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  • Der Tourist und der Fischer

    Der Tourist und der Fischer

    Wir leben in einer Zeit, in der alles immer ein biss­chen mehr sein soll. Mehr Leis­tung, mehr Erfolg, mehr Tem­po. Selbst die Pau­sen müs­sen effi­zi­ent sein. „Höher, schnel­ler, wei­ter“ – das klingt nach Fort­schritt, nach Bewe­gung, nach Zukunft. Doch oft ver­ges­sen wir, dass Wachs­tum auch Gren­zen kennt – und dass Still­stand nicht immer Rück­schritt ist.

    Viel­leicht ist die wah­re Kunst unse­rer Zeit nicht, immer mehr zu schaf­fen, son­dern wie­der zu spü­ren, was genug ist. Lang­sa­mer zu wer­den, um kla­rer zu sehen. Denn das, was zählt, lässt sich sel­ten in Zah­len mes­sen.

    Hein­rich Böll beschrieb es in sei­ner “Anek­do­te zur Sen­kung der Arbeits­mo­ral” schon zum Tag der Arbeit am 1. Mai 1963

    Zusam­men­fas­sung gefun­den bei veritas.at:

    Hein­rich Böll
    Anek­do­te zur Sen­kung der Arbeits­mo­ral

    In einem Hafen an einer west­li­chen Küs­te Euro­pas liegt ein ärm­lich geklei­de­ter Mann in sei­nem Fischer­boot und döst. Ein schick ange­zo­ge­ner Tou­rist legt eben einen neu­en Farb­film in sei­nen Foto­ap­pa­rat, um das idyl­li­sche Bild zu foto­gra­fie­ren: blau­er Him­mel, grü­ne See mit fried­li­chen schnee­wei­ßen Wel­len­käm­men, schwar­zes Boot, rote Fischer­müt­ze. Klick. Noch ein­mal: klick, und da aller guten Din­ge drei sind, und sicher sicher ist, ein drit­tes Mal: klick. Das sprö­de, fast feind­se­li­ge Geräusch weckt den dösen­den Fischer, der sich schläf­rig auf­rich­tet, schläf­rig nach sei­ner Ziga­ret­ten­schach­tel angelt, aber bevor er das Gesuch­te gefun­den, hat ihm der eif­ri­ge Tou­rist schon eine Schach­tel vor die Nase gehal­ten, ihm die Ziga­ret­te nicht gera­de in den Mund gesteckt, aber in die Hand gelegt, und ein vier­tes Klick, das des Feu­er­zeu­ges, schließt die eil­fer­ti­ge Höf­lich­keit ab. Durch jenes kaum mess­ba­re, nie nach­weis­ba­re Zuviel an flin­ker Höf­lich­keit ist eine gereiz­te Ver­le­gen­heit ent­stan­den, die der Tou­rist – der Lan­des­spra­che mäch­tig – durch ein Gespräch zu über­brü­cken ver­sucht.

    „Sie wer­den heu­te einen guten Fang machen.“

    Kopf­schüt­teln des Fischers.

    „Aber man hat mir gesagt, dass das Wet­ter güns­tig ist.“

    Kopf­ni­cken des Fischers.

    „Sie wer­den also nicht aus­fah­ren?“

    Kopf­schüt­teln des Fischers, stei­gen­de Ner­vo­si­tät des Tou­ris­ten. Gewiss liegt ihm das Wohl des ärm­lich geklei­de­ten Men­schen am Her­zen, nagt an ihm die Trau­er über die ver­pass­te Gele­gen­heit.

    „Oh, Sie füh­len sich nicht wohl?“

    End­lich geht der Fischer von der Zei­chen­spra­che zum wahr­haft gespro­che­nen Wort über. 

    „Ich füh­le mich groß­ar­tig“, sagt er. „Ich habe mich nie bes­ser gefühlt.“ 

    Er steht auf, reckt sich, als woll­te er demons­trie­ren, wie ath­le­tisch er gebaut ist. 

    „Ich füh­le mich phan­tas­tisch.“

    Der Gesichts­aus­druck des Tou­ris­ten wird immer unglück­li­cher, er kann die Fra­ge nicht mehr unter­drü­cken, die ihm sozu­sa­gen das Herz zu spren­gen droht: 

    „Aber war­um fah­ren Sie dann nicht aus?“

    Die Ant­wort kommt prompt und knapp. 

    „Weil ich heu­te mor­gen schon aus­ge­fah­ren bin.“

    „War der Fang gut?“

    „Er war so gut, dass ich nicht noch ein­mal aus­zu­fah­ren brau­che, ich habe vier Hum­mer in mei­nen Kör­ben gehabt, fast zwei Dut­zend Makre­len gefan­gen …“

    Der Fischer, end­lich erwacht, taut jetzt auf und klopft dem Tou­ris­ten beru­hi­gend auf die Schul­tern. Des­sen besorg­ter Gesichts­aus­druck erscheint ihm als ein Aus­druck zwar unan­ge­brach­ter, doch rüh­ren­der Küm­mer­nis.

    „Ich habe sogar für mor­gen und über­mor­gen genug“, sagt er, um des Frem­den See­le zu erleich­tern. „Rau­chen Sie eine von mei­nen?“

    „ Ja, dan­ke.“

    Ziga­ret­ten wer­den in Mün­der gesteckt, ein fünf­tes Klick, der Frem­de setzt sich kopf­schüt­telnd auf den Boots­rand, legt die Kame­ra aus der Hand, denn er braucht jetzt bei­de Hän­de, um sei­ner Rede Nach­druck zu ver­lei­hen. „Ich will mich ja nicht in Ihre per­sön­li­chen Ange­le­gen­hei­ten mischen“, sagt er, „aber stel­len Sie sich mal vor, Sie füh­ren heu­te ein zwei­tes, ein drit­tes, viel­leicht sogar ein vier­tes Mal aus, und Sie wür­den drei, vier, fünf, viel­leicht gar zehn Dut­zend Makre­len fan­gen … stel­len Sie sich das mal vor .“

    Der Fischer nickt.

    „Sie wür­den“, fährt der Tou­rist fort, „nicht nur heu­te, son­dern mor­gen, über­mor­gen, ja, an jedem güns­ti­gen Tag zwei‑, drei­mal, viel­leicht vier­mal aus­fah­ren – wis­sen Sie, was gesche­hen wür­de?“

    Der Fischer schüt­telt den Kopf.

    „Sie wür­den sich spä­tes­tens in einem Jahr einen Motor kau­fen kön­nen, in zwei Jah­ren ein zwei­tes Boot, in drei oder vier Jah­ren könn­ten Sie viel­leicht einen klei­nen Kut­ter haben, mit zwei Boo­ten oder dem Kut­ter wür­den Sie natür­lich viel mehr fan­gen – eines Tages wür­den Sie zwei Kut­ter haben, Sie wür­den …“, die Begeis­te­rung ver­schlägt ihm für ein paar Augen­bli­cke die Stim­me, „Sie wür­den ein klei­nes Kühl­haus bau­en, viel­leicht eine Räu­che­rei, spä­ter eine Mari­na­den­fa­brik, mit einem eige­nen Hub­schrau­ber rund­flie­gen, die Fisch­schwär­me aus­ma­chen und Ihren Kut­tern per Funk Anwei­sun­gen geben, Sie könn­ten die Lachs­rech­te erwer­ben, ein Fisch­re­stau­rant eröff­nen, den Hum­mer ohne Zwi­schen­händ­ler direkt nach Paris expor­tie­ren – und dann …“, wie­der ver­schlägt die Begeis­te­rung dem Frem­den die Spra­che. Kopf­schüt­telnd, im tiefs­ten Her­zen betrübt, sei­ner Urlaubs­freu­de schon fast ver­lus­tig, blickt er auf die fried­lich her­ein­rol­len­de Flut, in der die unge­fan­ge­nen Fische mun­ter sprin­gen.

    „Und dann“, sagt er, aber wie­der ver­schlägt ihm die Erre­gung die Spra­che. Der Fischer klopft ihm auf den Rücken, wie einem Kind, das sich ver­schluckt hat. „Was dann?“, fragt er lei­se.

    „Dann“, sagt der Frem­de mit stil­ler Begeis­te­rung, „dann könn­ten Sie beru­higt hier im Hafen sit­zen, in der Son­ne dösen – und auf das herr­li­che Meer bli­cken.“

    „Aber das tue ich ja schon jetzt“, sagt der Fischer, „ich sit­ze beru­higt am Hafen und döse, nur Ihr Kli­cken hat mich dabei gestört.“

    Tat­säch­lich zog der sol­cher­lei belehr­te Tou­rist nach­denk­lich von dan­nen, denn frü­her hat­te er auch ein­mal geglaubt, er arbei­te, um eines Tages ein­mal nicht mehr arbei­ten zu müs­sen, und es blieb kei­ne Spur von Mit­leid mit dem ärm­lich geklei­de­ten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid.

    (Hein­rich Böll: Anek­do­te zur Sen­kung der Arbeits­mo­ral. In: Robert C. Con­rad (Hg.): Hein­rich Böll. Köl­ner Aus­ga­be. Bd. 12. 1959–1963. ©2008 by Ver­lag Kie­pen­heu­er & Witsch GmbH & Co. KG, Köln)

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