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  • “Unvergessen”

    “Unvergessen”

    Die Pogrom­nacht des 9. Novem­ber 1938 in unse­rer Nach­bar­stadt

    Ein Bei­trag von Jochen Bil­stein

    „Rem­scheid ehrt die toten Hel­den“.

    Mit die­ser Über­schrift beginnt der Arti­kel in der Aus­ga­be des RGA vom 10. 11 .1938:

    „Um der Toten des 9. Novem­ber in wür­de­vol­ler Fei­er zu geden­ken, kam man auch in allen Orts­grup­pen Groß-Rem­scheids zusam­men. So auch im Hoheits­be­reich der Orts­grup­pe Rem­scheid-Mit­te, deren Fei­er im Stadt­thea­ter einen beson­ders ein­drucks­vol­len Ver­lauf nahm. Sie war zugleich die offi­zi­el­le Fei­er der Kreis­lei­tung des Krei­ses Ber­gisch Land und der SA Stan­dar­te 173. …“

    Was in dem Arti­kel nicht stand, waren die Ereig­nis­se, die sich nur weni­ge Stun­den nach der Fei­er von NSDAP und SA ereig­nen soll­ten. Die­ser Ver­lauf der Pogrom­nacht in Rem­scheid konn­te nach dem Krieg mit Hil­fe von Gerichts­ak­ten und Zeu­gen­aus­sa­gen vor dem Wup­per­ta­ler Land­ge­richt rekon­stru­iert wer­den:

    Es waren nur weni­ge hun­dert Meter vom dama­li­gen Rem­schei­der Schau­spiel­haus an der Brü­der­stra­ße zur Stamm­knei­pe „Tan­te Pau­la“ der SA an der obe­ren Allee­stra­ße. Dort tra­fen sich vie­le der Gäs­te der Fei­er. Am spä­te­ren Abend wur­de dort der Füh­rer der SA–Standarte 173 ans Tele­fon geru­fen. Der Anruf kam ver­mut­lich von der Kreis­lei­tung der NSDAP oder dem Gau Düs­sel­dorf. Sein Inhalt: Es fän­de jetzt sofort wegen des Able­bens des Bot­schafts­rats vom Rath eine Akti­on gegen jüdi­sche Geschäf­te statt. Die Geschäf­te sei­en zu zer­stö­ren, so daß Juden dort nicht mehr ver­kau­fen könn­ten …

    Gast­stät­te “Tan­te Pau­la”, Stamm­knei­pe der SA (Bild: J. Bil­stein)

    Dar­auf­hin wur­den meh­re­re Grup­pen von SA Män­nern gebil­det, die in ver­schie­de­nen Tei­len der Innen­stadt ihr Zer­stö­rungs­werk durch­füh­ren soll­ten. Zwei Anfüh­rer zu Fuß und wei­te­re Män­ner in einem PKW gin­gen am spä­ten Abend die Allee­stra­ße hin­un­ter und tra­fen nach weni­gen Metern auf das jüdi­sche Schuh­ge­schäft Freund an der Ecke Alleestraße/Wiedenhofstraße.

    Ein Zeu­ge, zugleich Ange­klag­ter, erklär­te kurz nach dem Krieg vor Gericht: „… ich sah nur wie Sch. mit sei­nem Stie­fel­ab­satz die Fens­ter­schei­be ein­trat. Die übri­gen SA Kame­ra­den dran­gen dann durch das offe­ne Fens­ter in den Laden ein. Es wur­den dann die in dem Geschäft befind­li­chen Schu­he auf die Stra­ße gewor­den.“

    Ein Mit­ar­bei­ter der IHK beschrieb nach dem Krieg das Aus­maß der Schä­den: „Die Schau­fens­ter waren zer­stört und die Aus­la­gen zumeist zwi­schen den Split­tern von Glas vor dem Schau­fens­ter auf dem Bür­ger­steig. (…) Zum größ­ten Teil war die­se Ware beschä­digt.“

    Glück im Unglück hat­te die Laden­be­sit­ze­rin Cäci­lie Freund, die sich im Wohn­be­reich hin­ter dem Laden ver­steckt hat­te. Ihr Mann war bereits im Okto­ber mit ande­ren ost­jü­di­schen Män­nern nach Polen abge­scho­ben wor­den.

    Stol­per­stein für Samu­el Freund, Blu­men­str. 13 in Rem­scheid – sie­he Fuß­no­te
    Foto: https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Michael.Kramer

    Bild­rech­te: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stolperstein_Remscheid_Blumenstraße_13_Samuel_Freund.jpg

    Wie im Schuh­ge­schäft Freund wüte­ten die SA Män­ner auch in ande­ren jüdi­schen Geschäf­ten bis zur Unter­füh­rung. Nicht nur Laden­lo­ka­le waren betrof­fen, son­dern auch Pri­vat­woh­nun­gen jüdi­scher Bür­ger und deren Beträu­me.

    Der Seni­or­chef des Sport- und Mode­hau­ses Len­ne­berg in der Bis­marck­stra­ße nahe der Stadt­kir­che, ein deut­scher Offi­zier des 1. Welt­kriegs, nahm sich am Mor­gen des 10.11. das Leben. Auf sei­nem Grab­stein auf dem jüdi­schen Fried­hofs­teils des Kom­mu­nal­fried­hof in Blie­ding­hau­sen muss­te auf Befehl der Gesta­po ein fal­sches Ster­be­da­tum ein­gra­viert wer­den, der 10.3.38. 

    Sport- und Mode­hau­ses Len­ne­berg , Bis­marck­stra­ße (Bild: Jochen Bil­stein)

    Zum Haus der ost­jü­di­schen Fami­lie Vogel in der Bis­marck­stra­ße nahe der Unter­füh­rung kamen die Täter am frü­hen Mor­gen. Ein Zeu­ge erin­ner­te sich spä­ter: „In der betref­fen­den Nacht wur­de ich durch lau­ten Lärm aus dem Schlaf geweckt. Ich stand auf, öff­ne­te das Fens­ter (…) und in der Durch­fahrt, die zu den Geschäfts­räu­men des jüdi­schen Geschäf­tes von Abra­ham Vogel führ­te, sah ich einen Trupp von 8 – 10 SA Män­nern. Ich hör­te von den Räu­men des Herrn Vogel lau­tes Schrei­en und Pol­tern, es war so, als ob Gegen­stän­de zer­schla­gen wur­den“. Im Haus befan­den sich der alte Abra­ham Vogel, sei­ne Ehe­frau, die Schwie­ger­toch­ter und der 2‑jährige Enkel. Alle 4 kamen spä­ter in der Sho­ah um.

    Stol­per­stein von Abra­ham Vogel, Bis­marck­stras­se Rem­scheid (Joel1272, CC BY-SA 4.
    https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stolperstein_Remscheid_Vogel_Abraham_1876-1938.jpg

    „Das war das Ende mei­ner Kind­heit.“ (Peter Wis­brun)

    In der Mar­tin-Luther Stra­ße erleb­te der 11-jäh­ri­ge Peter Wis­brun die Gewalt. Am frü­hen Mor­gen des 10.11. dran­gen SA Män­ner in das Haus der Wis­bruns ein. Der Vater von Peter, Wal­ter Wis­brun, war bis zur „Ari­sie­rung“ im Sep­tem­ber 1938 Mit­ei­gen­tü­mer des Tex­til­kauf­hau­ses Gebrü­der Als­berg – nach der „Ari­sie­rung“ Mer­tens &  Sinn – gewe­sen. Peter schreibt in einem Brief an den Ver­fas­ser die­ses Auf­sat­zes eini­ge Jahr­zehn­te spä­ter aus Isra­el:

    „Früh­mor­gens kam eine Grup­pe SA in unser Haus, ver­prü­gel­ten mei­nen Vater, stie­ßen mei­ne Eltern (mein Vater blu­tend) und mei­ne Schwes­ter in mein Zim­mer und began­nen sys­te­ma­tisch, die Woh­nung zu zer­stö­ren. Alle Schrän­ke wur­den umge­stürzt, alle Bil­der zer­schnit­ten, die Wasch­be­cken mit Gewehr­kol­ben zer­schla­gen und auch alles Geschirr und ande­res Zer­brech­li­che wur­de kurz und klein geschla­gen.“ 

    Am Schluss schreibt er: „Das war das Ende mei­ner Kind­heit.“

    Peter Wis­brun wur­de im Dezem­ber in der Schweiz in Sicher­heit gebracht.

    Für eini­ge Män­ner ende­te die Pogrom­nacht in den Zel­len des Poli­zei­ge­bäu­des in der Uhland­stra­ße, von wo sie weni­ge Tage spä­ter in das Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Dach­au wei­ter­trans­por­tiert wur­den. Die letz­ten von ihnen wur­den im Janu­ar 1939 ent­las­sen.

    Zu die­sem Zeit­punkt gab es kei­ne jüdi­schen Unter­neh­men mehr. Das Pogrom war der Auf­takt der vor­letz­ten Pha­se in der „Juden­po­li­tik“ der Natio­nal­so­zia­lis­ten, in der die wirt­schaft­li­che, gesell­schaft­li­che und recht­li­che Aus­gren­zung der Juden in Deutsch­land end­gül­tig voll­zo­gen wur­de.

     

    Hin­weis und Erläu­te­rung zum Stol­per­stein Samu­el Freund:

    Samu­el Freund wur­de am 10. Novem­ber 1883 in Pruchnik/Jarosław in Gali­zi­en gebo­ren und war wohn­haft in Rem­scheid. Er wur­de am 28./29. Okto­ber 1938 nach Bent­schen (Zbąs­zyń) abge­scho­ben. Vom 29. Okto­ber 1938 – Som­mer 1939 wur­de er im dor­ti­gen Inter­nie­rungs­la­ger inhaf­tiert. Über sei­ne nach­fol­gen­de Depor­ta­ti­on oder Ermor­dung ist nichts bekannt. Er wur­de für tot erklärt
    Quel­le: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de869723

    Jochen Bil­stein, gebo­ren 1949 in Rem­scheid, lebt seit 1976 in Wer­mels­kir­chen, Stu­di­um der Ger­ma­nis­tik und Geschich­te, Leh­rer am Gym­na­si­um  (zuletzt Stu­di­en­di­rek­tor am Gym­na­si­um Wer­mels­kir­chen) – seit 1994  Mit­glied des Stadt­ra­tes der Stadt Wer­mels­kir­chen und Mit­glied des Koor­di­nie­rungs­teams von “Will­kom­men in Wer­mels­kir­chen, Mit­be­grün­der der Bil­dungs- und Gedenk­stät­te “Pfer­de­stall” in Rem­scheid
    Jochen Bil­stein ist Mit­her­aus­ge­ber und Autor des Buches“ Geschich­te der Rem­schei­der Jude“n  Rem­scheid 1992

    Titel­bild: Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung von Pfrin. S. Kan­ne­mann