Zivilisationsbruch

VON WOLFGANG HORN

Zvilisationsbruch. Nicht wirklich oft zu hören und zu lesen, dieses Wort. Zivilisationsbruch, ein Gedanke, dessen Wucht sich nicht auf den ersten Blick erschließt. Nachdenken und historische Vergewisserung lassen dann schaudern. Der Holocaust etwa stellte einen Zvilisationsbruch dar. Die gleichsam industrielle Vernichtung der europäischen Juden durch die nationalsozialistische Diktatur in Deutschland. Es gibt ein vor und nach einem Zivilisationsbruch. Der ist mehr als eine Zeitenwende, mehr als lediglich eine historische Markierung; der Zivilisationsbruch stellt einen fundamentalen Kollaps zivilisatorischer Übereinkünfte, der Humanität und Moral, politischer Verträge und Verabredungen dar und hat eine nahezu vollständige Disruption und Veränderung politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse zur Folge.

Der Angriffskrieg Rußlands gegen die Ukraine, seine argumentativ-rhetorische Vorbereitung durch den russischen Präsidenten und den Außenminister Rußlands, die sprachliche Verharmlosung des Krieges als Spezialoperation, die Einschüchterung und Knebelung der eigenen Bevölkerung sowie das Arsenal von Lügen, Fälschungen und Unwahrheiten zur nachträglichen Legitimation des Angriffskrieges und der Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Bevölkerung sind eindeutig ein derartiger Zivilisationsbruch.

Der russische Präsident Wladimir Putin vergleicht etwa die Absage von Auftritten russischer Künstler im Westen mit den Bücherverbrennungen der Nazis. “Heute versucht man, ein tausend Jahre altes Land auszulöschen“, so Putin in einem im Fernsehen übertragenen Gespräch mit Künstlern. ”Das letzte Mal, dass eine solche Massenkampagne zur Vernichtung unerwünschter Literatur ausgeführt wurde, war vor fast 90 Jahren von den Nazis in Deutschland. Wir erinnern uns noch gut an die Bilder von brennenden Büchern auf öffentlichen Plätzen.” 

Puschkin und Dostojewski, Tolstoi und Grossmann, Lew Kopolew oder Solschenizyn aber sind allesamt in deutschen Buchhandlungen zu haben. Es gibt kein Leseverbot, kein Kaufverbot. Anders als in Rußland können sich die Menschen in Deutschland frei und ungehindert informieren und lesen, was ihnen zwischen die Finger kommt. Noch vor wenigen Tagen war eine großartige TV-Dokumentation über die russische Starautorin Ljudmila Ulitzkaja im Fernsehen zu sehen. Die russische Literatur findet nach wie vor ungeheuer viele Freunde und Leser hier im Land. Trotz der russischen Menschenrechtsverletzungen, trotz des Angriffskriegs. 

Mit Blick auf westliche Sanktionen spricht Russlands Außenminister Sergej Lawrow der Staatsagentur Tass zufolge von einem gegen Moskau gerichteten “totalen Krieg”. Lawrow sagt weiter, Europas Politiker wollten Russland “zerstören, brechen, vernichten, erdrosseln”. Kein Politiker aus dem Westen, kein NATO-Vertreter, kein einziges Regierungsmitglied irgendeines der EU-Länder, niemand aus irgendeinem europäischen Parlament hat jemals dieses Goebbels-Wort in Richtung Rußland verwendet. Es ist mehr als Infamie, wenn Lawrow die Nazi-Propagandaphrase als Entlastung oder Begründung für die Aggression des eigenen Landes verwendet. Auch die eigene Bevölkerung wird sich auf diese Weise nicht lange sedieren lassen.

Wenn das größte Land Europas das zweitgrößte Land überfällt, einen Teil des Landes okkupiert, der Regierung die Legitimität abspricht, die Bevölkerung mit Bomben und Raketen terrorisiert, zivile Einrichtungen, Krankenhäuser, Kindergärten, Wohnungen, Plätze und Straßen dem Erdboden gleichmacht, dann wird die Nachkriegsordnung in Europa zerstört. Dann wird die Sicherheit zerstört, daß es in Europa keine Kriege mehr geben wird und darf. Das friedliche Nebeneinander, der Handel, europäische Kooperationen, das gewachsene Miteinander in übernationalen Verbünden und Einrichtungen, all das wird von Rußland in Frage gestellt. Und: Rußland ist die größte Nuklearmacht der Welt. Die Bedrohung der Menschheit muß nicht einmal ausgesprochen werden. Das ist der Zivilisationsbruch, auf den alle anderen Staaten, vor allem in Europa, jetzt reagieren müssen. Dem Aggressor Rußland bleiben in der UNO-Vollversammlung nur noch die Diktatoren in Nord-Korea, Kim Yong-un, in Syrien, al-Assad, in Belarus, Aleksander Lukaschenko, und in Eritrea, Isayas Afewerki, gleichsam als autokratische Resterampe an der Seite. Eine nachbarschaftliche Gemeinschaft, die so unappetitlich wie aussagekräftig ist.

Rußland mag im Krieg einstweilen vielleicht militärisch die Oberhand behalten, was indes noch keineswegs ausgemacht ist. Politisch, zivilisatorisch hat das Regime indes komplett abgewirtschaftet. Verträge, Vereinbarungen, Übereinkünfte sind nach diesem Krieg das Papier nicht wert, auf dem sie unterzeichnet worden sind. Kaum vorstellbar, daß es jemals wieder zu offenen Handelsbeziehungen kommen wird, zu einem geregelten Nebeneinander, zu einem gedeihlichen Miteinander. Die Welt steht einig gegen Rußland. Das ist das schlechteste Ergebnis, das der russische Zivilisationsbruch fürs eigene Land und für die eigenen Menschen ergeben wird. 

Ich bin kein Diplomat. Ich muß nicht abgewogen formulieren. Es ist hohe Zeit für eine russische Revolution. Diesmal eine für Demokratie und Rechtsstaat, für Volksherrschaft und Presse-, Meinungs-, Kunst- und Versammlungsfreiheit. Für demokratische Gewaltenteilung. Für eine gute Nachbarschaft mit allen europäischen Völkern. Für eine Ächtung des Krieges und radikale Abrüstung. Eine Revolution infolge und wider den russischen Zivilisationsbruch.

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