Es ist schon bemerkenswert, mit welcher Leichtigkeit manche Ökonomen meinen, ältere Menschen in Deutschland „in die Pflicht“ nehmen zu müssen. Herr Fratzscher fordert ein verpflichtendes soziales Jahr für Rentner – als ob Millionen von ihnen nicht längst seit Jahrzehnten tagtäglich gesellschaftliche Aufgaben übernehmen würden. (Marcel Fratzscher ist ein deutscher Ökonom, Politikberater und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist seit 2013 Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.)
Wer ernsthaft glaubt, Rentner müssten erst durch eine staatliche Verordnung zu mehr Solidarität gezwungen werden, der hat entweder noch nie einen Blick in die Ehrenamtslandschaft geworfen – oder er blendet sie bewusst aus.
Allein hier in Wermelskirchen würde ohne die vielen Engagierten im Rentenalter das Vereinsleben zusammenbrechen: keine Trainer mehr im Sport, keine Fahrdienste für Bedürftige, keine Reparatur-Cafés, keine Sprach- und Leseförderung. Auch die Stadt selbst schreibt auf ihrer Ehrenamtsseite sehr klar: Ohne dieses Engagement wäre das gesellschaftliche Leben ärmer, kälter und unsozialer. . (https://www.wermelskirchen.de/soziales-gesellschaft/ehrenamt)
Die Wahrheit ist: Unsere Gesellschaft scheitert nicht am mangelnden Einsatz der Alten. Sie scheitert daran, dass Arbeit für viele Jüngere und Mittlere längst nicht mehr zum Leben reicht. Menschen rackern sich ab, zahlen Miete, Benzin und Strom, und stellen am Monatsende trotzdem fest, dass nichts übrig bleibt. Und noch schlimmer: Wer acht Stunden arbeitet, dazu stundenlange Wege zur Arbeit in Kauf nehmen muss oder sogar von Arbeitgebern verlangt bekommt, flexibel und ständig verfügbar zu sein, hat überhaupt keine Chance, sich ehrenamtlich zu engagieren. Wie soll jemand, der abends müde von langen Arbeitswegen nach Hause kommt, am Wochenende noch eine Bambini-Mannschaft trainieren, in der Tafel helfen oder im Verein Verantwortung übernehmen? Das Ehrenamt ist längst dort blockiert, wo Erwerbsarbeit alle Zeit und Kraft frisst. Genau das aber wird durch Vorschläge wie das „soziale Pflichtjahr“ verschleiert: Man schiebt die Verantwortung bequem auf eine Generation, die ohnehin schon einen Löwenanteil trägt – als Ehrenamtliche, als pflegende Angehörige, als Großeltern, die das System der Kinderbetreuung überhaupt erst am Laufen halten.
Das wirklich Unsoziale ist nicht, dass Rentner angeblich zu wenig leisten. Das Unsoziale ist, dass Politik und Gesellschaft sich immer stärker an der Logik von Leistung, Stärke und Erfolg orientieren – und die Schwächeren dabei auf der Strecke bleiben. Wenn nur noch zählt, was einer „bringt“, dann ist das Ende des sozialen Zusammenhalts längst eingeläutet.
Statt Rentner mit einer Pflicht zu gängeln, bräuchten wir eine Pflicht für die ganze Gesellschaft: eine Pflicht, wieder mehr aufeinander zu achten. Eine Pflicht, das Soziale höher zu stellen als den Profit. Eine Pflicht, den Wert des Menschen nicht an seiner Produktivität zu messen.
Wer Rentner zu einem „Pflichtjahr“ zwingen will, der verkennt nicht nur die Realität, er verspielt auch Vertrauen. Vertrauen zwischen den Generationen, Vertrauen in die Politik und letztlich Vertrauen in den Sinn von Gemeinschaft.
Die Lösung ist nicht ein Zwangsdienst für Ältere.
Die Lösung ist ein neuer Gemeinsinn – für alle.
Hinweis: Bild erstellt mit KI (Canva)
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