Kein Freedom-Day

VON WOLFGANG HORN

Nackte Zahlen vom Wochenende und der Versuch, sie anschaulich zu machen: 74.053 Coronainfektionen hat es binnen 24 Stunden in Deutschland gegeben. Das entspricht ziemlich genau der Einwohnerzahl der Stadt Bamberg oder mehr der doppelten Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Wermelskirchen. Insgesamt gab und gibt es etwa 21,62 Millionen Coronafälle bislang in ganz Deutschland, also knapp 26%, mehr als ein Viertel der bundesdeutschen Bevölkerung. 4.418.312 Personen sind ganz aktuell, in diesem Moment in Deutschland mit Corona infiziert. Das sind 5,31% aller Einwohner. Oder so viele Menschen, wie zusammen in Hamburg, München und Köln wohnen. 

Die meisten Krankenhauspatienten, die mit Corona infiziert sind, liegen mittlerweile auf den Normalstationen. Aber immer noch mehr 2.200 Patienten werden auf den Intensivstationen behandelt, viele von ihnen, etwa ein Drittel, müssen beatmet werden. 130.029 Menschen sind bislang in Deutschland an oder mit Corona gestorben. Das entspricht etwa der Größe der Stadt Offenbach am Main. Alle Einwohner ausgelöscht, gestorben am Corona-Virus. Wir wissen nicht, wieviele Menschen am Long-Covid-Syndrom leiden. An ständiger Müdigkeit, komplett nachlassender Leistungsfähigkeit, ständigen Glieder- und Kopfschmerzen. Jedenfalls ist der Beratungsbedarf in den Arztpraxen jetzt bereits immens. Und weil die Infektionszahlen derart in die Höhe geschossen sind und die Dunkelziffer immens ist, befürchten Fachleute eine stark ansteigende Zahl von Long-Covid-Fällen in Deutschland. 

Alleine in Bayern können derzeit etwa 70.000 Schüler nicht am Präsenzunterricht in den Schulen teilnehmen, sondern mußten von zu Hause aus auf digitalem Wege den Lernstoff aufnehmen. Die große Zahl von infizierten Menschen führt zu Personalengpässen in sehr vielen Produktions- und Dienstleistungsbereichen, in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, im öffentlichen Nahverkehr, bei Behörden und Ämtern. Kaum jemand, in dessen ganz persönlicher Umgebung nicht immer mehr Fälle von Covid-Infektionen bekannt werden. 

Und heute sollen fast alle Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung der Infektionswelle beendet werden? Was für ein Irrsinn. Wir begehen auf Geheiß der Scharfmacher einer kleinen Partei einen Freedom-Day, der mit Freedom, mit Freiheit von der Pandemie nicht das allergeringste zu tun hat. Die Freiheit von Schutzmaßnahmen gegen gesundheitliche Gefährdung ist nicht einmal eine oberflächliche Freiheit. Hier feiert der Ellbogen-Individualismus fröhlich Urständ. Jeder ist seines Glückes Schmied. Wer die schärferen Rasierklingen an die Ellbogen montiert, kann die anderen besser aus dem Rennen befördern. Das ist die Freiheit à la Darwin. Es ist nicht allen geholfen, wenn jeder nur auf sich selbst sieht. Die Schwachen und Verletzlichen, die Vorerkrankten, die Menschen mit schweren chronischen Krankheiten, Kinder und Senioren, Behinderte, Transplantierte, Asthmatiker, sie alle bedürfen des Respekts und des Schutzes der Gesellschaft. Sie nehmen nicht am Freedom-Race teil, am Wettbewerb um die tollkühnsten Ego-Erfolge, die größte Party, das längste Shopping, das Event mit den größten Zuschauerzahlen, das Riesenkonzert, die längste Flugreise im vollsten Flugzeug. Derjenige, für den schon die Teilnahme an einem nicht sehr gut besuchten Gottesdienst in einer Kleinstadtkirche ein Risiko darstellen kann, wird nicht auf die Idee kommen, auf den Mund-Nasenschutz beim Einkauf oder Arztbesuch zu verzichten. Kein Freedom-Day.

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