Ein persönlicher Montagmorgen in Wermelskirchen
von Philipp Scholz und Klaus Ulinski
Montagmorgen, 6:30 Uhr. Es ist kalt, noch dunkel. Und ich sitze auf der steinernen Eingangstreppe der orthopädischen Praxis an der Oberen Remscheider Straße. Die Tür geschlossen, das Licht aus, die Rollladen sind noch runtergelassen. Ich sitze nicht für mich hier – sondern für meine 86-jährige Schwiegermutter.
Sie hat das ganze Wochenende über starke Rückenschmerzen gehabt. Der Hausarzt? Voll. Die Notfallpraxis? Keine Orthopädie. Das Krankenhaus? Stundenlange Wartezeit für die falsche Fachrichtung. Und beim hiesigen Orthopäden heißt es:
„Morgens früh behandeln wir maximal zehn Notfälle. Wer zuerst kommt, wird zuerst behandelt.“
Für meine Schwiegermutter ist so etwas nicht mehr machbar. Also sitze ich hier. Auf der kalten Treppe. Und während ich dort sitze, taucht schon die nächste Realität auf: Die ersten Leidenden trudeln ein. Ältere, Jüngere, manche mit Schmerzen, die man schon sehen kann, bevor sie ein Wort sagen. Bis 7:00 Uhr stehen zehn Leute da. Und dann kommt ein älterer Mann, die Nummer 11. Er schaut resigniert, murmelt „Das wird nichts mehr“ – und geht wieder. Langsam. Mit Schmerzen.
In diesem Moment bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Mir geht es ja gut. Ich sitze hier gesund, ohne Beschwerden, aber mit der „Wartenummer 1“.
Um die Zeit zu überbrücken, lese ich im Forum Wermelskirchen den Beitrag von Philipp Scholz
„Gefahr und Gewalt im Gesundheitswesen – physische und psychische Belastung“
und frage mich: Warum werden Menschen so aggressiv? Warum lassen manche ihren Frust an denen aus, die helfen wollen?
Aber wenn man morgens um 6:30 Uhr auf einer Treppe sitzen muss, in einem der reichsten Länder der Welt, nur um medizinische Versorgung sicherzustellen – ist das nicht schon Ausdruck purer Hilflosigkeit? Ist es nicht verständlich, dass das Menschen wütend, verzweifelt und manchmal auch ungerecht macht? Wenn ich so darüber nachdenke: Ja – mich macht das wütend. Und mich macht das ratlos.
Als meine Schwiegermutter eintrifft, dankbar, dass ich ihr den Platz gesichert habe, schäme ich mich fast. Alle sehen, dass ich gesund bin. Und meine Schwiegermutter, diejenige mit Schmerzen, profitiert von meinem Platz. Kurz darauf öffnet sich die Tür. Die Sprechstundenhilfe kommt heraus – irgendwie schon sichtlich gestresst und mürrisch. Und ich sitze da und denke:
Wie konnte es so weit kommen?
Die eigentlichen Ursachen liegen tiefer
Viele Menschen wissen nicht, dass die Zahl der Fachärzte in Deutschland streng reguliert ist. Grundlage dafür ist die sogenannte Bedarfsplanung, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G‑BA) in der Bedarfsplanungs-Richtlinie(§ 99 SGB V) festgelegt wird und bestimmt, wie viele Ärztinnen und Ärzte einer bestimmten Fachrichtung in einer Region zugelassen werden dürfen. Ergänzt wird dies durch Quotenregelungen, die nicht nur die Gesamtzahl, sondern auch die Verteilung innerhalb einzelner Facharztgruppen steuern. Diese Regelung definiert bundeseinheitlich die Planungsbereiche, Arztgruppen und Verhältniszahlen (Einwohner pro Arzt), um eine gleichmäßige und bedarfsgerechte ambulante Versorgung sicherzustellen.
Formal gilt zwar der Rheinisch-Bergische Kreis seit Jahren als „ausreichend versorgt“, dennoch zeigen Analysen (u. a. Gutachten Bergisches RheinLand) lokale Engpässe, insbesondere in Wermelskirchen (s. hierzu auch RGA v. 06.02.25). In der Realität sitzen hier Menschen im Morgengrauen auf kalten Treppen, weil sie sonst kaum eine Chance auf eine orthopädische Behandlung haben. 1
Gleichzeitig wächst der Druck im gesamten System. Es gibt immer mehr ältere Menschen mit einem höheren medizinischen Versorgungsbedarf, während medizinische Fachangestellte häufig überlastet und schlecht bezahlt sind. Das komplexe Abrechnungssystem bindet Ärztinnen und Ärzte an bürokratische Aufgaben, statt ihnen Zeit für die Behandlung zu lassen. Nachwuchs- und Facharztförderung reichen vielerorts nicht aus, und es fehlen Anreize, neue Kassenzulassungen zu schaffen oder bestehende auszubauen.
So stehen wir als Patientinnen und Patienten buchstäblich zwischen allen Stühlen: wartend, hoffend, frustriert. Und manchmal auch wütend – nicht aus Bosheit, sondern weil man sich im eigenen Gesundheitssystem ausgeliefert fühlt.
Meine Schlussfolgerung aus diesem Morgen
Das Problem ist nicht der einzelne Arzt.
Nicht die Sprechstundenhilfe.
Nicht die Patienten.
Das System ist krank.
Es macht die Helfenden kaputt.
Es lässt die Kranken verzweifeln.
Es bringt Menschen dazu, morgens im Dunkeln um Behandlungsplätze zu kämpfen.
Heute hatte meine Schwiegermutter Glück. Andere nicht. Und das darf in einem Land wie Deutschland nicht normal sein.
Lesetipp zu Vertiefung: Heute Morgen, am 15.11.2025 im RedationsNetzwerk Deutschland zu lesen:
https://www.rnd.de/wirtschaft/warum-die-wartezeit-auf-arzttermine-so-unterschiedlich-ist-und-was-patienten-tun-koennen-JSKJLP37W5HZPNB46ARYBYL6QA.html
- s. hierzu: Drucksache 16/11081, Seite 15 – https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD16-11081.pdf?
und https://www.lzg.nrw.de/versorgung/vers_strukt/bedarfsplanung_dashboard/
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Foto: Oktay Bahar Instagramm: https://www.instagram.com/oktimusprime.89/


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