Schlagwort: 9. November 1938

  • Warum der 9. November 1938 uns mahnt 

    Warum der 9. November 1938 uns mahnt 

    – und war­um unse­re Erin­ne­rung kein „Schuld­kult“ ist, son­dern Ver­ant­wor­tung

    Der 9. Novem­ber 1938 war ein Wen­de­punkt in der deut­schen Geschich­te. In die­ser Nacht – der soge­nann­ten Reichs­po­grom­nacht – brann­ten in ganz Deutsch­land die Syn­ago­gen. Jüdi­sche Geschäf­te wur­den zer­stört, Woh­nun­gen geplün­dert, Men­schen ver­folgt, ver­letzt und getö­tet – nur, weil sie Juden waren.

    Das Forum Wer­mels­kir­chen wird die­sem fol­gen­rei­chen Tag mit einer Bei­trags­se­rie geden­ken.

    Die­se Gewalt war kein spon­ta­ner Aus­bruch von Wut, son­dern das Ergeb­nis geziel­ter Het­ze und jah­re­lan­ger Aus­gren­zung.

    Um zu ver­ste­hen, wie es zu die­sen unge­heu­er­li­chen Hass­aus­wüch­sen kam, muss man auf die Ereig­nis­se im Herbst 1938 zurück­bli­cken:

    In den 1930er Jah­ren nahm der Anti­se­mi­tis­mus in Polen deut­lich zu. Jüdi­sche Bür­ger waren immer stär­ke­rer Dis­kri­mi­nie­rung und recht­li­chen Benach­tei­li­gun­gen aus­ge­setzt. Die­se Stim­mung präg­te den öffent­li­chen Dis­kurs und das poli­ti­sche Kli­ma – unter ande­rem durch For­de­run­gen nach Aus­wan­de­rung und eine zuneh­men­de sozia­le Aus­gren­zung. Fol­ge­rich­tig wuchs somit in der pol­ni­schen Regie­rung nach dem „Anschluss“ Öster­reichs an das Deut­sche Reich die Sor­ge, dass eine grö­ße­re Zahl jüdi­scher Staats­bür­ger aus Öster­reich nach Polen zurück­keh­ren könn­te. 

    Um das zu ver­hin­dern, ent­zog Polen die­sen Men­schen die Staats­an­ge­hö­rig­keit. Die Nazis in Deutsch­land wie­der­um woll­ten sie nicht im Land behal­ten – und so kam es am 28. Okto­ber 1938 dazu, dass mehr als 15.000 Juden pol­ni­scher Her­kunft in einer Nacht-und-Nebel-Akti­on an die deutsch-pol­ni­sche Gren­ze gewalt­sam abge­scho­ben wur­den.

    Unter die­sen Men­schen  war auch die Fami­lie Grynszpan aus Han­no­ver. Ihr damals 17 jäh­ri­ger Sohn Her­schel, der zu die­ser Zeit in Paris leb­te, erfuhr hier­von durch eine erschüt­tern­de Nach­richt sei­ner Schwes­ter. Wut und Ver­zweif­lung dar­über trieb ihn schließ­lich dazu, sich eine Waf­fe zu besor­gen, mit der er ein paar Tage spä­ter,  am 7. Novem­ber 1938 ein töt­li­ches Atten­tat auf den deut­schen Diplo­ma­ten Ernst vom Rath ver­üb­te.

    Die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Pro­pa­gan­da nutz­te die­ses Atten­tat sofort als Vor­wand. Joseph Goeb­bels, Reichs­pro­pa­gan­da­mi­nis­ter und obers­ter „Ein­peit­scher“ stell­te das Ereig­nis als Angriff des „inter­na­tio­na­len Juden­tums“ auf Deutsch­land. Sei­ne Hetz­re­de am 9. Novem­ber in Mün­chen war dann letzt­lich das Signal zum Los­schla­gen. 

    Aus Wor­ten wer­den Taten!

    Nur weni­ge Stun­den spä­ter begann in ganz Deutsch­land die sys­te­ma­ti­sche Zer­stö­rung jüdi­scher Ein­rich­tun­gen und unge­heu­re Gewalt gegen jüdi­sche Men­schen, Män­ner, Frau­en, Alte, Kin­der.

    Auch im Ber­gi­schen Land hin­ter­lie­ßen die Hor­den eine Spur der Gewalt: In Solin­gen, Rem­scheid und Wup­per­tal – über­all in unse­rer Regi­on – muss­ten jüdi­sche Fami­li­en uner­mess­li­ches Leid erfah­ren. Ihre Geschäf­te wur­den zer­stört, ihre Syn­ago­gen geschän­det und in Brand gesetzt. Vie­le Men­schen, die hier zu Hau­se waren, wur­den ver­trie­ben, depor­tiert oder spä­ter ermor­det. 

    Baden-Baden, BAD; Reichs­po­grom­nacht, Zwangs­marsch der Juden zur Syn­ago­ge | Digi­ta­li­sie­rung: Lan­des­ar­chiv Baden-Würt­tem­berg | Daten­part­ner: Lan­des­ar­chiv Baden-Würt­tem­berg | Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/ | URL: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/ELMH4TR7QEI5QK6UBA54FBZFT3QW74MC

    Wer­mels­kir­chen blieb in jener Nacht zwar von der unmit­tel­ba­ren Zer­stö­rung ver­schont, doch auch hier erkann­ten die jüdi­schen Fami­li­en, dass die Natio­nal­so­zia­lis­ten ihre Dro­hun­gen nun grau­sa­me Wirk­lich­keit wer­den lie­ßen.

    Unver­ges­sen – auch in Wer­mels­kir­chen

    Dar­um ist der 9. Novem­ber für uns heu­te so bedeut­sam. Die Ereig­nis­se jener Nacht, die auch hier im Ber­gi­schen Land so viel Leid über jüdi­sche Fami­li­en brach­ten, mah­nen uns bis heu­te. Sie zei­gen, wie aus Wor­ten Taten wur­den, wie aus Vor­ur­tei­len Gewalt wur­de – und wie aus Nach­barn plötz­lich Opfer und Täter wur­den.

    Wenn heu­te wie­der Stim­men laut wer­den, die eine „erin­ne­rungs­po­li­ti­sche Wen­de um 180 Grad“ (Zitat des AfD-Poli­ti­kers Björn Höcke) for­dern oder die Gedenk­kul­tur als „Schuld­kult“ ver­ächt­lich machen, dann zeigt das, wie not­wen­dig unser Erin­nern bleibt.

    Denn wer das Geden­ken rela­ti­viert, der öff­net die Tür für Geschichts­ver­ges­sen­heit – und am Ende auch für Men­schen­ver­ach­tung.

    Wenn wir hier in Wer­mels­kir­chen der Opfer geden­ken, dann tun wir das, um Erin­ne­rung wach­zu­hal­ten und Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men.

    Denn Demo­kra­tie, Mit­mensch­lich­keit und Zivil­cou­ra­ge ent­ste­hen nicht von selbst – sie müs­sen jeden Tag neu gelebt wer­den.

    Erin­nern heißt nicht zurück­schau­en, son­dern wach­sam blei­ben – gera­de heu­te.

    Bild­nach­weis: Bundesarchiv_Bild_146-1970–083-44 / 146‑1979-082–79 sowie Lan­des­ar­chiv Baden-Würt­em­berg
    Titel­bild mit freund­li­cher Erlaub­nis von Pfrin. S. Kan­ne­mann