Der Irrtum des Michael Stifel

Ein Wort zum Montag, dem 17. Januar 2022

VON CORNELIA SENG

Erst im vergangenen Sommer habe ich ihn kennengelernt, den Michael Stifel. Da waren wir unterwegs zur Erforschung der Familiengeschichte. Auf dem Marktplatz in Annaburg im Kreis Wittenberg hat man ihm ein Denkmal gesetzt. Er steht auf einer tief gespaltenen Weltkugel mit der Bibel in der Hand. Zur Erklärung liest man: „1533 verkündete Pfarrer Michael Stifel für Sonntag, 19. Oktober 8 Uhr den Weltuntergang“. Die Tiere sollte es zuerst treffen, dann die Menschen, so hatte er es gepredigt. Früh an diesem Morgen soll die Kirche rappelvoll gewesen sein, so wird berichtet. Selbst aus Schlesien und der Lausitz waren die Menschen angereist. Viele hatten ihren Besitz verkauft und verprassten das Geld. Anderen wurde angst und bange, sie taten Buße und flehten um Gnade. Der Wahnsinn schien grenzenlos.

Wie kommt ein Mensch wie Michael Stifel zu solch einer Ansage? Er stand doch mit Martin Luther, dem große Reformator, in Verbindung. Und er kann auch nicht dumm gewesen sein. Im Gegenteil. Er war ein Rechengenie. Zahlen begeisterten ihn.

Michael Stifel hatte die „Wortrechnung“ erfunden. Mit Hilfe eines komplizierten Rechensystems hatte er aus Buchstaben der Bibel Zahlen gemacht und so den Weltuntergang berechnet, auf Tag und Stunde genau. Er war so überzeugt von dieser hintersinnigen Erklärung der Bibel, dass er nicht mehr sah, welches Leid er den Menschen in Annaburg, das damals noch Lochau hieß, damit zufügte. Leid, Verwirrung und Chaos. Als der Weltuntergang ausblieb, standen viele vor dem Nichts.

Wie kann man die Bibel so falsch verstehen?

Die Bibel ist eine Sammlung von sehr alten Texten unterschiedlicher Entstehungszeit. Man muss sie mit den Mitteln der Geschichtsforschung auslegen, um zu verstehen, was sie sagen wollten. Nichts ist geheim. Im Gegenteil. Jeder der Schreiber war darauf aus, verstanden zu werden. Hier soll jeder und jede lesen können und es verstehen. Jeder soll es s e l b e r lesen und verstehen, das war das Anliegen Martin Luthers. Deshalb hat er die Bibel übersetzt. Um sie zu verstehen, braucht man keine „Wortrechnung“ und kein Geheimwissen. Aber seinen Verstand. Und man muss achtsam hören, wie andere Menschen die Bibel verststanden haben. Und ab und zu muss man sich auch selber in Frage stellen: Liege ich richtig mit meiner Interpretation?

All das hat Michael Stifel wohl nicht gemacht. Er hat die Mahnungen Luthers in den Wind geschlagen und mit dem Geheimwissen seiner „Wortrechnung“ geprahlt. Am 19. Oktober 1533 passierte nichts in Annaburg – außer einer großen Blamage. Michael Stifel musste in Sicherheitsgewahrsam genommen werden. Er war unten durch und als Pfarrer völlig ungeeignet! Später ist er Mathematiker an der Universität Leipzig geworden. Zur Logarithmenrechnung soll er Wesentliches beigetragen haben. Doch seine Studenten haben mit Blick auf den ausgebliebenen Weltuntergang Spottlieder auf ihn gedichtet: „Sti(e)fel muss sterben, ist noch so jung, so jung …“ und einen Stiefel Bier auf ihn getrunken. Wie sehr man sich doch verrennen kann!

Ein Geheimnis umgibt die Bibel aber doch: Immer wieder fühlen sich Menschen durch die Geschichten und Gebete ermutigt und getröstet. Manchen geht ein Licht auf, sie fühlen sich eingeladen zum Glauben und zum Vertrauen. Warum das so ist, bleibt das Geheimnis Gottes. Kein Geheimnis, von dem man nicht erzählen dürfte, aber ein Geheimnis, das immer aufs Neue staunen lässt.

„Wort, das lebt und spricht, wenn die Wörter schweigen,
Wort, das wächst und blüht, wenn die Sprüche welken:
Komm durchs Buch der Bücher, das in vielen Sprachen Hoffnung in die Welt bringt“.
(Dieter Trautwein, 1979)

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