Nach dem BREXIT braucht die EU einen Neustart

Gastkommentar von Prof. Dr. Paul JJ Welfens, Präsident des Europäischen Instituts für internationale Wirtschaftsbeziehungen (EIIW) an der Bergischen Universität Wuppertal, mit freundlicher Genehmigung des Remscheider kommunalpolitischen imageForums, Waterbölles.

40 Jahre nach dem ersten Ja in einer britischen EU-Volksabstimmung – 1975 mit 2/3-Mehrheit klar positiv – hat das BREXIT-Referendum vom 23. Juni eine knappe Mehrheit für einen EU-Austritt ergeben. Vor allem ältere britische Wähler waren gegen die EU-Integration, zeigten Neigung zu einem Neo-Nationalismus, der auch in anderen EU-Ländern nun expandieren wird. Camerons Rücktritt ist folgerichtig, es kommen nun eine massive Pfund-Abwertung, Inflation und Rezession im Vereinigten Königreich und dann binnen etwa zwei Jahren, nach Verhandlungen, der EU-Austritt von UK. Da die EU 13% der Bevölkerung, 12% der Exporte und 18% des Bruttoinlandsproduktes verliert, muss auch die Eurozone mit einer Abwertung der Währung – außer gegenüber dem Pfund – und möglicherweise auch mit einer Rezession rechnen. Disintegration ist erstmals in der EU ein Fakt und wenn andere Länder folgen sollten, eine ernste Existenzgefahr.

Zudem wird der Populismus in vielen EU-Ländern – und in den USA – weiter zunehmen, denn beim BREXIT-Entscheid sieht man eben auch eine enorme Frustration der Wählerschaft gegenüber den politischen Eliten: Hätte man in Großbritannien über die Abschaffung von Zebrastreifen abgestimmt – bei Cameron-Wahlempfehlung zur Beibehaltung -, dann hätte vermutlich eben eine wütende Wählermehrheit gegen die Zebrastreifen gestimmt; nicht klug, ja lebensgefährlich, aber emotional das Richtige. Als großer Verlierer steht auch die EU-Kommission dar, vor allem der stumme Kommissionschef Juncker, der in einem historischen Moment keinen Mut für eine Rede pro EU in London fand. Derart schwache politische Führung in Brüssel wird man abwählen, früher oder später: Denn wer als Kommissionschef nicht eine ebenso engagierte Rede pro EU-Mitgliedschaft in London halten kann wie Obama, der ist nicht glaubwürdig, nicht wirksam, keine Führungsfigur. Juncker ist schon jetzt historischer UK-EU-Austrittspräsident.

Im Übrigen wird es keine Börsenfusion zwischen London und Frankfurt geben, die Kapitalmarktunion in der EU ist in Gefahr, natürlich sind es auch die liberalen Grundsätze der Wirtschaftspolitik und damit Wohlstand und Stabilität. Das Vereinigte Königreich, Deutschland, die Niederlande und Dänemark als vier traditionell liberale Länder stehen demnächst nicht mehr für eine Blockademehrheit gegen ökonomischen Dirigismus in der EU. Dänemark könnte ohnehin bald Großbritannien als Austrittsland folgen, womöglich auch die Niederlande. Ein EU-Beitritt der Türkei ist nunmehr auch vom Tisch, denn die Angst der regierenden Politiker vor den Populisten wird nun über Jahre das Handeln nationaler Regierungen bestimmen, in Deutschland droht weitere AfD-Expansion.
Außerdem rächt sich das ganze schwache Bild, das die EU in der Eurokrise und bei der Flüchtlingswelle geboten hat – da ist Kanzlerin Merkel durchaus mitverantwortlich für die britische und weltweite Wahrnehmung, dass die EU ein Integrationsclub ohne nachhaltige Ordnung und durchdachtes Krisenmanagement ist. Das Vereinigte Königreich selbst dürfte zerfallen: Das nächste Unabhängigkeitsreferendum in Schottland bald anstehen und wohl dann eine Mehrheit bekommen, wobei die Pro-EU-Wahlergebnisse in Schottland auf einen EU-Beitritt der gut fünf Millionen Schotten hinauslaufen könnten. Die Europäische Union wird politisch destabilisiert, das kostet Wachstum, bringt höhere Zinssätze. Das Thema sicherer Finanzhafen steht wieder neu auf der Agenda, die Schweiz wird eine sehr hohe Aufwertung verzeichnen, der Goldpreis steigen. Zu den möglichen BREXIT-Opfern zählt auch das Projekt TTIP, das geplante transatlantische Freihandelsabkommen EU-USA, das ohne britische Unterstützung in der Europäischen Union vermutlich angesichts der schwachen Pro-Position Deutschlands kaum eine Mehrheit finden wird. In Frankreich besteht für 2017 eine große Gefahr, dass dort die Front-National-Chefin gewählt wird, und dann wäre die EU klinisch tot.

Es droht in Europa der Rückfall ins späte 19. Jahrhundert. Wenn die EU zerfällt, dann steht Deutschland mit zwar guten Institutionen, aber ziemlich ankerlos da – unter dem Druck des AfD-Populismus. Das aus ökonomischer Sicht größte EU-Land wäre bei einem EU-Zerfall bald instabil, die Stabilität in Europa könnte geschwächt werden, ökonomisch, politisch, militärisch. Die führenden Mächte in Europa Ende des 19. Jahrhunderts gaben 4% des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung aus, dahin könnten die großen europäischen Länder zurückgehen. Mit dem BREXIT ist die EU geschwächt, damit auch die NATO – und ein großer stiller Sieger am Rande ist Russlands Putin. All das ist nicht im Interesse der Menschen in der EU, aber Großbritannien hat einen historischen Schritt getan, den man als Fehler sehen kann.

Was liegt da an Entwicklungen hinter, was kommt nun in Großbritannien, was ist nötig an EU-Reformen? Es ist Frage, was eine BREXIT-Mehrheit hervor gebracht hat: Ist der EU-Verdruss bei 80 € Netto-Jahresbeitrag pro Kopf so gigantisch und gut 150 000 Zuwanderern pro Jahr aus EU-Ländern in einem 65-Millionen-Einwohner-Land so gewaltig? Kaum. Es ist offensichtlich, dass einige EU-Vorschriften für die Wirtschaft nervig sind und die EU in der Eurokrise kein gutes Bild abgab; bei der Flüchtlingswelle schon gar nicht. Aber in Wahrheit ging es bei der BREXIT-Frage nur zum Teil um EU-Fragen. Vor allem hat die Bevölkerung dem Politik-Establishment in London die rote Karte zeigen wollen und damit einen seit der Bankenkrise massiv schwelenden Vertrauenskonflikt Wählerschaft zu herrschenden Politikkreisen verdeutlicht. Den Empfehlungen der Regierung will man im Vereinigten Königreich kaum mehr folgen. Zu groß ist die Enttäuschung über die unsägliche Bankenkrise 2007-09 mit großen Job- und Vermögensverlusten, den folgenden massiven Erhöhungen der Staats-Defizitquote plus Schuldenquotenanstieg um 30 Prozentpunkte und den aus Einnahmenot im staatlichen Universitätsbereich erfolgten Verdoppelungen der Studiengebühren. Zugleich erfuhr die Öffentlichkeit viel über gigantische Einkommen von oftmals schlechten Top-Managern einiger Großbanken; und ein Top-Banker fuhr auch noch jahrelang schwarz per Bahn nach London zur Arbeit. Da kam breites Verdruss-Potenzial gegen Fehlentwicklungen zusammen, für das die Mehrheit der Wählerschaft eben die britische Regierung in der Verantwortung sieht. Das gilt auch mit Blick auf den enormen Anstieg des Top 1% der Einkommensbezieher im Vereinigten Königreich im Zeitraum 1990-2010, etwa plus 8%-Punkte, fast soviel wie in den USA mit plus 10% bei den Top 1%. Die Realeinkommen der Median-Einkommensbezieher – sie markieren ein Einkommen auf der Trennlinie zwischen der oberen Hälfte der Einkommensbezieher und den ärmeren unteren 50% – sind 1999-2012 in den USA zurückgegangen, zeitweise in Teilen Großbritanniens auch. Die EU-Kommission ist gefordert, jetzt ein Reformpaket aufzusetzen; Richtung politische Union wären die Weichen zu stellen. Weniger EU-Bürokratie, aber mehr Kooperation mit größerem EU-Haushalt: Bei Infrastruktur, Verteidigung, Innovationsförderung.

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