Gefahr und Gewalt im Gesundheitswesen – Physische und Psychische Belastung

Gewalt gegen medi­zi­ni­sches Per­so­nal ist längst kein Ein­zel­fall mehr, son­dern ein alar­mie­ren­des, struk­tu­rel­les Pro­blem, das unse­ren Arbeits­all­tag im Gesund­heits­we­sen mas­siv belas­tet. Fast die Hälf­te aller Ärz­tin­nen und Ärz­te sowie ihres Pra­xis­teams waren in den letz­ten fünf Jah­ren von kör­per­li­cher Gewalt betrof­fen. Die Poli­zei­sta­tis­ti­ken zei­gen, dass seit 2019 die Zahl der soge­nann­ten Roh­heits­de­lik­te in Kli­ni­ken deut­lich gestie­gen ist. Der All­tag vie­ler Beschäf­tig­ter ist geprägt von Belei­di­gun­gen, Bedro­hun­gen und tät­li­chen Angrif­fen.

Haupt­for­men der Gewalt:

  • Ver­bal: Dro­hun­gen, Belei­di­gun­gen, ras­sis­ti­sche oder sexu­el­le Äuße­run­gen
  • Non­ver­bal: Kör­per­li­che Angrif­fe, Sach­be­schä­di­gung

Beson­ders betrof­fen: Pfle­ge­per­so­nal, ins­be­son­de­re weib­li­che Beschäf­tig­te. Häu­fig durch Ange­hö­ri­ge, weni­ger durch Patient*innen selbst.

Häu­fi­ge Aus­lö­ser:

  • Lan­ge War­te­zei­ten in der Not­auf­nah­me
  • Erwar­tung schnel­ler Behand­lung trotz Tria­ge-Sys­tem
  • Unver­ständ­nis gegen­über der Arbeits­be­las­tung

Spe­zi­fi­sche Bei­spie­le:

  • Ras­sis­mus gegen Per­so­nal mit Kopf­tuch oder dunk­ler Haut­far­be
  • Sexu­el­le Beläs­ti­gung bei Pfle­ge­hand­lun­gen
  • Phy­si­sche Angrif­fe (z. B. Schwitz­kas­ten, Trit­te)

Gewalt auch im Team mög­lich: Druck durch Vor­ge­setz­te, Kolleg*innen oder ande­re Abtei­lun­gen.

Die Ursa­chen sind kom­plex, aber deut­lich: Gesell­schaft­li­che Ver­ro­hung, ein zuneh­men­der Respekt­ver­lust gegen­über Hel­fen­den, Stress und Über­for­de­rung auf Sei­ten der Patient*innen und des Per­so­nals sowie sys­te­mi­sche Pro­ble­me wie Per­so­nal­man­gel und lan­ge War­te­zei­ten. Dar­über hin­aus tra­gen psy­chi­sche Erkran­kun­gen oder unrea­lis­ti­sche Erwar­tun­gen an die Ver­sor­gung zur Eska­la­ti­on bei. In NRW wur­den im Jahr 2024 rund 300 Kli­nik­an­ge­stell­te Opfer von Gewalt, davon ein Groß­teil Pfle­ge­kräf­te. Die Berich­te zei­gen, dass jähr­lich rund 5.300 gewalt­tä­ti­ge Über­grif­fe so schwer­wie­gend sind, dass sie min­des­tens drei Tage Arbeits­un­fä­hig­keit nach sich zie­hen. Die Fol­gen sind gra­vie­rend: Über 90 Pro­zent der Betrof­fe­nen erlei­den Angst­zu­stän­de, Schlaf­lo­sig­keit und Depres­sio­nen, wäh­rend Kli­ni­ken mit Krank­heits­aus­fäl­len, Kün­di­gun­gen und einem ver­gif­te­ten Arbeits­kli­ma zu kämp­fen haben. Für die Gesell­schaft bedeu­tet das ein erheb­li­ches Ver­trau­ens­pro­blem gegen­über der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung.

Pra­xis­bei­spiel: Wenn Wor­te zu Gewalt wer­den

Situa­ti­on:
Ein Ange­hö­ri­ger fragt wie­der­holt, wann sei­ne Mut­ter in der über­las­te­ten Not­auf­nah­me behan­delt wird. Das Team erklärt mehr­fach, dass die Rei­hen­fol­ge nach Dring­lich­keit erfolgt und kei­ne Zeit­an­ga­ben mög­lich sind. Die Ambu­lanz ist maxi­mal aus­ge­las­tet, alle ren­nen zwi­schen Patient*innen und Not­fäl­len.

Eska­la­ti­on:
Irgend­wann ras­tet der Ange­hö­ri­ge aus. Er beschimpft eine Kol­le­gin mas­siv, setzt sie unter Druck, sodass sie Schutz bei den Kol­le­gen sucht. Im War­te­zim­mer schreit er wei­ter, stif­tet Unru­he und lässt sich nicht beru­hi­gen. Selbst als meh­re­re Mit­ar­bei­ten­de vor ihm ste­hen, brüllt er wei­ter und kommt einem Kol­le­gen bedroh­lich nahe. Auf­for­de­run­gen, Abstand zu hal­ten, igno­riert er.

Psy­chi­sche Fol­gen:

  • Angst und Stress bei allen Betei­lig­ten
  • Gefühl der Hilf­lo­sig­keit und Kon­troll­ver­lust
  • Lang­fris­tig: Schlaf­stö­run­gen, erhöh­te Alarm­be­reit­schaft, Burn­out-Risi­ko

Phy­si­sche Fol­gen:

  • Erhöh­te Herz­fre­quenz, Adre­na­lin­schub
  • Mus­kel­ver­span­nun­gen, Kopf­schmer­zen
  • Gefahr kör­per­li­cher Ver­let­zun­gen bei Eska­la­ti­on

Die­ses Bei­spiel zeigt: Gewalt beginnt nicht erst mit Schlä­gen – psy­chi­scher Druck kann genau­so trau­ma­ti­sie­rend sein. Um dem ent­ge­gen­zu­wir­ken, for­dern Fach­ver­bän­de eine Rei­he von Maß­nah­men. Dazu gehö­ren Dees­ka­la­ti­ons­trai­nings und Kon­flikt­ma­nage­ment für das Per­so­nal, kon­se­quen­te recht­li­che Schrit­te gegen Täter sowie bau­li­che Sicher­heits­maß­nah­men wie Video­über­wa­chung und Panik­knöp­fe. Auch eine gesell­schaft­li­che Äch­tung von Gewalt gegen medi­zi­ni­sche Beschäf­tig­te ist uner­läss­lich. Zudem müs­sen Not­fall­ver­sor­gung und Per­so­nal­aus­stat­tung grund­le­gend refor­miert wer­den, um Stress und Über­for­de­rung zu ver­rin­gern.

Für Pfle­ge­kräf­te hat Dees­ka­la­ti­on obers­te Prio­ri­tät: ruhig blei­ben, Distanz schaf­fen und Warn­zei­chen früh­zei­tig erken­nen. Soll­te eine Situa­ti­on eska­lie­ren, ist Flucht der wich­tigs­te Schutz. Befrei­ungs­tech­ni­ken und geziel­te Schlä­ge auf emp­find­li­che Stel­len kön­nen im äußers­ten Not­fall hel­fen, Zeit für die Flucht zu gewin­nen. Trai­nings wie Krav Maga, Kick-Boxen oder Selbst­ver­tei­di­gungs­kur­se in den Kli­ni­ken unter­stüt­zen die Vor­be­rei­tung auf rea­le Sze­na­ri­en und stär­ken das Kör­per­be­wusst­sein. Tech­ni­sche Hilfs­mit­tel wie Taschen­lam­pen mit Stro­be-Funk­ti­on oder per­sön­li­che Alarm­ge­rä­te kön­nen die Sicher­heit erhö­hen, sind jedoch kei­ne Lösung für die grund­le­gen­den Pro­ble­me.

Die Bun­des­ärz­te­kam­mer unter­stützt die Ein­rich­tung von Ombuds­stel­len (eine unab­hän­gi­ge, neu­tra­le Anlauf­stel­le, die dazu dient, Beschwer­den, Kon­flik­te oder Miss­stän­de auf­zu­grei­fen und zu bear­bei­ten – oft im Sin­ne einer ver­mit­teln­den oder schlich­ten­den Funk­ti­on) und bun­des­wei­ten Mel­de­sys­te­men, wäh­rend Orga­ni­sa­tio­nen wie die AOK und der Deut­sche Berufs­ver­band für Pfle­ge­be­ru­fe Gewalt als poli­ti­sches Pro­blem begrei­fen und Refor­men in der Not­fall­ver­sor­gung for­dern. Punk­tu­el­le Maß­nah­men sind zwar sinn­voll, rei­chen aber nicht aus. Gewalt im Gesund­heits­we­sen ist ein gesamt­ge­sell­schaft­li­ches The­ma, das ent­schlos­se­nes und nach­hal­ti­ges Han­deln ver­langt.

Die zuneh­men­de Ver­ro­hung der Gesell­schaft zeigt sich in einer stei­gen­den Zahl von ver­ba­len und kör­per­li­chen Über­grif­fen gegen­über Men­schen in sozia­len und sicher­heits­re­le­van­ten Beru­fen. Pfle­ge­kräf­te, Ret­tungs­diens­te, Feu­er­wehr und Poli­zei sind dabei beson­ders gefähr­det, da sie in Stress­si­tua­tio­nen mit emo­tio­nal auf­ge­la­de­nen Per­so­nen arbei­ten. Ursa­chen sind unter ande­rem gesell­schaft­li­che Pola­ri­sie­rung, sin­ken­de Hemm­schwel­len in der Kom­mu­ni­ka­ti­on und die wach­sen­de Belas­tung durch sozia­le Medi­en, die Aggres­sio­nen ver­stär­ken. Eine star­ke Gesell­schaft braucht vor allem eines: Zusam­men­halt. Doch gera­de in unse­rer Zeit füh­len sich vie­le Men­schen zuneh­mend ent­frem­det und iso­liert. Um die­sem Trend ent­ge­gen­zu­wir­ken, wäre es sinn­voll, auf drei zen­tra­le Säu­len zu set­zen:

  1. Mehr ech­te Begeg­nungs­räu­me schaf­fen: Loka­le Initia­ti­ven wie Nach­bar­schafts­tref­fen, Ver­ei­ne oder offe­ne Werk­stät­ten sind wich­ti­ge Orte, an denen Men­schen unab­hän­gig von Her­kunft oder sozia­lem Sta­tus zusam­men­kom­men und gemein­sa­me Erfah­run­gen machen kön­nen. Auch digi­ta­le Platt­for­men soll­ten nicht nur für vir­tu­el­le Dis­kus­sio­nen genutzt wer­den, son­dern vor allem dazu, rea­le Tref­fen zu orga­ni­sie­ren.
  2. Bil­dung als Schlüs­sel: Mehr Medi­en­kom­pe­tenz und kri­ti­sches Den­ken, sowohl in Schu­len als auch in der Erwach­se­nen­bil­dung, um Pola­ri­sie­run­gen und Fake News zu begeg­nen. Dia­log­for­ma­te – etwa Bür­ger­fo­ren oder mode­rier­te „Run­de Tische“ – kön­nen hel­fen, kon­tro­ver­se The­men respekt­voll zu dis­ku­tie­ren und so Ver­ständ­nis zwi­schen unter­schied­li­chen Grup­pen zu för­dern statt Spal­tung zu ver­tie­fen.
  3. Gemein­sa­me Pro­jek­te stär­ken das Gemein­schafts­ge­fühl: Wenn Men­schen angreif­ba­re, für alle wich­ti­ge Zie­le ver­fol­gen – sei es Umwelt­schutz, Ver­bes­se­rung der loka­len Infra­struk­tur oder sozia­les Enga­ge­ment – bau­en sie Brü­cken zuein­an­der. Frei­wil­li­gen­ar­beit und gemein­schaft­li­ches Hel­fen zei­gen, dass wir zusam­men mehr errei­chen kön­nen, und sie schaf­fen star­ke Ver­bin­dun­gen unter­ein­an­der.

Das Kern­stück all des­sen ist, dass Men­schen wie­der spü­ren müs­sen, Teil einer Gemein­schaft zu sein, die sie aktiv mit­ge­stal­ten kön­nen. Nur durch ech­te Begeg­nun­gen, gemein­sa­me Zie­le und offe­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on wächst Ver­trau­en und Zusam­men­halt in unse­rer Gesell­schaft.

Ein Blick zurück auf die Pfle­ge als unser Bei­spiel: Men­schen dabei zu hel­fen, wie­der gesund zu wer­den oder zumin­dest Lin­de­rung zu schaf­fen und sie zu beglei­ten, ist ein schö­ner, aber for­dern­der Beruf. Die Gewalt nimmt zu und trotz­dem zei­gen Pfle­ge­kräf­te und Ärz­tin­nen sowie Ärz­te wei­ter­hin hohen per­sön­li­chen Ein­satz und Lei­den­schaft für ihre Arbeit.

Umso wich­ti­ger ist es, ihnen Sicher­heit, Wert­schät­zung und Unter­stüt­zung zu geben. Respekt ist kei­ne Opti­on, son­dern Pflicht – füge nie­man­dem zu, was du selbst nicht ertra­gen wür­dest!

Foto: Oktay Bahar

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert