Über Vögel und andere Lebewesen

Ein Wort zum Montag, dem 20. Juni 2022

VON CORNELIA SENG

Zur Zeit stehe ich früh auf. Ich mache das Fenster weit auf. Es ist noch wenig Verkehr auf der Straße nebenan. Die Sonne beginnt ihren Lauf, und die Vögel singen. Fasziniert höre ich ihnen zu. Die Amseln sind im Gespräch miteinander: wenn die eine still ist, antwortet die andere. Wie großartig Vögel singen können! Ich versuche, die verschiedenen Melodien zu behalten. Ich lausche und bin „ganz Ohr“. Wie entsetzlich wäre es, wenn die Welt um uns herum stumm wäre! Oder wenn nur noch der Lärm von menschengemachten Maschinen zu hören wäre!

In der vergangenen Woche war ich mit einer Freundin zum Essen verabredet. Wir waren in einem guten Lokal, das gerade renoviert worden war. In „For Ladies“ hat man Bewegungsmelder eingebaut: sobald man die Tür öffnet, zwitschern Vögel. Doch warum lässt mich dieses Gezwitscher kalt? Es ist nicht mehr als ein Geräusch. Hier singen keine lebendigen Vögel. Sie antworten einander nicht. Sie fliegen nicht weg oder sind plötzlich wieder zu hören. Überrascht hat mich am Anfang nur der technische Gag, mehr nicht. Da lässt nichts mehr aufhorchen, nichts mehr hinhören. Es ist eine Endlosschleife, die ich mit der Türöffnung selber bedienen kann.
Warum ist es mit dem Gesang der Vögel am Morgen anders?

Was fasziniert an ihrer Lebendigkeit? Ist es ihre Unverfügbarkeit? Ich habe keine Macht über sie. Überraschend nehme ich teil am Leben anderer Wesen – und fühle mich selbst lebendig. Ich bin nicht allein, ich bin „in die Welt gestellt“, ich bin ein Teil von Gottes Schöpfung.

Jesus hat die Vögel als Beispiel in seiner Predigt gewählt. „Seht die Vögel unter dem Himmel an“, sagt er zu den Jüngern. „Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?“ (Mt 6,26).

Können wir von den Vögeln lernen? Lassen wir uns von ihrer Lebensfreude anstecken? Und von ihrer Sorglosigkeit? Ihr Vertrauen in den, der sie ins Leben rief, scheint unerschöpflich.

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten
(Hilde Domin)

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