.03.2020 erhalte ich das Feedback der WAst:
Es können keine Unterlagen zu Otto Babinsky ermittelt werden.
Es wird mir geraten mich an die Abteilung “Personenbezogene Auskünfte” zu wenden.
September 2022:
Durch die Corona Pandemie war es mir leider bisher nicht möglich
nach Prakovice zu reisen und vor Ort nachzuforschen.
Ein mittlerweile verstorbener Bekannter sagte: “Dieses Kapitel der tschechischen Geschichte ist so dunkel, dass man erst in den letzten Jahren begonnen hat, sich damit auseinanderzusetzen. Der Krieg und der Ruf
nach Rache bringt meist das Schlechteste im Menschen ans Licht. Niemand
wird gerne an die schwärzesten Momente erinnert. Und doch ist es in
diesem Fall so wichtig: man muß die Geschehnisse aufdecken und die Opfer würdigen, um damit umzugehen und abschließen zu können.”
Bis heute keine weitere Spur von Otto und ich habe noch so viele Fragen:
Blieb er in den Minen von Kladno und starb dort?
Kam er überhaupt jemals dort an oder wurde er bereits vorher exekutiert?
Was ist ihm zugestoßen, nachdem Lydia, die Oma im Netz, ihn das letzte Mal sah?
Und während die Schicksale der Opfer und die Gräueltaten der alten Kriege noch nicht aufgeklärt sind, haben bereits neue Kriege begonnen.
Und, wie immer, gebe ich die Recherche nicht auf und nehme Euch virtuell mit, sobald es neue Erkenntnisse gibt.