Autor: Lutz Balschuweit

  • Gedenkveranstaltung zum 9. November in Wermelskirchen – Erinnern heißt Verantwortung

    Gedenkveranstaltung zum 9. November in Wermelskirchen – Erinnern heißt Verantwortung

    Der 9. Novem­ber 1938 mar­kiert einen tie­fen Ein­schnitt in der deut­schen Geschich­te. In der soge­nann­ten Reichs­po­grom­nacht brann­ten im gesam­ten Land Syn­ago­gen. Jüdi­sche Geschäf­te wur­den zer­stört, Woh­nun­gen ver­wüs­tet, Men­schen gede­mü­tigt, ver­folgt, ver­letzt und ermor­det – allein aus dem Grund, dass sie Jüdin­nen und Juden waren. Die­se Nacht war der sicht­ba­re Beginn der sys­te­ma­ti­schen Ver­fol­gung und Ver­nich­tung jüdi­schen Lebens in Deutsch­land.

    Auch in Wer­mels­kir­chen wur­de die­ses Datum erneut mit einer wür­de­vol­len Gedenk­ver­an­stal­tung began­gen. Um 18:00 Uhr ver­sam­mel­ten sich zahl­rei­che Bür­ge­rin­nen und Bür­ger am Brun­nen vor der Kir­che am Markt, um gemein­sam zu erin­nern und ein Zei­chen gegen das Ver­ges­sen und gegen jeden heu­ti­gen Anti­se­mi­tis­mus zu set­zen.

    Pfar­re­rin Sarah Kan­ne­mann ver­las die Namen der aus Wer­mels­kir­chen stam­men­den jüdi­schen Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, die in den Jah­ren der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­fol­gung ent­rech­tet, ver­trie­ben oder ermor­det wur­den. Die­se nament­li­che Erin­ne­rung zeig­te ein­mal mehr: Hin­ter jeder his­to­ri­schen Zahl ste­hen Men­schen – mit Fami­li­en, Hoff­nun­gen und Lebens­ge­schich­ten.

    Auch der neue Bür­ger­meis­ter Bernd Hibst rich­te­te Wor­te an die Anwe­sen­den. Er beton­te die Bedeu­tung des Geden­kens in der Gegen­wart, beson­ders in einer Zeit, in der Hass, Aus­gren­zung und Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen wie­der lau­ter wer­den. Das Erin­nern sei, so Hibst, nicht nur ein Blick in die Ver­gan­gen­heit, son­dern ein Auf­trag an die Zukunft: Für Mensch­lich­keit, Respekt und demo­kra­ti­sche Grund­wer­te ein­zu­ste­hen.

    Gemein­sam wur­den meh­re­re Lie­der gesun­gen, dar­un­ter auch ein Lied von Diet­rich Bon­hoef­fer, Von guten Mäch­ten und eines auf auf Hebrä­isch, Hine mah tov, die der Ver­an­stal­tung einen beson­ders berüh­ren­den Moment der Ver­bun­den­heit und des Mit­ge­fühls ver­lie­hen.

    Die Gedenk­fei­er in Wer­mels­kir­chen mach­te deut­lich: Erin­nern ist kein Rou­ti­ne­akt. Es ist ein leben­di­ger Pro­zess, in dem wir uns bewusst machen, was gesche­hen ist – und was nie­mals wie­der gesche­hen darf.

    „Nie wie­der“ beginnt hier – in unse­rer Stadt, in unse­rem All­tag, in unse­rem Mit­ein­an­der.

    Hier die Rede des Bür­ger­meis­ters Bernd Hibst im Wort­laut:

    Lie­be Frau Pfar­re­rin Kan­ne­mann, lie­be Mit­bür­ge­rin­nen und Mit­bür­ger, ver­ehr­te Gäs­te,

    wir ste­hen heu­te hier, um der Opfer der Reichs­po­grom­nacht vom 9. Novem­ber 1938 zu geden­ken.

    In jener Nacht brann­ten in Deutsch­land die Syn­ago­gen – und auch hier in Wer­mels­kir­chen wur­den jüdi­sche Mit­bür­ge­rin­nen und Mit­bür­ger ent­rech­tet, ver­folgt und aus der Gemein­schaft gesto­ßen.

    Jüdi­sche Geschäf­te wur­den geplün­dert, Woh­nun­gen zer­stört, Men­schen gejagt, gede­mü­tigt und getö­tet.

    Die­se Nacht mar­kier­te den Über­gang von Dis­kri­mi­nie­rung zu offe­ner Gewalt – von der Ent­rech­tung zur Ver­nich­tung.

    Und all das geschah nicht im Ver­bor­ge­nen, son­dern mit­ten in unse­ren Städ­ten, auf unse­ren Stra­ßen, in unse­rer Nach­bar­schaft.

    Heu­te, mehr als acht­zig Jah­re spä­ter, ste­hen wir hier – auf unse­rem Markt­platz, inmit­ten unse­res All­tags.

    Nur weni­ge Schrit­te von hier, an der Köl­ner Stra­ße, lie­gen drei der ins­ge­samt zwölf Stol­per­stei­ne in Wer­mels­kir­chen. Sie tra­gen Namen. Namen von Men­schen, die hier gelebt haben und die Teil unse­rer Gemein­schaft waren.„Unvergessen” – das ist mehr als eine Erin­ne­rung. Es ist eine Ver­pflich­tung.

    Wir geden­ken der Män­ner, Frau­en und Kin­der, denen das Mensch­sein abge­spro­chen wur­de. Und wir erin­nern an das, was gesche­hen ist – weil Schwei­gen immer der ers­te Schritt ins Ver­ges­sen ist.

    Wenn wir heu­te an die­se Nacht erin­nern, dann geden­ken wir nicht nur des uner­mess­li­chen Leids der Opfer, son­dern auch der Ver­ant­wor­tung, die dar­aus erwächst. Denn Gleich­gül­tig­keit und Hass ent­ste­hen dort, wo Men­schen weg­se­hen – und wo nie­mand wider­spricht.

    Gera­de in einer Zeit, in der wie­der Men­schen wegen ihrer Her­kunft, ihres Glau­bens oder ihrer Mei­nung aus­ge­grenzt und bedroht wer­den, ist das Geden­ken an den 9. Novem­ber aktu­el­ler denn je.

    Erin­nern heißt, Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men.
    Erin­nern heißt, die Stim­me zu erhe­ben, wenn Unrecht geschieht.
    Erin­nern heißt, Hal­tung zu zei­gen, wo Men­schen­ver­ach­tung wie­der Raum gewinnt.

    Unse­re Demo­kra­tie lebt von dem Mut, das „Nie wie­der” mit Leben zu fül­len – Tag für Tag, in klei­nen und gro­ßen Momen­ten.

    Wenn wir heu­te Ker­zen ent­zün­den, dann sind sie mehr als nur ein Licht im Dun­kel.

    Sie sind ein Zei­chen gegen das Ver­ges­sen, gegen den Hass, gegen das Schwei­gen. Und sie sind ein Ver­spre­chen: Dass wir uns jeden Tag aufs Neue ein­set­zen – für Mensch­lich­keit, für Respekt, für Zusam­men­halt.

    Ich dan­ke Ihnen allen, dass Sie heu­te hier sind und die­se Erin­ne­rung leben­dig hal­ten. Mögen die­se Ker­zen, die­se Lie­der und die­ses Geden­ken ein Zei­chen sein für eine Zukunft, in der sol­che Näch­te nie­mals wie­der mög­lich sind.

    Vie­len Dank.

  • Rheinisch-Bergischer Kreis: Deutliches Wohnungsdefizit bestätigt – Experten fordern „Wohnungsbau-Turbo“

    Rheinisch-Bergischer Kreis: Deutliches Wohnungsdefizit bestätigt – Experten fordern „Wohnungsbau-Turbo“

    Der Rhei­nisch-Ber­gi­sche Kreis steht vor einer ange­spann­ten Woh­nungs­markt­si­tua­ti­on. Laut einer aktu­el­len Ana­ly­se des Pest­el-Insti­tuts feh­len im Kreis rund 7.600 Woh­nun­gen. Gleich­zei­tig ste­hen etwa 2.060 Woh­nun­gen bereits seit einem Jahr oder län­ger leer – doch dabei han­delt es sich über­wie­gend um Immo­bi­li­en, die aus struk­tu­rel­len, bau­li­chen oder wirt­schaft­li­chen Grün­den kaum wie­der in die Ver­mie­tung zurück­keh­ren wer­den.

    Was ist das Pestel-Institut?

    Das Pest­el-Insti­tut ist ein unab­hän­gi­ges For­schungs­in­sti­tut mit Sitz in Han­no­ver. Es beschäf­tigt sich seit Jahr­zehn­ten mit sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen und woh­nungs­wirt­schaft­li­chen Ana­ly­sen und erstellt bun­des­weit Fach­gut­ach­ten zu The­men wie Woh­nungs­markt, Stadt­ent­wick­lung, Arbeits­markt und Sozi­al­po­li­tik. Das Insti­tut arbei­tet dabei im Auf­trag von Ver­bän­den, Kom­mu­nen, Minis­te­ri­en und poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­gern. Ziel ist es, Ent­schei­dungs­grund­la­gen für eine sozia­le und wirt­schaft­li­che Pla­nung bereit­zu­stel­len – wis­sen­schaft­lich fun­diert und pra­xis­nah.

    Bedarf an jährlich 1.820 neuen Wohnungen – Realität hinkt hinterher

    Die For­scher des Pest­el-Insti­tuts haben für ihre Unter­su­chung den Woh­nungs­be­stand, Ent­wick­lun­gen im Arbeits­markt sowie die Bevöl­ke­rungs­struk­tur im Rhei­nisch-Ber­gi­schen Kreis ana­ly­siert. Ihr Fazit: In den nächs­ten fünf Jah­ren müss­ten jähr­lich rund 1.820 neue Woh­nun­gen gebaut wer­den. Doch davon ist der Kreis weit ent­fernt. Im ers­ten Halb­jahr die­ses Jah­res wur­den laut Desta­tis ledig­lich 318 neue Woh­nungs-Bau­ge­neh­mi­gun­gen erteilt.

    „Der Woh­nungs­bau läuft mit ange­zo­ge­ner Hand­brem­se. So lässt sich der Bedarf nicht annä­hernd decken“, warnt Insti­tuts­lei­ter Mat­thi­as Gün­ther.

    Günstiges Baugeld als Schlüssel

    Gün­ther for­dert des­halb eine ent­schlos­se­ne poli­ti­sche Kurs­än­de­rung:

    „Wir brau­chen ein bun­des­wei­tes Zins­pro­gramm, das Bau­fi­nan­zie­run­gen auf maxi­mal zwei Pro­zent deckelt. Nur dann kön­nen pri­va­te Bau­her­ren und Inves­to­ren wie­der in den Neu­bau ein­stei­gen.“

    Ein sol­cher Zins­schub kön­ne kurz­fris­tig wirk­sam wer­den und dem Woh­nungs­bau „einen ech­ten Tur­bo-Effekt“ ver­lei­hen.

    Baustoff-Fachhandel: „Von Turbo keine Spur“

    Auch aus Sicht des Bun­des­ver­bands Deut­scher Bau­stoff-Fach­han­del (BDB) fehlt es an poli­ti­schen Impul­sen. Des­sen Prä­si­den­tin Katha­ri­na Metz­ger kri­ti­siert:

    „‚Woh­nungs­bau-Tur­bo‘ ist bis­her nur ein Schlag­wort. In der Pra­xis pas­siert viel zu wenig.“

    Die Fol­gen sei­en bereits sicht­bar: Bau­un­ter­neh­men gera­ten in Bedräng­nis, Fach­kräf­te wan­dern ab.

    Weniger Bauvorschriften, schnelleres Bauen

    Neben finan­zi­el­len Anrei­zen spielt der Abbau kom­ple­xer Bau­vor­schrif­ten eine zen­tra­le Rol­le. Vie­le neue Rege­lun­gen der ver­gan­ge­nen Jah­re hät­ten das Bau­en ver­teu­ert – ohne den gewünsch­ten Nut­zen.

    „Wenn wir Büro­kra­tie abbau­en, kön­nen im Rhei­nisch-Ber­gi­schen Kreis schnel­ler, mehr und vor allem bezahl­ba­rer Woh­nun­gen ent­ste­hen“, betont Gün­ther.

    Fazit

    Der Rhei­nisch-Ber­gi­sche Kreis steht beim The­ma Wohn­raum vor einer wei­ter wach­sen­den Lücke zwi­schen Bedarf und Ange­bot. Die Stu­die des Pest­el-Insti­tuts macht klar: Ohne geziel­te poli­ti­sche Maß­nah­men, güns­ti­ge­re Finan­zie­rungs­mög­lich­kei­ten und weni­ger Büro­kra­tie wird sich die Situa­ti­on wei­ter ver­schär­fen.

    Ent­schei­dend ist nun, ob die Bun­des­po­li­tik den Woh­nungs­bau tat­säch­lich zur Prio­ri­tät macht – und zwar nicht nur auf dem Papier.

    Bei­trags­bild: Chat GPT

  • Die Bremer Stadtmusikanten – Eine Geschichte über Mut, Würde und Zusammenhalt

    Die Bremer Stadtmusikanten – Eine Geschichte über Mut, Würde und Zusammenhalt

    Mor­gens, wenn ich mei­ne Jog­ging­run­de dre­he, habe ich fast immer einen Pod­cast im Ohr. Seit ges­tern beglei­tet mich dabei die neu­es­te Fol­ge von Alles gesagt – dies­mal mit Cem Özd­emir als Gast. Und was für ein Gespräch! Fast sie­ben Stun­den lang plau­dert er offen, klug und mit einer Pri­se Humor über sein Leben, sei­ne Erfah­run­gen und sei­ne Sicht auf die Welt. Unter vie­len ande­ren Din­gen erzähl­te er mit den bei­den Hosts  Jochen Weg­ner und Chris­toph Amend auch über die Geschich­te der Bre­mer Stadt­mu­si­kan­ten von den Brü­dern Grimm.

    Die Mär­chen der Brü­der Grimm gehö­ren zu den bekann­tes­ten Kul­tur­schät­zen des deutsch­spra­chi­gen Raums. Unter ihnen hat Die Bre­mer Stadt­mu­si­kan­ten einen beson­de­ren Platz – nicht nur als Kin­der­ge­schich­te, son­dern auch als Erzäh­lung mit bemer­kens­wer­ter Tie­fe.

    Die Geschich­te beginnt mit einem alten Esel, der von sei­nem Besit­zer nicht mehr gebraucht wird. Um dem dro­hen­den Ende zu ent­ge­hen, macht er sich auf den Weg nach Bre­men, wo er Stadt­mu­si­kant wer­den möch­te. Unter­wegs trifft er drei Gefähr­ten mit einem ähn­li­chen Schick­sal: einen alten Jagd­hund, der zu schwach zum Arbei­ten ist, eine Kat­ze, die nicht mehr rich­tig Mäu­se fängt, und einen Hahn, der dem Sup­pen­topf ent­kom­men will. Gemein­sam bre­chen sie auf, in der Hoff­nung auf ein bes­se­res Leben.

    Auf ihrer Rei­se ent­de­cken sie ein Räu­ber­haus. Durch ein gemein­sa­mes und äußerst lau­tes „Kon­zert“ gelingt es ihnen, die Räu­ber in die Flucht zu schla­gen. Die Tie­re rich­ten sich in dem Haus ein – mit gutem Essen, Schutz und Wär­me. Bre­men errei­chen sie zwar nie, doch sie haben genau das gefun­den, was sie gesucht hat­ten: ein neu­es Zuhau­se und ein selbst­be­stimm­tes Leben.

    Die Bedeu­tung der Geschich­te geht jedoch weit über das Erzähl­te hin­aus.

    Die Bre­mer Stadt­mu­si­kan­ten zei­gen, wie wich­tig Mut zur Ver­än­de­rung ist – auch dann, wenn die Aus­gangs­la­ge aus­sichts­los erscheint. Die Tie­re las­sen sich nicht ein­fach weg­wer­fen oder abschrei­ben. Sie wäh­len ihre Zukunft selbst. Eben­so steht das Mär­chen für die Kraft gemein­schaft­li­chen Han­delns: Was jedes der Tie­re allei­ne nicht geschafft hät­te, gelingt ihnen gemein­sam mühe­los. Die Geschich­te übt zudem Kri­tik an der Idee, dass der Wert eines Lebe­we­sens nur von sei­ner Leis­tungs­fä­hig­keit abhängt. Sie erin­nert dar­an, dass Erfah­rung, Loya­li­tät und Cha­rak­ter min­des­tens genau­so zäh­len wie Jugend und Stär­ke.

    Kurz gesagt:
    Die Bre­mer Stadt­mu­si­kan­ten erzäh­len davon, dass man nie zu alt oder zu schwach ist, um sei­nen eige­nen Weg zu gehen. Und dass man gemein­sam stär­ker ist als allein. Jeder bringt in einer Gemein­schaft sei­ne Fähig­kei­ten mit ein.

    Der Esel spie­gelt Geduld und Belast­bar­keit – aber auch das Recht, Gren­zen zu set­zen durch sei­ne Stör­rig­keit. Der Hund bringt Loya­li­tät und Schutz, benö­tigt selbst eben­falls Aner­ken­nung. Die Kat­ze ist selbst­stän­dig, hat aber auch das Bedürf­nis nach Wär­me und Sicher­heit. Der Hahn ist wach­sam und nährt die Hoff­nung auf einen neu­en “Mor­gen”

    Eine Bot­schaft, die heu­te aktu­el­ler scheint denn je.

    Bei­trags­bild: ChatGPT / Copi­lot

  • Das crazy

    Das crazy

    Zur­zeit weht durch vie­le Län­der ein Wind, den man nur schwer über­hö­ren kann – laut, direkt, oft wütend. Rechts­po­pu­lis­mus ist auf dem Vor­marsch, und die soge­nann­ten „ein­fa­chen Lösun­gen“ sind wie­der in Mode. Sie klin­gen ver­lo­ckend, weil sie ver­spre­chen, kom­ple­xe Pro­ble­me mit einem schnel­len Hand­griff zu besei­ti­gen. Doch wie so oft: Was ein­fach klingt, ist sel­ten nach­hal­tig – und meist auch nicht gerecht.

    Abwä­gen, Weit­sicht und gemein­sa­mes Pla­nen sind gera­de nicht beson­ders „in“. Statt­des­sen sind Aus­gren­zung und Schuld­zu­wei­sun­gen wie­der gesell­schafts­fä­hig gewor­den. Men­schen, die anders lie­ben, anders glau­ben oder ein­fach nur anders aus­se­hen, wer­den offen zum Ziel. Und selbst auf höchs­ter poli­ti­scher Ebe­ne wer­den For­mu­lie­run­gen benutzt, die die­ses Den­ken unbe­wusst bestär­ken – etwa wenn unser Bun­des­kanz­ler davon spricht, dass „wir im Stadt­bild noch die­ses Pro­blem“ hät­ten. Wor­te sind mäch­tig. Und sie ver­ra­ten, wie wir über ande­re den­ken.

    Dabei braucht es gera­de jetzt etwas ande­res: Gemein­schaft­li­ches Den­ken.
    Lösun­gen, die nicht auf Kos­ten ein­zel­ner gehen. Poli­tik, die alle mit­nimmt, statt Grup­pen gegen­ein­an­der aus­zu­spie­len. Das dau­ert län­ger, ist kom­pli­zier­ter, manch­mal anstren­gend – aber es ist der ein­zi­ge Weg, der dau­er­haft trägt.

    Ich bin fest über­zeugt: Nur gemein­sam kön­nen wir Wege fin­den, die für alle funk­tio­nie­ren. Popu­lis­mus mag laut sein, aber er führt in Sack­gas­sen. Wirk­li­che Ver­än­de­rung ent­steht dort, wo Men­schen sich zuhö­ren, gemein­sam han­deln und Geduld mit­brin­gen.

    Und wenn im Netz wie­der die­se lee­ren, end­lo­sen Dis­kus­sio­nen auf­tau­chen – über „die ande­ren“, über Schuld und ver­meint­li­che Lösun­gen –, dann sit­ze ich nicht wie im Bei­trags­bild vor dem Lap­top, son­dern läch­le ab heu­te ein­fach und sage: „Das cra­zy.“

    Denn manch­mal hilft Humor, um klar zu sehen, wie absurd ein­fa­che Ant­wor­ten auf kom­ple­xe Fra­gen wirk­lich sind.

    “Das cra­zy” Jugend­wort 2025

    Bei­trags­bild: ChatGPT

  • Der Tourist und der Fischer

    Der Tourist und der Fischer

    Wir leben in einer Zeit, in der alles immer ein biss­chen mehr sein soll. Mehr Leis­tung, mehr Erfolg, mehr Tem­po. Selbst die Pau­sen müs­sen effi­zi­ent sein. „Höher, schnel­ler, wei­ter“ – das klingt nach Fort­schritt, nach Bewe­gung, nach Zukunft. Doch oft ver­ges­sen wir, dass Wachs­tum auch Gren­zen kennt – und dass Still­stand nicht immer Rück­schritt ist.

    Viel­leicht ist die wah­re Kunst unse­rer Zeit nicht, immer mehr zu schaf­fen, son­dern wie­der zu spü­ren, was genug ist. Lang­sa­mer zu wer­den, um kla­rer zu sehen. Denn das, was zählt, lässt sich sel­ten in Zah­len mes­sen.

    Hein­rich Böll beschrieb es in sei­ner “Anek­do­te zur Sen­kung der Arbeits­mo­ral” schon zum Tag der Arbeit am 1. Mai 1963

    Zusam­men­fas­sung gefun­den bei veritas.at:

    Hein­rich Böll
    Anek­do­te zur Sen­kung der Arbeits­mo­ral

    In einem Hafen an einer west­li­chen Küs­te Euro­pas liegt ein ärm­lich geklei­de­ter Mann in sei­nem Fischer­boot und döst. Ein schick ange­zo­ge­ner Tou­rist legt eben einen neu­en Farb­film in sei­nen Foto­ap­pa­rat, um das idyl­li­sche Bild zu foto­gra­fie­ren: blau­er Him­mel, grü­ne See mit fried­li­chen schnee­wei­ßen Wel­len­käm­men, schwar­zes Boot, rote Fischer­müt­ze. Klick. Noch ein­mal: klick, und da aller guten Din­ge drei sind, und sicher sicher ist, ein drit­tes Mal: klick. Das sprö­de, fast feind­se­li­ge Geräusch weckt den dösen­den Fischer, der sich schläf­rig auf­rich­tet, schläf­rig nach sei­ner Ziga­ret­ten­schach­tel angelt, aber bevor er das Gesuch­te gefun­den, hat ihm der eif­ri­ge Tou­rist schon eine Schach­tel vor die Nase gehal­ten, ihm die Ziga­ret­te nicht gera­de in den Mund gesteckt, aber in die Hand gelegt, und ein vier­tes Klick, das des Feu­er­zeu­ges, schließt die eil­fer­ti­ge Höf­lich­keit ab. Durch jenes kaum mess­ba­re, nie nach­weis­ba­re Zuviel an flin­ker Höf­lich­keit ist eine gereiz­te Ver­le­gen­heit ent­stan­den, die der Tou­rist – der Lan­des­spra­che mäch­tig – durch ein Gespräch zu über­brü­cken ver­sucht.

    „Sie wer­den heu­te einen guten Fang machen.“

    Kopf­schüt­teln des Fischers.

    „Aber man hat mir gesagt, dass das Wet­ter güns­tig ist.“

    Kopf­ni­cken des Fischers.

    „Sie wer­den also nicht aus­fah­ren?“

    Kopf­schüt­teln des Fischers, stei­gen­de Ner­vo­si­tät des Tou­ris­ten. Gewiss liegt ihm das Wohl des ärm­lich geklei­de­ten Men­schen am Her­zen, nagt an ihm die Trau­er über die ver­pass­te Gele­gen­heit.

    „Oh, Sie füh­len sich nicht wohl?“

    End­lich geht der Fischer von der Zei­chen­spra­che zum wahr­haft gespro­che­nen Wort über. 

    „Ich füh­le mich groß­ar­tig“, sagt er. „Ich habe mich nie bes­ser gefühlt.“ 

    Er steht auf, reckt sich, als woll­te er demons­trie­ren, wie ath­le­tisch er gebaut ist. 

    „Ich füh­le mich phan­tas­tisch.“

    Der Gesichts­aus­druck des Tou­ris­ten wird immer unglück­li­cher, er kann die Fra­ge nicht mehr unter­drü­cken, die ihm sozu­sa­gen das Herz zu spren­gen droht: 

    „Aber war­um fah­ren Sie dann nicht aus?“

    Die Ant­wort kommt prompt und knapp. 

    „Weil ich heu­te mor­gen schon aus­ge­fah­ren bin.“

    „War der Fang gut?“

    „Er war so gut, dass ich nicht noch ein­mal aus­zu­fah­ren brau­che, ich habe vier Hum­mer in mei­nen Kör­ben gehabt, fast zwei Dut­zend Makre­len gefan­gen …“

    Der Fischer, end­lich erwacht, taut jetzt auf und klopft dem Tou­ris­ten beru­hi­gend auf die Schul­tern. Des­sen besorg­ter Gesichts­aus­druck erscheint ihm als ein Aus­druck zwar unan­ge­brach­ter, doch rüh­ren­der Küm­mer­nis.

    „Ich habe sogar für mor­gen und über­mor­gen genug“, sagt er, um des Frem­den See­le zu erleich­tern. „Rau­chen Sie eine von mei­nen?“

    „ Ja, dan­ke.“

    Ziga­ret­ten wer­den in Mün­der gesteckt, ein fünf­tes Klick, der Frem­de setzt sich kopf­schüt­telnd auf den Boots­rand, legt die Kame­ra aus der Hand, denn er braucht jetzt bei­de Hän­de, um sei­ner Rede Nach­druck zu ver­lei­hen. „Ich will mich ja nicht in Ihre per­sön­li­chen Ange­le­gen­hei­ten mischen“, sagt er, „aber stel­len Sie sich mal vor, Sie füh­ren heu­te ein zwei­tes, ein drit­tes, viel­leicht sogar ein vier­tes Mal aus, und Sie wür­den drei, vier, fünf, viel­leicht gar zehn Dut­zend Makre­len fan­gen … stel­len Sie sich das mal vor .“

    Der Fischer nickt.

    „Sie wür­den“, fährt der Tou­rist fort, „nicht nur heu­te, son­dern mor­gen, über­mor­gen, ja, an jedem güns­ti­gen Tag zwei‑, drei­mal, viel­leicht vier­mal aus­fah­ren – wis­sen Sie, was gesche­hen wür­de?“

    Der Fischer schüt­telt den Kopf.

    „Sie wür­den sich spä­tes­tens in einem Jahr einen Motor kau­fen kön­nen, in zwei Jah­ren ein zwei­tes Boot, in drei oder vier Jah­ren könn­ten Sie viel­leicht einen klei­nen Kut­ter haben, mit zwei Boo­ten oder dem Kut­ter wür­den Sie natür­lich viel mehr fan­gen – eines Tages wür­den Sie zwei Kut­ter haben, Sie wür­den …“, die Begeis­te­rung ver­schlägt ihm für ein paar Augen­bli­cke die Stim­me, „Sie wür­den ein klei­nes Kühl­haus bau­en, viel­leicht eine Räu­che­rei, spä­ter eine Mari­na­den­fa­brik, mit einem eige­nen Hub­schrau­ber rund­flie­gen, die Fisch­schwär­me aus­ma­chen und Ihren Kut­tern per Funk Anwei­sun­gen geben, Sie könn­ten die Lachs­rech­te erwer­ben, ein Fisch­re­stau­rant eröff­nen, den Hum­mer ohne Zwi­schen­händ­ler direkt nach Paris expor­tie­ren – und dann …“, wie­der ver­schlägt die Begeis­te­rung dem Frem­den die Spra­che. Kopf­schüt­telnd, im tiefs­ten Her­zen betrübt, sei­ner Urlaubs­freu­de schon fast ver­lus­tig, blickt er auf die fried­lich her­ein­rol­len­de Flut, in der die unge­fan­ge­nen Fische mun­ter sprin­gen.

    „Und dann“, sagt er, aber wie­der ver­schlägt ihm die Erre­gung die Spra­che. Der Fischer klopft ihm auf den Rücken, wie einem Kind, das sich ver­schluckt hat. „Was dann?“, fragt er lei­se.

    „Dann“, sagt der Frem­de mit stil­ler Begeis­te­rung, „dann könn­ten Sie beru­higt hier im Hafen sit­zen, in der Son­ne dösen – und auf das herr­li­che Meer bli­cken.“

    „Aber das tue ich ja schon jetzt“, sagt der Fischer, „ich sit­ze beru­higt am Hafen und döse, nur Ihr Kli­cken hat mich dabei gestört.“

    Tat­säch­lich zog der sol­cher­lei belehr­te Tou­rist nach­denk­lich von dan­nen, denn frü­her hat­te er auch ein­mal geglaubt, er arbei­te, um eines Tages ein­mal nicht mehr arbei­ten zu müs­sen, und es blieb kei­ne Spur von Mit­leid mit dem ärm­lich geklei­de­ten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid.

    (Hein­rich Böll: Anek­do­te zur Sen­kung der Arbeits­mo­ral. In: Robert C. Con­rad (Hg.): Hein­rich Böll. Köl­ner Aus­ga­be. Bd. 12. 1959–1963. ©2008 by Ver­lag Kie­pen­heu­er & Witsch GmbH & Co. KG, Köln)

    Bei­trags­bild ChatGPT