Der Wahnsinn der Freiheit oder die Freiheit des Wahnsinns

VON WOLFGANG HORN

2019 sind in Deutschland 112 Kinder vorsätzlich oder fahrlässig getötet worden oder in Folge von Körperverletzung gestorben. Die meisten Opfer, nämlich 93, waren unter sechs Jahre alt. Die Gesamtzahl ist im Vergleich zu 2018 leicht um 24 zurückgegangen. So eine Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik zu kindlichen Gewaltopfern.

In den USA hingegen kamen im Jahr 2020 etwa 4300 Kinder und Jugendliche durch Schusswaffen ums Leben. Der Tod durch Schusswaffen ist die häufigste Todesursache von jungen Menschen dort. Und das ist nicht weniger als der helle Wahnsinn.

Jetzt, in dem Moment, da ich diese Zeilen schreibe, tagt in Texas die National Rifle Association, die mächtige Lobbyorganisation der us-amerikanischen Waffenhersteller. Nicht wirklich weit entfernt vom Ort des jüngsten Massakers, der Robb Elementary School in der texanischen Kleinstadt Uvalde. In der Einladung fürs waffenstarrende Treffen ist von einem „Wochenende voller Freiheit für die ganze Familie“ die Rede. Zynischer kann es nicht mehr zugehen. Markus Feldenkirchen nennt das im Spiegel einen „völlig pervertierten Freiheitsbegriff“.

Da weiß sich jeder Kommentator schnell einig mit der übergroßen Mehrheit der Menschen in unserem Land: Die amerikanische Waffenkultur ist die Unkultur pervertierter Freiheit, ist das alte Gesetz des schneller Ziehenden, das Egomanie setzt gegen die Kultur der Kommunikation und der Verständigung. Das Gemeinwesen, das sich Regeln gibt fürs Zusammenleben und Staat und Gesellschaft mit einem Gewaltmonopol austattet, wird aufs äußerste verunglimpft, verächtlich gemacht und bekämpft. God bless America.

Aber, schauen wir genauer hin: Diesen entstellten Freiheitsbegriff, der den Einzelnen nachgerade in Gegnerschaft sieht zum Gemeinwesen, finden wir zu Hauf auch in unserem Land. Wenn sich alle selber helfen, ist allen geholfen. Jeder ist seines Glückes Schmied. Der Markt regelt alles. Deswegen brauchen wir nur einen Minimalstaat, der Rahmenbedingungen setzt, sich ansonsten aber aus allem rauszuhalten hat. Freedom Day ist, wenn der Einzelne keine Vorsicht mehr walten lassen muß beim Gesundheitsschutz. Freedom Day ist, wenn ich die Impfung verweigere, obwohl dadurch das Risiko für vulnerable, also verletzliche Gruppen der Gesellschaft, Kranke, Alte, Behinderte, steigt, sich zu infizieren, zu erkranken und womöglich zu sterben. Freedom Day ist, wenn ich auf der Autobahn unbeschränkt Gas geben darf, wissend, daß dieses Verhalten die Klimakrise weiter verschärft. Freedom Day ist, wenn das Ego des Einzelnen gegen die Bedürfnisse anderer und der ganzen Gemeinschaft rücksichtslos durchgesetzt wird und über allem steht. Das mag alles mögliche sein. Freedom, Freiheit ist es jedenfalls nicht.

Kommentare (2) Schreibe einen Kommentar

  1. Und dann wundert sich so mancher, wenn man keine Lust mehr auf diese “Gesellschaft” hat.

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    • Dr. Michael Bredenbröker
    • 30.05.22, 8:15 Uhr

    Ohne Regeln ist es keine Freiheit.

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