Post von Paul (1 von 3)

Wir ver­öf­fent­li­chen hier eine wah­re Erzäh­lung von Yvonne Schwan­ke, die sie bereits im Sep­tem­ber 2019 im dama­li­gen Forum Wer­mels­kir­chen ver­öf­fent­licht hat­te. Die­se Geschich­te soll nicht in Ver­ges­sen­heit gera­ten – für alle, die sie ken­nen, als Erin­ne­rung, und für alle, die sie noch nicht ken­nen, als Ein­la­dung zum Wei­ter­le­sen.

Aus dem Tagebuch einer kniffligen historischen Recherche

VON YVONNE SCHWANKE

Sonn­tag, 1. Sep­tem­ber 2019

Heu­te fand ich im hin­ters­ten Win­kel unse­res Abstell­raums einen alten Kar­ton vol­ler uralter Brief­um­schlä­ge: Ver­lo­bungs­gra­tu­la­tio­nen, Todes­an­zei­gen, Bei­leids­be­kun­dun­gen, Hoch­zeits- und Sil­ber­hoch­zeits­glück­wün­sche und bun­te Gruß­kar­ten aus den Jah­ren 1909–1956.

Und zwi­schen all die­sen uralten Lebens­er­eig­nis­sen ent­deck­te ich les­ba­re Feld­post­brie­fe (bis auf einen, der in Süt­ter­lin geschrie­ben ist) aus den Jah­ren 1916–1918. Ich sor­tier­te die­se chro­no­lo­gisch und begann zu lesen: Und so lern­te ich Paul ken­nen. Paul, der, in der Mit­te des ers­ten Welt­krie­ges, in rus­si­sche Kriegs­ge­fan­gen­schaft geriet. Pauls Zei­len pack­ten mich, sogen mich ein, mach­ten die Ver­gan­gen­heit gegen­wär­tig. Ich folg­te ihm durch die ste­ti­ge Unge­wiss­heit, die Schmer­zen, die Wut, den Zorn, die Sehn­sucht, die Hoff­nung, die Irr­tü­mer und die Ver­zweif­lung in und zwi­schen sei­nen Zei­len. Pauls Zei­len brach­ten mich zum Wei­nen. 

Mein Mann fand mich schluch­zend in mei­ner Lese-Ecke und als er frag­te, was denn los sei, ant­wor­te­te ich: „Ich weiß nicht, ob Paul aus dem Krieg zurück­ge­kehrt ist!“ „Wer zum Teu­fel ist Paul?!“ „Der Papa von Tan­te Hil­de.“ „Wer ist Tan­te Hil­de?“ „Die hast Du nicht mehr ken­nen­ge­lernt …“, sag­te ich schnie­fend und beschloß, mehr über Paul her­aus­zu­fin­den. 

In den nächs­ten Stun­den ver­grub ich mich in Schwarz-Weiß Fotos, Kriegs­post vom Ur-Opa aus dem Ers­ten und von Opa aus dem Zwei­ten Welt­krieg. Aber wei­te­re Brie­fe von Paul oder gar eine Abbil­dung? Fehl­an­zei­ge.

Wegen der über­all her­um­lie­gen­den Schwarz-Weiß-Fotos frag­te mich mei­ne Toch­ter Abby, ob die Welt denn frü­her schwarz-weiß gewe­sen und ab wann sie denn bunt gewor­den sei. So kind­lich naiv die­se Fra­ge klingt, so bringt sie doch auf den Punkt, wel­chen Effekt alte schwarz-wei­ße Foto­gra­fien und Fil­me auf uns haben: Sie schie­ben sich wie ein Unwirk­lich­keits­fil­ter zwi­schen die Gegen­wart und die Ver­gan­gen­heit. Die Per­so­nen und Gesich­ter in schwarz-weiß-sepia mit ihren mar­tia­li­schen Gesichts­aus­drü­cken wir­ken streng und mas­ken­haft und die Bewe­gun­gen in alten Schwarz-Weiß-Fil­men unge­lenk und sur­re­al. Das erleich­tert uns die Abgren­zung und trägt dazu bei, dass vie­le Erkennt­nis­se und Gescheh­nis­se aus der Ver­gan­gen­heit ver­blas­sen, weil „schwarz-weiß-sepia“ als nicht real wahr­ge­nom­men wird. Wir ver­ges­sen, dass zu jeder Zeit die Men­schen in bunt gelebt und geliebt haben, und dass das Gras damals genau­so grün und der Him­mel genau­so blau waren wie heu­te. Auch Pauls Brie­fe wur­den von kei­ner unwirk­li­chen schwarz-wei­ßen Kriegs­fo­to­gra­fie geschrie­ben. Hier schrieb ein leben­di­ger, bun­ter Mensch vol­ler Emo­tio­nen und Leben. 

Ich will ver­su­chen, sein Schick­sal „nach­zu­co­lo­rie­ren“, und zwi­schen sei­nen Brief­zei­len gele­gent­lich ergän­zen, was zu die­ser Zeit poli­tisch in Russ­land geschah. Die­sen Schatz und alles, was nach sei­ner Ent­de­ckung geschah, geschieht und gesche­hen wird, möch­te ich mit den Lesern tei­len, damit Paul nicht ver­ges­sen wird. (Die nach­fol­gen­den Brief­kar­ten ent­deck­te ich übri­gens nicht alle an einem ein­zi­gen Tag. Doch davon wird spä­ter noch die Rede sein.)

Alles wei­te­re hört ihr nun von ihm selbst: 

Post von Paul

Am 23. Febru­ar 1917
Febru­ar­re­vo­lu­ti­on in Petro­grad … Anfän­ge der rus­si­schen Revo­lu­ti­on

3. März 1917
Rück­tritt des Zaren
12.März 1917 Pro­vi­so­ri­sche Regie­rung unter Lwow (Dop­pel­herr­schaft)

BRIEF GEFUNDEN AM 5.9

BRIEF GEFUNDEN AM 5.9

BRIEF GEFUNDEN AM 5.9

BRIEF GEFUNDEN AM 6.9.

24./25.Oktober 1917
Sturm auf das Win­ter­pa­lais. Revo­lu­ti­on in Petro­grad: Die Revo­lu­tio­nä­re über­neh­men die Macht.
26. Okto­ber 1917
Gesamt­rus­si­scher Sowjet­kon­gress: Rat der Volks­kom­mis­sa­re über­nimmt die Regie­rungs­ge­walt

„Ple­nnys“, abge­lei­tet von dem rus­si­schen Wort „Woenn­o­p­le­nnyi“, bedeu­tet „Kriegs­ge­fan­ge­ne“.

Auf­grund der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on wird Russ­land zu einer kom­mu­nis­ti­schen Dik­ta­tur und been­det für sich den Ers­ten Welt­krieg.

Am 15. Dezem­ber 1917 wird daher der Waf­fen­still­stand zwi­schen Sowjet­russ­land und den Mit­tel­mäch­ten (Deutsch­land, Öster­reich-Ungarn, Osma­ni­sches Reich und Bul­ga­ri­en) ver­ein­bart.

Am 22. Dezem­ber 1917 begin­nen die Frie­dens­ver­hand­lun­gen in Brest-Litowsk.
Am 6. Janu­ar 1918 wird die gewähl­te ver­fas­sungs­ge­ben­de Ver­fas­sung durch die Bol­sche­wis­ten auf­ge­löst.
Am 15. Janu­ar 1918 grün­det Leo Trotz­ki die Rote Armee. Der rus­si­sche Bür­ger­krieg ist in vol­lem Gan­ge und Paul als Kriegs­ge­fan­ge­ner unfrei­wil­lig mit­ten­drin. 

BRIEF GEFUNDEN AM 6.9.


Dies scheint Pauls letz­te Kar­te gewe­sen zu sein. Sein Schick­sal läßt mich nicht los. Ich habe 1000 Fra­gen.

Sonn­tag, 2. Sep­tem­ber 2019

Die Wich­tigs­te aber: Kehr­te Paul er aus dem Krieg zurück? Was ist mit ihm gesche­hen? Bekannt ist: Paul war der Vater mei­ner Tan­te Hil­de­gard aus Wip­per­fürth. Auch bekannt: Hil­de­gard war nur mei­ne Nenn-Tan­te. Die genaue ver­wandt­schaft­li­che Bezeich­nung ist mir noch nicht klar. 

Im Inter­net fin­de ich zunächst nichts, was mich nen­nens­wert wei­ter­bringt. Vie­le Infor­ma­ti­ons­por­ta­le ver­lan­gen für erwei­ter­te Recher­che eine bezahl­te Mit­glied­schaft. 

Mei­ne Freun­din „Uti“ Ute Kel­ler, lei­den­schaft­li­che Hob­by-Genea­lo­gin, unter­stützt mich bei der Suche nach Paul, der mit Nach­na­men Saar­mann hieß. Sie fin­det gleich meh­re­re Ein­trä­ge zu Paul Saar­mann in den Ver­lust­lis­ten des ers­ten Welt­krie­ges. Aber der gefun­de­ne Paul soll aus Fürs­ten­wal­de stam­men, nicht aus Wip­per­fürth. Ver­wir­rend. Die Recher­che geht wei­ter, denn ich wei­ge­re mich, Paul ein­fach auf­zu­ge­ben. 

Mon­tag, 2. Sep­tem­ber 2019

Habe Pauls in Süt­ter­lin geschrie­be­ne Kar­te von der genia­len 90jährigen Ruth Koch über­set­zen las­sen. Wie­der ein Stück wei­ter in Sachen „Post von Paul“. 

Diens­tag, 3. Sep­tem­ber 2019

Ich sen­de eine Per­so­nen­stands­an­fra­ge an das Archiv in Wip­per­fürth und bin über die schnel­le Reak­ti­on der freund­li­chen Mit­ar­bei­te­rin posi­tiv über­rascht. Das Ergeb­nis ist jedoch ernüch­ternd: „Aus den Per­so­nen­stands­re­gis­tern Wip­per­fürth geht her­vor, dass der Glas­blä­ser Gus­tav Paul Saar­mann, geb. zu Fürstenwalde/Lebus, Gefrei­ter der 3. Kom­pa­nie des Reser­ve-Infan­te­rie-Regi­ments Nr. 65, am 20.08.1919 im Laza­rett II in Omsk in Sibi­ri­en „an Krank­heit“ ver­stor­ben ist.“

Es war also der rich­ti­ge Paul, den wir in den Ver­lust­lis­ten auf­ge­trie­ben hat­ten. Aber es ist auch klar, dass Paul nicht mehr nach Hau­se kam. Wie mögen die letz­ten zwei Jah­re sei­nes Lebens wohl für ihn gewe­sen sein? Sein Schick­sal macht mich trau­rig, obwohl seit sei­nem Tod, fast auf den Tag, schon 100 Jah­re ver­gan­gen sind.

Paul, der eigent­lich Glas­blä­ser war, muss­te als Gefrei­ter der Reser­ve in den Krieg zie­hen und starb in der Frem­de. Er hin­ter­ließ Frau und Kind. Und er wur­de nur 34 Jah­re alt. Neue Fra­ge: Was macht ein Glas­blä­ser aus Fürs­ten­wal­de in Wip­per­fürth?

Don­ners­tag 5. Sep­tem­ber 2019

Mei­ne Mut­ter hat mir eine rots­am­te­ne Kis­te mit alten Schwarz-Weiß-Fotos und eini­gen Doku­men­ten mit­ge­bracht, dar­un­ter erken­ne ich drei wei­te­re Kar­ten von Paul! Ich traue mei­nen Augen kaum und durch­su­che Mamas Kel­ler, fin­de jedoch kei­ne wei­te­ren Anhalts­punk­te mehr. Ich füge die Brief­tex­te chro­no­lo­gisch zusam­men. Pauls Situa­ti­on ver­dich­tet sich wei­ter; es zeich­net sich ein trost­lo­ses Bild vol­ler Ver­zweif­lung, Hun­ger, Schmer­zen, Heim­weh und Unge­wiß­heit ab. Es macht mich trau­rig. Und ist gleich­zei­tig Ansporn, wei­ter­zu­for­schen. 

Habe heu­te eine Erklä­rung dafür gefun­den was den Gläs­blä­ser Paul aus Fürs­ten­wal­de nach Wip­per­fürth gezo­gen haben könn­te: das Ber­gi­sche Land war vor dem zwei­ten Welt­krieg so etwas wie die Hoch­burg der Glas­blä­ser­kunst in Deutsch­land. Hat­te ich echt nicht auf dem Schirm. Wie­der was gelernt.
Quel­le

Frei­tag, 6. Sep­tem­ber 2019

Es ist 7 Uhr in der Frü­he, als ich zu mei­nem Memo­ra­bi­li­en-Schränk­chen gehe, in dem ich uralte Stamm­bü­cher, Lie­der­bü­cher, Fotos, Bücher von Groß­el­tern und Ur-Groß­el­tern auf­be­wah­re. Ich kann nicht sagen, war­um, aber einem Impuls fol­gend, grei­fe ich nach dem „Taschen­buch für den Offi­zier der Eisen­bahn­trup­pe“ und schla­ge es auf.
Zwei wei­te­re Brie­fe von Paul rut­schen mir ent­ge­gen.
Mir ste­hen die Nacken­haa­re zu Ber­ge und ich bekom­me Ganz­kör­per­gän­se­haut. Auf­ge­regt durch­su­che ich alle wei­te­ren Bücher und den gesam­ten Schrank. Wei­te­re Post von Paul fin­de ich jedoch nicht mehr. Sofort rufe ich Ute an, um ihr davon zu erzäh­len. Man­che Din­ge sind so spoo­ky, dass, wenn man sie nicht selbst erlebt hät­te, man sie kaum glau­ben könn­te.
Für Ute und mich steht nun fest, dass Paul gefun­den wer­den WOLLTE. 

Einer der bei­den Brie­fe ist der ers­te und ein­zi­ge aus dem Jah­re 1918, der ande­re ist auf Süt­ter­lin (vier Zei­len wur­den durch die Zen­sur­be­hör­de geschwärzt) …

Die Kar­te aus dem Janu­ar 1918 ist die ers­te, auf der Paul zuver­sicht­lich klingt, und irgend­wie freut mich das, auch noch nach 101 Jah­ren. Pauls Schrift­ver­kehr endet hier, doch der Krieg ende­te damals noch lan­ge nicht.

Fra­gen: Was geschah mit Paul zwi­schen Janu­ar 1918 bis zu sei­nem Tod am 20.08.1919 im Laza­rett im rus­si­schen Omsk? Wer infor­mier­te die Ange­hö­ri­gen über den Tod? Gibt es noch ein Foto von ihm? Wo wur­de er begra­ben?

Sams­tag 7. Sep­tem­ber 2019

Habe im Inter­net auf der Denk­mal­pro­jekt­sei­te die Infor­ma­ti­on zu einem 1. Welt­kriegs­denk­mal aus Fürs­ten­wal­de ent­deckt, das es lei­der nicht mehr gibt. Auf des­sen Inschrift war Paul Saar­mann ver­merkt. Aller­dings mit dem fal­schen Todes­da­tum 12.09.1916. Inter­es­sant!
Lan­de auch ver­se­hent­lich auf Reichs­bür­ger­sei­ten und fra­ge mich mal wie­der, wo die wohl gewe­sen sind, als das Hirn ver­teilt wur­de. 

Mitt­woch 11. Sep­tem­ber 2019

Ich kann und will mich nicht damit abfin­den, dass zwi­schen dem Datum des letz­ten Brie­fes von Paul am 16.01.1918 und sei­nem Tod im Laza­rett in Russ­land am 20.08.1919 mehr als andert­halb Jah­re ohne eine wei­te­re Nach­richt ver­gan­gen sein soll­ten. Was wider­fuhr ihm in die­sen 19 Mona­ten?

Man darf nicht ver­ges­sen, daß poli­tisch zu die­ser Zeit die Höl­le los war: Die rus­si­sche Okto­ber­re­vo­lu­ti­on 1917 sorg­te für Cha­os. Dadurch ver­schärf­ten sich die Gegen­sät­ze in Staat und Gesell­schaft. Die Fol­ge war der Bür­ger­krieg.

Es ist durch­aus wahr­schein­lich, dass auf­grund der herr­schen­den chao­ti­schen Zustän­de nur noch weni­ge bis gar kei­ne Brie­fe mehr „durch­ka­men“.

Eine Chro­no­lo­gie:
Am 16. Febru­ar 1918 befiehlt die deut­sche Hee­res­lei­tung die Wie­der­auf­nah­me der Kampf­hand­lun­gen gegen Ruß­land, daher erhält der am 3. März 1918 unter­zeich­ne­te Frie­dens­ver­trag von Brest-Litowsk zwi­schen Russ­land und den Mit­tel­mäch­ten u.a. Zusatz­ver­trä­ge für den Gefan­ge­nen­aus­tausch.

Am 27. April 1918 begin­nen die Ver­hand­lun­gen der Haupt­kom­mis­si­on für Gefan­ge­nen­aus­tausch und Für­sor­ge.

Am 7. August 1918 erfolgt die 28. (sic!!) und letz­te Sit­zung die­ser Kom­mis­si­on. Laut der schwe­di­schen Rot­kreuz­schwes­ter Elsa Brand­ström gelingt es nach dem Bres­ter Frie­dens­ver­trag bis zum Spät­herbst 1918, Deutsch­land und den ande­ren Mit­tel­mäch­ten, etwa 101 000 deut­sche Kriegs­ge­fan­ge­ne und 214 000 Zivil­ge­fan­ge­ne, 725 000 öster­rei­chisch-unga­ri­sche Kriegs- und Zivil­ge­fan­ge­ne und 25 000 tür­ki­sche Kriegs­ge­fan­ge­ne heim­zu­ho­len.

Die in Sibi­ri­en und Tur­ke­stan Befind­li­chen sehen sich durch den Auf­stand der tsche­cho­slo­wa­ki­schen Legi­on und der „Wei­ßen Armee“, vom Heim­trans­port abge­schnit­ten. Laut sei­ner letz­ten Stand­ort­an­ga­be ist Paul defi­ni­tiv einer davon. 

Am 11.November 1918 endet der 1. Welt­krieg.

Am 13.11.1918 annul­liert jedoch das Gesamt­rus­si­sche Zen­tral­ko­mi­tee der Sowjets und der Rat der Volks­kom­mis­sa­re der RSFSR (der Rus­si­schen Sozia­lis­ti­schen Föde­ra­ti­ven Sowjet-Repu­blik) den Ver­trag von Brest-Litowsk. Damit nimmt auch der Gefan­ge­nen­aus­tausch vor­läu­fig ein Ende. 

Nach sowje­ti­schen Anga­ben wur­den vom 5. Novem­ber 1918 bis zum 1. August 1919 200 000 Kriegs­ge­fan­ge­ne unter Mit­hil­fe der aus­län­di­schen Räte eva­ku­iert. Laut der schwe­di­schen Rot­kreuz­schwes­ter Brand­ström befin­den sich um die Jah­res­wen­de 1918/19 noch 35 000 Kriegs­ge­fan­ge­ne in Tur­ke­stan und unge­fähr 400 000 in Sibi­ri­en. Einer davon ist Paul.

Die Wie­der­auf­nah­me der diplo­ma­ti­schen Kon­tak­te erfolgt erst wie­der 1920 (!).

Die­se Ver­hand­lun­gen enden am 19.4.1920 mit einem Ver­trag über den Gefan­ge­nen­aus­tausch. Zu die­ser Zeit voll­ende­te die Rote Armee ihren Sie­ges­zug in Sibi­ri­en und befrei­te jene Gefan­ge­nen, die dort 1918 unter die Herr­schaft der Wei­ßen Armee und der Tsche­cho­slo­wa­ken gekom­men waren und durch die die Gefan­ge­nen wie­der unter ein har­tes Lager­re­gime gestellt waren. 
(Quell­text u.a. : Georg Wur­zer: Die Kriegs­ge­fan­ge­nen der Mit­tel­mäch­te in Ruß­land im Ers­ten Welt­krieg)

Für Paul kamen die­se letz­ten Maß­nah­men zu spät, da er bereits am 20.08.1919 im Laza­rett II in Omsk an Krank­heit ver­starb. Die Fra­ge, wer damals die Nach­richt von Pauls Tod über­brach­te, konn­te durch die Hil­fe des Archi­ves Wip­per­fürth geklärt wer­den: Der Abtei­lungs­vor­stand der Zweig­stel­le der Inten­dan­tur des VIII. Armee­korps, Abtei­lung Kaval­le­rie mel­de­te Pauls Tod, der Name des Abtei­lungs­vor­stan­des wird in der Ster­be­ur­kun­de nicht genannt. Da der Ster­be­fall erst zwei Jah­re nach dem Tod von Paul Saar­mann beur­kun­det wur­de, ver­mu­tet man, dass die Mel­dung über Pauls Tod erst im August 1921 ein­ge­gan­gen ist.

ZWEI JAHRE zwi­schen Tod und Nach­richt. ZWEI JAHRE in voll­kom­me­ner Unge­wiss­heit für die Fami­lie. VERDAMMTER KRIEG!

Die geschicht­li­chen Hin­ter­grün­de zei­gen klar, dass es schwie­rig bis unmög­lich sein wird, wei­te­re Spu­ren von Paul zu fin­den … Aller­dings war „ein­fach-so-auf­ge­ben“ noch nie eine Opti­on für mich …

Im Anhang Pauls o.g. „jüngs­ter und letz­ter Brief“.

Don­ners­tag 12. Sep­tem­ber 2019

Digi­tal begab ich mich in den ver­gan­ge­nen Tagen in den Osten Deutsch­lands, indem ich Fra­gen an ver­schie­de­ne Stan­des­äm­ter ver­sand­te: Fürs­ten­wal­de, See­low, Lebus und den MOL (oder so ähn­lich) ver­schick­te. Ich wur­de wei­ter­ge­lei­tet ans Archiv Bran­den­burg. Die Ant­wort steht noch aus. Es geht um das Stamm­buch von Pauls Eltern und even­tu­el­le wei­te­re Infor­ma­tio­nen. 

Zusätz­lich wen­de ich mich per Email an die evan­ge­li­sche Kir­che in Wip­per­fürth, da hier der von Paul erwähn­te Pfar­rer Hun­ke tätig war. Lei­der befin­den sich in den kirch­li­chen Bestän­den kei­ne wei­te­ren Paul Brie­fe mehr.

Ana­log habe ich beschlos­sen, auf eine klei­ne „Paul“-Forschungsreise durchs Ber­gi­sche zu gehen.

Dazu muss ich wohl man­ches zum ers­ten Mal in mei­nem Leben tun: an frem­den Haus­tü­ren klin­geln zum Bei­spiel und dabei hof­fen, auf net­te Men­schen zu tref­fen, die nicht gleich die Jungs mit den Zwangs­ja­cken rufen, wenn ich von Paul erzäh­le …

Nach­trag zu Don­ners­tag, dem 12. Sep­tem­ber 2019

Darf ich vor­stel­len? Pauls Toch­ter Hil­de­gard Saar­mann, in jun­gen Jah­ren.

Dank Hil­des, von Paul auch „Frau Hil­la“ genannt, Sen­ti­men­ta­li­tät exis­tie­ren Pauls Brie­fe wei­ter­hin. Und dank der Sen­ti­men­ta­li­tät mei­ner Oma Leni, die 1986 nach Hil­des Tod, Tei­le des Nach­las­ses auf­hob, konn­te Paul nicht in Ver­ges­sen­heit gera­ten. Der neue Dreh-und Angel­punkt mei­ner Recher­chen wer­den die Spu­ren von Tan­te Hil­de sein. Da ich 10 Jah­re alt war, als Hil­de starb, kann­te ich weder die alte Adres­se, noch etwa­ige ande­re Details, die als Anhalts­punkt die­nen könn­ten. Mei­ne Mama erin­nert sich ledig­lich dar­an, dass Hil­de mit ihren Ver­mie­tern, den Besit­zern einer Bau­un­ter­neh­mung, sehr gut befreun­det war.

Ich ergoog­le sämt­li­che Bau­un­ter­neh­mun­gen Wip­per­fürths und lese sie mei­ner Mut­ter vor. Irgend­wann ruft sie: „Die! Die waren das!“ Ein neu­er Anhalts­punkt auf mei­ner ziem­lich klei­nen Lis­te. Immer­hin. Bes­ser als nichts.

Einer fixen Idee fol­gend, brin­ge ich Hil­des alte Adres­se in Erfah­rung, ver­fas­se einen Brief für die neu­en Bewoh­ner des Hau­ses, in dem ich die Situa­ti­on erklä­re und fra­ge, ob sie in ihrem Kel­ler even­tu­ell Foto- oder Brief- Hin­ter­las­sen­schaf­ten von Hil­de vor­ge­fun­den haben und die­se behal­ten hät­ten. (Wäh­rend ich den Brief auf­set­ze, fra­ge ich mich, in wel­cher Höhe der „Bescheu­ert-Ska­la“ man mich wohl ansie­deln kann.)

Am Don­ners­tag Mit­tag führt mich mein Weg ins Ober­ber­gi­sche. Goog­le Maps lei­tet mich am Ziel einen klei­nen Weg hin­auf zu vier ver­klin­ker­ten Rei­hen­häu­sern und … einer Bau­un­ter­neh­mung.
DER Bau­un­ter­neh­mung!
Mein Herz setzt kurz­zei­tig aus. UNFASSBAR! Ich atme tief durch und zöge­re. „Ach, scheiss drauf!“, sage ich schließ­lich laut, stei­ge aus dem Auto und kling­le an der Büro­tür (NATÜRLICH aus­ser­halb der Geschäfts­zei­ten). Ein freund­li­cher jun­ger Mann öff­net.

„Guten Tag! Mein Name ist Yvonne Schwan­ke und … jetzt wird es etwas schräg“, begrü­ße ich ihn, bevor ich wei­ter spre­che: „Bis 1986 wohn­te mei­ne Tan­te Hil­de­gard Saar­mann in Num­mer sound­so. Und ich woll­te fra­gen, ob sich noch jemand an sie erin­nert, denn ich habe uralte Brie­fe gefun­den, die mich hier­her geführt haben.“ „Kom­men Sie doch her­ein“, sagt er, „ich rufe mal eben die Seni­or-Che­fin an.“ Ver­le­gen ste­he ich in der Tür. Ein klei­ner Hund begrüßt mich freu­dig, in mei­nem leicht auf­ge­wühl­ten Zustand sage ich: „Oh, Du bist aber eine net­te Fuss­hu­pe!“ und streich­le ihn, wäh­rend ich dem Rest des Tele­fo­nats lau­sche: „Ja. Frau Schwan­ke. Wegen Hil­de­gard Saar­mann.“ Pau­se. „Oh. Okay. Per­fekt!“ Er legt auf und sagt:“Warten Sie bit­te. Sie kommt jetzt.“

Kei­ne drei Minu­ten spä­ter öff­net sich die Tür und eine schlan­ke Dame um die 70 mit einem Fahr­rad­helm in der Hand schaut herein:“Sie sind Frau Schwan­ke? Kom­men Sie doch vor die Tür, die Son­ne wärmt so schön.“ Mei­nen vor­be­rei­te­ten Brief in der Hand erklä­re ich die Situa­ti­on, bis die Dame sagt:“Das klingt sehr inter­es­sant! Aber hier liegt, soweit ich weiß, nichts mehr! Haben Sie denn schon mit Frau W. gespro­chen?“ „Wer ist Frau W.?“, fra­ge ich. „Die Dame ist bei Frau Saar­mann in die Leh­re gegan­gen und hat sich bis zu ihrem Tod um sie geküm­mert. Ich glau­be, ich habe die Num­mer des Soh­nes irgend­wo. Aber jetzt muß ich weg zum Flö­ten­un­ter­richt“, sagt sie und schnallt den Helm auf. 

Frau W.! Ein neu­er Anhalts­punkt!! Inner­lich tan­ze ich vor Freu­de! 

Ich drü­cke ihr den Brief in die Hand: „Der war für die Bewoh­ner von Hil­des Woh­nung, lesen Sie ihn sich durch und ent­schei­den Sie dann ein­fach, ob Sie mir wei­ter­hel­fen mögen. Mei­ne Num­mer ist ver­merkt.“ „Ich wer­de ihn lesen“, ruft sie wäh­rend sie los­düst. „Dan­ke!“, rufe ich hin­ter­her.
„Wie­so? Noch habe ich gar nichts getan!“ ruft sie und radelt davon. Auf der Rück­fahrt nach Hau­se läch­le ich glück­lich aber immer noch ein wenig auf­ge­regt, mitt­ler­wei­le aber des­halb, weil ich einen neu­en wich­ti­gen Anhalts­punkt habe, jedoch nicht weiß, ob die Bau­un­ter­neh­mungs-Dame sich mel­den wird …

Es ist 21:37 Uhr, als ich eine Whats­app von Unbe­kannt erhal­te: „Hal­lo Frau Schwan­ke, dan­ke für Ihre inter­es­san­ten Infor­ma­tio­nen, beson­ders die Brie­fe sind sehr infor­ma­tiv (Ich hat­te ein Foto von vier Brie­fen bei­gefügt). Soweit ich mich erin­ne­re, wur­de die Woh­nung von Ihren Ver­wand­ten leer­ge­räumt. Sie wur­de anschlie­ßend wei­ter ver­mie­tet. Mei­ne Schwie­ger­el­tern und Hil­de Saar­mann waren befreun­det, auch in deren Nach­lass gab es kei­ne wei­te­ren Brie­fe von Paul Saar­mann. Frau W. hat sich auch viel um Hil­de geküm­mert und hat­te wohl noch bis zu Hil­des Tod Kon­takt mit ihr. Ihre Adres­se ist: … Lei­der kann ich Ihnen kei­ne wei­te­ren Infor­ma­tio­nen geben. Für Ihre Recher­che wün­sche ich Ihnen viel Erfolg. Freund­li­che Grü­ße D.“

Ich dan­ke ihr von Her­zen und fra­ge, ob ich sie auf dem Lau­fen­den hal­ten soll. „Sehr ger­ne!“ lau­tet die Ant­wort.

Am nächs­ten Tag, so ver­sprach ich ihr, wür­de ich sofort Frau W. kon­tak­tie­ren … und das tat ich dann auch.

Frei­tag 14. Sep­tem­ber 2019

Nach Erhalt der freund­li­chen Whats­App-Nach­richt von Frau D. schrei­be ich am frü­hen Frei­tag Mor­gen einen wei­te­ren Brief. Die­ser Brief ist für Frau W., die Hil­de bis zu ihrem Tod beglei­tet hat. Ich füge das Paul-Brief-Foto bei und auch eine Kopie des Bil­des von Hil­de in jun­gen Jah­ren. Es ist kurz vor 7 Uhr in der Frü­he und ich über­le­ge hin-und her­ge­ris­sen, ob ich ihn nicht jetzt schon zustel­len soll­te. Ein Blick auf Goog­le-Maps ver­rät: Fahr­zeit von 23 Minu­ten. Ich stut­ze, denn auf­grund eines klei­nen Orts­zu­sat­zes, den Goog­le nicht anneh­men will, hät­te ich auf eine zehn Minu­ten kür­ze­re Fahr­zeit getippt. Zu wenig Zeit bis zum nächs­ten Ter­min, also ent­schei­de ich mich dafür, ab neun Uhr erst ein­mal bei Frau W. anzu­ru­fen.

Obwohl ich ziem­lich beschäf­tigt bin, zie­hen sich die Stun­den wie Sirup. Um neun Uhr wäh­le ich die Num­mer und lau­sche mit leicht erhöh­tem Herz­schlag. Schließ­lich ertönt eine freund­li­che weib­li­che Stim­me und sagt: „Die­ser Anschluss ist zur Zeit lei­der nicht erreich­bar. Bit­te ver­su­chen Sie es spä­ter noch ein­mal.“ „Oh, nee! Das darf doch jetzt echt nicht wahr sein!“, schimpft es in mir als ich auf­le­ge. 15 Minu­ten spä­ter ver­su­che ich es noch ein­mal, mit dem glei­chen Ergeb­nis. Und auch zwei und vier Stun­den spä­ter bleibt es bei der freund­li­chen Robo­ter­da­men­stim­me.

Am spä­ten Nach­mit­tag, nach der Arbeit und einem wei­te­ren frucht­lo­sen Kon­takt mit der Tele­fon­an­sa­ge, mache ich mich auf den Weg zu der genann­ten Adres­se. Goog­le-Maps zeigt immer noch eine Fahrt­zeit von 23 Minu­ten. Komisch. Und so fah­re ich wie­der Rich­tung Ober­ber­gi­sches, vor­bei an grü­nen Wie­sen, Fel­dern, üppi­gen Wäl­dern und klei­nen Dör­fern. Ich bie­ge in eine brei­te Stra­ße und fra­ge mich, war­um ich das Gefühl habe, dass irgend­et­was nicht stimmt. In sechs Kilo­me­tern soll ich das Ziel errei­chen. Moment mal! Was war das denn?! Ein vor­bei­flit­zen­des Holz­schild zieht, mit leich­ter Ver­zö­ge­rung, mei­ne Auf­merk­sam­keit auf sich. Ich ent­schei­de mich gegen die Voll­brem­sung und für eine hal­be Hand­brem­sen­dre­hung, um den nächst­bes­ten Wen­de­platz zu ergat­tern.

Kann es denn sein, dass es die­se Adres­se hier tat­säch­lich zwei­mal gibt?! Ich fah­re zurück, wen­de noch ein­mal, ver­ge­wis­se­re mich, dass ich rich­tig gele­sen habe, und bie­ge dar­auf­hin in einen sehr klei­nen, sehr stei­len Weg ein, der als Sack­gas­se vor einem hüb­schen Haus endet. Der Platz ist mit Kies bestreut, es knirscht als ich die Hand­brem­se anzie­he und mich, im Auto sit­zend, nach Haus­ein­gang und Brief­kas­ten umse­he.

Aus dem Augen­win­kel sehe ich links von mir auf einem Stell­platz einen wei­te­ren Wagen. Es ist knall­oran­ge und in sei­nem Inne­ren bewegt sich etwas. Die Fah­rer­tür öff­net sich und ein gro­ßer Mann, der ein blau­es Band­a­na auf dem Kopf trägt, steigt aus und kommt auf mich zu.

„Krass, wirkt wie ein Easy Rider“, den­ke ich, öff­ne mei­ne Fah­rer­tür, schwin­ge mich halb hin­aus und sage:“Guten Tag! Wohnt hier Fami­lie W.?“ „Ja, die wohnt hier“, erwi­dert er und schaut mich fra­gend an. „Oh, das ist ja groß­ar­tig!“, rufe ich freu­den­tau­melnd,“ wis­sen Sie, das ist eine echt ver­rück­te Geschich­te, ich habe näm­lich in mei­nem Haus uralte Kriegs­ge­fan­ge­nen-Brie­fe gefun­den, die mich schließ­lich hier­her geführt haben und ich habe vie­le Fra­gen …“

Lachend unter­bricht er mich und sagt:“Moment, Moment! Bevor Sie wei­ter­re­den. Fami­lie W. wohnt hier, aber die sind jetzt erst ein­mal für drei bis vier Wochen mit dem Wohn­mo­bil unter­wegs! Ich bin nur der Unter­mie­ter.“ „Oh nein! Oh Mist! Das erklärt aber wenigs­tens, war­um nie­mand ans Tele­fon ging!“, sage ich ent­täuscht und rei­che ihm den vor­be­rei­te­ten Brief. „Sie kön­nen ihn ruhig öff­nen, da ist nichts Schlim­mes drin … Sagen Sie, Sie dür­fen nicht zufäl­lig die Mobil­num­mer wei­ter­ge­ben, oder?“ „Ich wer­de den Brief natür­lich nicht lesen. Die Num­mer kann ich Ihnen lei­der nicht geben, aber ich habe eine ande­re Idee.“ Er zieht sein Han­dy aus der Tasche. „Ich ver­su­che mal eben, die zu errei­chen, viel­leicht haben wir ja Glück!“ Amü­siert den Kopf schüt­telnd, lauscht er dem Han­dy und mur­melt: „Sowas Ver­rück­tes …“ Es tutet, es tutet sehr, sehr lan­ge und er will gera­de auf­le­gen, als am ande­ren Ende eine Stim­me ertönt. „Ja! Ach schön! Ich bins. Höm­ma! Gehts Euch gut? Schön! Gibs­te mir mal eben bit­te die Ulli? Nein, natür­lich will ich auch mit Dir spre­chen. O.k., dann spre­chen wir halt ein biß­chen.“

Ent­schul­di­gend zuckt er mit den Schul­tern, setzt sich auf eine Bank vor dem Haus und ich set­ze mich neben ihn. Hier sit­ze ich nun, neben einem mir völ­lig Frem­den, der gera­de zwei wei­te­re völ­lig frem­de Per­so­nen für mich anruft. Die Aus­sicht von der Bank ist herr­lich, das Leben ist ein Aben­teu­er und neben mir sagt der freund­li­che Band­a­na-Mann schließ­lich: „Bad Füs­sing. Toll. Kannst Du mir jetzt bit­te mal die Ulli an den Hörer holen? Ich habe hier näm­lich jeman­den neben mir sit­zen, die eine ver­rück­te Geschich­te zu erzäh­len hat.“ Eine Frau­en­stim­me ertönt am ande­ren Ende. „Hal­lo Ulli! Also, ich rei­che dich jetzt mal wei­ter. Hier sitzt eine Dame neben mir, die Dich gesucht hat. Völ­lig ver­rück­te Geschich­te!“ Er reicht mir sein Han­dy.

„Hal­lo, mei­ne Name ist Yvonne Schwan­ke und Hil­de­gard Saar­mann war mei­ne Nenn-Tan­te. Ich hör­te, dass Sie bis zu ihrem Tod Kon­takt mit ihr hat­ten. Erin­nern Sie sich noch an Tan­te Hil­de?“ Ein war­mes, erstaun­tes Lachen ertönt am ande­ren Ende:“Natürlich erin­ne­re ich mich an Hil­de­gard.“ „Ach, wie schön!“, sage ich und erzäh­le von Pauls Brie­fen, mei­ner Recher­che und von mei­ner Oma Leni, die damals Hil­des Woh­nung aus­räu­men muß­te. „Wie war Ihr Mäd­chen­na­me?“, fragt Frau W. „Hes­sen­bruch“, ant­wor­te ich. „Buch­hol­zen“, sagt sie. „Ja! Genau!“, erwi­de­re ich erstaunt. „Immer wenn mein Mann und ich mit dem Rad da her fah­ren, sage ich: Hier war ich in den 60er Jah­ren ein paar Mal mit Hil­de­gard, um Sachen zu fli­cken bei den Hes­sen­bruchs (zur Erklä­rung: Hil­de­gard war Schnei­de­rin und Frau W. ging bei ihr in die Leh­re). Ich erin­ne­re mich noch gut an Ihre Oma.“

Ich bin sprach­los, sit­ze zwar immer noch mit einem frem­den Mann auf einer frem­den Bank vor einem frem­den Haus, aber es fühlt sich nicht mehr so fremd an wie zuvor. „Wis­sen Sie“, sage ich, „ich habe so gehofft, dass Sie even­tu­ell noch ein paar Geschich­ten ken­nen oder gar Fotos oder Brie­fe von Paul als Erin­ne­rung an Hil­de behal­ten haben …“ „An Geschich­ten kann ich mich nicht erin­nern und Fotos habe ich auch lei­der kei­ne …“ Mein Herz sinkt. „Aber ich habe einen klei­nen Kof­fer von ihr, in dem eini­ge Sachen sind, die ihr am Her­zen lagen. Und ich wür­de ihn sehr ger­ne gemein­sam mit Ihnen öff­nen, sobald wir aus dem Urlaub zurück­kom­men. Ich bin sehr froh, dass Sie Inter­es­se dar­an haben!“ Mein Herz explo­diert bei­na­he vor Auf­re­gung und Freu­de! Wir tau­schen Han­dy­num­mern aus und ver­ein­ba­ren, dass ich mich am 10.Oktober bei ihr mel­de, so sie denn nicht vor­her anru­fen soll­te.

Der lie­be Unter­mie­ter, der gar kein blau­es Band­a­na, son­dern einen blau­en Kopf­ver­band trägt, bekommt qua­si als „Dan­ke schön“ von mir noch ein­mal die gan­ze Geschich­te erzählt, lacht und sagt schließlich:“Was für eine ver­rück­te, herr­li­che Geschich­te! Ich bin gespannt, was Sie noch fin­den wer­den!“

Ich bin froh, dass ich das Schild gese­hen habe, denn wäre ich zur fal­schen Adres­se gefah­ren, hät­te ich den net­ten Herrn nicht mehr ange­trof­fen … viel­leicht hat Paul ja doch sei­ne Hän­de im Spiel …

Spä­ter infor­mie­re ich Frau D. von der Bau­un­ter­neh­mung über mei­ne Fort­schrit­te. Sie freut sich und fie­bert wei­ter­hin mit. Die Span­nung, viel­leicht doch noch etwas mehr über Paul her­aus­zu­fin­den, bleibt also bis zur offi­zi­el­len Kof­fer­öff­nung im Okto­ber.

Aber, egal, was ich noch fin­den wer­de, die mensch­li­chen Begeg­nun­gen waren bis­her die Mühen wert. 

Diens­tag 17. Sep­tem­ber 2019

Habe heu­te den Volks­bund Deut­sche Kriegs­grä­ber­für­sor­ge qua­si mit der Suche nach Pauls Grab beauf­tragt. Ich hof­fe, daß sie trotz der wid­ri­gen his­to­ri­schen Kon­stel­la­tio­nen etwas fin­den kön­nen. 
Das Mili­tär­ar­chiv in Frei­burg besitzt schein­bar kei­ne wei­te­ren Infor­ma­tio­nen, da fast alle Akten im zwei­ten Welt­krieg zer­stört wur­den.

Rand­no­tiz:
Heu­te mas­sier­te ich in der Damen­s­auna in Hückes­wa­gen. Dabei hat­te ich eine Begeg­nung mit einer älte­ren Dame mit einem inter­es­san­ten Akzent.
„Ich bin Spät­aus­sied­le­rin“, sagt sie.
„Ach, Russ­land-Deut­sche?“, fra­ge ich.
„Ich bin Deut­sche!“, betont sie und es hört sich ein wenig an wie „DEITSCHE“.
„Ent­schul­di­gung, ich kom­me da in der Dif­fe­ren­zie­rung immer ein wenig durch­ein­an­der.“
„Nicht, schlimm“, sagt sie, „man gehört irgend­wie nir­gend­wo dazu.“
Die­ser Satz macht mich sehr nach­denk­lich.
„Wo in Russ­land haben Sie denn gelebt?“, fra­ge ich.
„Kasach­stan“, sagt sie. (Kasach­stan, ist, genau­so wie der Rest von Russ­land, ver­dammt­scheiss­rie­sig.)
„Oh, Kasach­stan“, sage ich, „dar­an grenzt auch die Oblast Omsk, oder?“
„Stimmt“, sagt sie überrascht,“woher wis­sen Sie das?“
„Ich habe Gefan­ge­nen­post aus dem 1. Welt­krieg gefun­den und ich ver­fol­ge gera­de sei­nen Weg durch Russ­land. Er muß­te im Ural im Sil­ber­berg­werk arbei­ten, kam nach Tschel­ja­b­insk und starb schließ­lich im Laza­rett in Omsk an Krank­heit. Und ich will wis­sen, ob es dort ein Grab gibt, auf dem sein Name steht.“
„Es heisst: Schill­ja­b­insk!“
„Schill­ja­b­insk“, wie­der­ho­le ich und sie lacht.
„Scheiss Krieg!“, schnauft sie, „aber erzäh­len Sie mehr!“
Und so erzäh­le ich von Paul und sie lauscht gespannt, stellt Zwi­schen­fra­gen, erzählt vom Leben als Deut­sche in Russ­land und ihrer Mei­nung zur all­ge­mei­nen Lage.
„Was machen Sie, wenn es tat­säch­lich ein Grab gibt?“, fragt sie, als ich ende.
„Ist doch klar! Ich fah­re nach Omsk!“
„Schau­en Sie, bekom­me ich Gän­se­haut am gan­zen Kör­per! Das ist wun­der­bar! Machen Sie das! Das soll so sein!! Das nächs­te Mal, wenn wir uns sehen, hof­fe ich, dass Sie mehr her­aus­ge­fun­den haben!“

Ohne Paul, wäre es wohl nie zu einer sol­chen Unter­hal­tung gekom­men.

Frei­tag 27. Sep­tem­ber 2019

Habe heu­te doch das Mili­tär­ar­chiv in Frei­burg ange­schrie­ben, weil ich eine klei­ne Hoff­nung habe, Ein­sicht in Pauls Laza­rett­ak­te zu bekom­men.

Mei­ne digi­ta­len Recher­chen lau­fen jetzt in alle mög­li­chen Rich­tun­gen.
Jetzt bleibt nur noch War­ten und Hof­fen: auf Grä­ber­aus­kunft, Laza­rett­ak­ten und Stamm­bü­cher … und das kann dau­ern.
Ich hof­fe instän­dig auf Hil­des Kof­fer, auch wenn mir Frau W. kei­ne gro­ßen Hoff­nun­gen auf Fotos oder Brie­fe gemacht hat.

Es bleibt span­nend …

Fotos: Yvonne Schwan­ke

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