Humanitäre Hilfe! Eine Begegnung mit der Realität. Mit dem Deutsch-Ukrainischer Verein Blau-Gelbes Kreuz vor Ort!

Ges­tern Abend erreich­te unser Kon­voi sein Ziel. Kurz hin­ter der ukrai­ni­schen Gren­ze wur­den unse­re 15 in Deutsch­land aus­ge­dien­ten Ret­tungs­fahr­zeu­ge von ukrai­ni­schen Fah­rern über­nom­men. Die meis­ten sind jetzt noch – Stun­den spä­ter – auf dem Weg zu ihren Bestim­mungs­or­ten in Front­nä­he. Im Gegen­satz zu den Freun­den im Team, die gleich umkehr­ten, um sich auf die lan­ge Rück­fahrt zu bege­ben, blei­ben wir vier in der Ukrai­ne.

Für mich ist es die ers­te Über­nach­tung in einem Land, das mili­tä­risch von einer Groß­macht ange­grif­fen wur­de. Wer­de ich schla­fen kön­nen? Das Hotel bie­tet aus­rei­chend Kom­fort. Wie erwar­tet erhal­ten wir beim Ein­che­cken eine kur­ze Infor­ma­ti­on über den Ver­hal­tens­ko­dex im Fall eines Alarms.

Aber Gott sei Dank, es bleibt ruhig.

Ich kann schla­fen.

Wäh­rend des Früh­stücks bespre­chen wir unser Pro­gramm für den ers­ten Tag. Lin­da und Katha­ry­na haben wie immer alles prä­zi­se vor­be­rei­tet.

Auf der Fahrt zu einem Kin­der­heim hören wir ein lau­tes Ticken. Alle außer mir schei­nen zu wis­sen, was jetzt kommt. Um Punkt 9:00 Uhr mor­gens bewegt sich in der gan­zen Ukrai­ne nie­mand mehr. Das Land kommt schein­bar zum kom­plet­ten Still­stand. Men­schen ver­las­sen die Geschäf­te. Jeder bleibt dort, wo er gera­de ist, und ver­harrt bewe­gungs­los auf der Stel­le. Auto­fah­rer und alle Insas­sen ver­las­sen die Fahr­zeu­ge. Sie stei­gen mit­ten auf der Stra­ße aus. Wir auch. Die Ukrai­ner erwei­sen ihren Kriegs­to­ten und den Ver­miss­ten mit einer Schwei­ge­mi­nu­te die ver­dien­te Ehre. Gän­se­haut!

Es weht noch immer die­ser eis­kal­te Wind. Gefühlt sind es minus 15 Grad. Und es weih­nach­tet in die­sem Vor­ort von Lviv. Schüch­tern, aber auch neu­gie­rig schau­en uns die Kin­der an. Ivan­na, die uns durch die zwei Tage führt und uns heu­te Mor­gen vom Hotel abge­holt hat, erzählt ihnen und den Erwach­se­nen, woher wir kom­men und dass wir ihnen etwas mit­ge­bracht haben. Ein zehn­jäh­ri­ger Jun­ge singt ein ukrai­ni­sches Weih­nachts­lied, eine Musik­leh­re­rin trägt etwas vor. Bra­ver Applaus. Die Besche­rung ist ein Erfolg. Jür­gen Becker und ich, aber auch Lin­da und Katha­ry­na, ver­tei­len weih­nacht­li­che Lecke­rei­en aus Deutsch­land und die mit­ge­brach­ten klei­nen Geschen­ke. Herz­li­ches Hän­de­schüt­teln, kur­ze Umar­mun­gen – und dann geht es auch schon wei­ter.

Ziem­lich weit ab von Haupt­stra­ßen und Wohn­häu­sern liegt das Reha-Cen­ter an gehei­mer Stel­le in einem Wald. Zum zwei­ten Mal an die­sem Mor­gen wer­den wir hart dar­an erin­nert: Hier tobt ein grau­sa­mer Krieg. Der Chef der Kli­nik und sein Team neh­men uns freund­lich in Emp­fang. „Bit­te kei­ne Fotos von dem Gebäu­de“, heißt es. Bereits am Ein­gang begeg­nen uns Män­ner mit ampu­tier­ten Glied­ma­ßen. Eine Arma­da von Roll­stüh­len steht im Flur des Par­terres. Wir ler­nen die Psy­cho­lo­gin ken­nen. Sie erklärt uns ein­zel­ne Pati­en­ten­schick­sa­le, spricht von Trau­ma­ti­sie­run­gen in ihren ver­schie­de­nen Aus­prä­gun­gen, von Här­te­fäl­len und Per­spek­ti­ven. Was machen sol­che mas­si­ven Ver­let­zun­gen mit den Men­schen?

Wir suchen das Gespräch vor­sich­tig und takt­voll. Die meis­ten Män­ner wol­len wahr­ge­nom­men wer­den. Sie wol­len erzäh­len. Sie zei­gen uns Fotos, berich­ten, wie es geschah, spre­chen von ihren gefal­le­nen Kame­ra­den und ihren Fami­li­en. Die Atmo­sphä­re ist ruhig und freund­lich. Wir kön­nen unse­re gro­ße Betrof­fen­heit nicht ver­ber­gen, zei­gen Anteil­nah­me und ver­si­chern unse­re Soli­da­ri­tät. Natür­lich haben wir für die Hel­den ihres Lan­des zumin­dest ein klei­nes Weih­nachts­ge­schenk mit­ge­bracht. Meh­re­re Kar­tons mit Dro­ge­rie­ar­ti­keln für Män­ner über­ge­ben wir der Kli­nik­lei­tung.

Wir haben noch vie­le ähn­li­che Ter­mi­ne auf der Lis­te – har­te und schö­ne Momen­te im Wech­sel. Ganz beson­ders berührt und erschüt­tert uns der Besuch des Sol­da­ten­fried­hofs in Lem­berg. Ein paar Tau­send Lan­des­fah­nen wehen über den Grä­bern der über­wie­gend jun­gen Men­schen, die hier ihre letz­te Ruhe gefun­den haben. Auf jedem Grab ein Foto. Sie hat­ten noch ihr gan­zes Leben vor sich.

Wir gehen an die­sem Win­ter­tag, kurz vor Jah­res­en­de, sehr lang­sam an den Grä­bern vor­bei. Wir sehen Män­ner mit Kriegs­ver­let­zun­gen, die ihre toten Kame­ra­den besu­chen. Wei­nen­de Frau­en. Eltern, die ihre Söh­ne betrau­ern. Unse­re Augen sind feucht. Wir kön­nen kaum spre­chen. Der Anblick die­ser unzäh­li­gen Kreu­ze ist nicht aus­zu­hal­ten.

Was haben wir ihnen getan? War­um wol­len sie uns umbrin­gen?“, sagt Katha­ry­na lei­se mit trä­nen­er­stick­ter Stim­me. Wir müs­sen uns umar­men.

Auch wenn das Leben in der West­ukrai­ne – selbst im Stadt­bild – fast nor­mal wirkt und es hier ver­gleichs­wei­se sicher ist: Wir ler­nen, dass jede Fami­lie auch hier betrof­fen ist. Tau­sen­de Freun­de und Ver­wand­te, gelieb­te Men­schen, sind die­sem Angriffs­krieg bereits zum Opfer gefal­len oder wer­den ver­misst. Fried­hö­fe wie in Lviv gibt es in jeder ukrai­ni­schen Stadt.

In unse­ren Gesprä­chen gewin­nen wir den Ein­druck, dass die Men­schen müde und sehr trau­rig sind, aber von Resi­gna­ti­on kei­ne Spur. Sie wer­den wei­ter kämp­fen, denn man hat ihnen schon so viel genom­men. Man­che sagen: „Was haben wir noch zu ver­lie­ren?“ Sie sind wild ent­schlos­sen, Wider­stand zu leis­ten und für ihre Frei­heit alles zu geben.

Die gebür­ti­gen Ukrai­ne­rin­nen Lin­da und Katha­ry­na haben ihre Ent­schei­dung getrof­fen. Mit dem deutsch-ukrai­ni­schen Ver­ein BGK wol­len sie noch mehr huma­ni­tä­re Hil­fe von Deutsch­land aus leis­ten. Für den Köl­ner Kaba­ret­tis­ten Jür­gen Becker und mich steht fest: Wir wer­den ihnen, dem BGK und allen Ver­tei­di­gern unse­rer Frei­heit zur Sei­te ste­hen.

Hin­weis: alle Fotos von Kin­dern wur­den mit aus­drück­li­cher Zustim­mung der Erzie­hungs­be­rech­tig­ten auf­ge­nom­men und für Ver­öf­fent­li­chung frei­ge­ge­ben.
Fotos von Kriegs­ver­sehr­ten wur­den mit ihrer Zustim­mung und der Geneh­mi­gung der Ärz­te auf­ge­nom­men. Und wur­den frei­ge­ge­ben .

Fotos. Lothar Dähn


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