Corona-„Spaziergang“

VON WOLFGANG HORN

Spaziergang. Wer denkt da nicht an geruhsames, zweckloses Schlendern, auch an wohlanständig-bürgerliche Familienrituale, denen feingemachte Kinder nicht immer mit der allergrößten Begeisterung folgen mochten? „Was dieses Wortfeld so attraktiv macht für eine politische Inanspruchnahme, liegt auf der Hand. Es markiert eine durch und durch zivile, unpolitische Sphäre: Spaziergänger sind Privatleute, auch wenn sie sich im öffentlichen Raum bewegen. Der Spaziergang ist seit je mit der Muße, dem Vergnügen, der Erholung im Bunde, eines der benachbarten Wörter, die er im Zuge seines Aufstiegs hinter sich gelassen hat, ist das ältere Lustwandeln. Nicht selten führen Spaziergänge an ihren Ausgangspunkt zurück.“ So sinniert Lothar Müller in seinem „Ehrenrettung des Spaziergangs. Das geht zu weit“ in der Süddeutschen Zeitung von heute überschriebenen Beitrag über den Spaziergang. Der Zweck eines Spaziergangs liegt in sich selbst. Anders als der Alltag in der modernen Welt, so Müller, könne der Spaziergang auf jede Zielgerichtetheit verzichten. Es geht dem Spaziergang um nichts, allenfalls um Erholung, um frische Luft. Dem Spaziergang verwandt ist das Flanieren, das sich auch als Schule der Wahrnehmung versteht, als Entriegelung des Blicks. Der Flaneur nimmt die Bilder der Stadt auf, der Gebäude und Menschen, der Straßen und Parks, der Fabriken und Büros, der Vorstädte oder der gewerblichen Flächen einer Stadt und kombiniert sie neu. Angemessen und betont langsam und gründlich, ohne jede Hast oder Eile. Das Flanieren und Spazieren sind keine Besorgung. Sie sind sich genug. Nun verrutschen bei den Coronaleugnern und Impfverweigerern auch die begrifflichen Masken. Ihre Anliegen haben mit einem Spaziergang, mit Schlendern durch die Stadtlandschaften nicht das Mindeste zu tun. Sie versuchen, den Begriff zu kapern. Einmal, weil sie fälschlicherweise davon ausgehen, daß sie mit dieser gekaperten Titelei Ordnungsbehörden hinter die Fichte führen könnten. Für Spaziergänger ist das Versammlungsrecht nicht zuständig. Die Veranstaltungen sind und bleiben aber politische Demonstrationen. Erkennbar nicht zuletzt daran, daß zunehmend, noch nicht hier in Wermelskirchen, gottlob, aggressive Kräfte Gewalt und Drohungen etwa gegen Polizisten, gegen Journalisten üben, daß zunehmend Einschüchterungsversuche vor allem gegen Politiker unternommen werden. Für politische Veranstaltungen unter freiem Himmel aber gilt, daß sie angemeldet werden müssen. Zweitens ist den Corona-Schlaubergern der Begriff des Spaziergangs tauglich, weil er mit harmlos konnotiert werden kann, mit friedlich. Das paßt in die von den Vordenkern der Neuen Rechten ausgegebenen Strategie der „Selbstverharmlosung“. Der Spaziergang wird zum falschen Etikett, zur Fake-Beschreibung. Wo uniformierter Stiefel-Schritt angesagt wäre, Kommandoton, Lautstärke, mannhaftes Gehabe, Wehrhaftigkeit, gebrüllte Parolen, Fäuste in schwarzen Lederhandschuhen, sucht man mit dem Begriff des Spaziergangs die Menschen der Stadtlandschaft und ihre Behörden zu veräppeln. Mit diesem Deckmantel versuchen die die Coronahäuptlinge erneut, den „besorgten Bürger“ zu zeichnen, in der „bürgerlichen Mitte“ befindlich. Wer die Begriffsmaske “Corona-Spaziergang” trägt, proklamiert den Anspruch, als Repräsentant der bürgerlichen Mitte aufzutreten. Sie suchen nach einer „bürgerlichen Aura“, weil in der Bewegung selbst längst schon rechtextremistische Kräfte den Ton angeben, völkisch-nationalistische Populisten aus dem AfD-Lager, Verschwörungsgläubige, Demokratiefeinde. Sie haben sich die politische Naivität und Ahnungslosigkeit esoterischer Aktivisten und anthroposophisch orientierter Skeptiker zunutze gemacht und schieben diese vor sich her. Wo Polizisten mit Pfefferspray begast oder geschlagen werden, dort wird nicht spaziert. Wo Todesdrohungen gegen Journalisten oder Politiker zu hören oder zu lesen sind, dort wird nicht flaniert. Rhetorische oder handgreifliche Attacken gehören nicht zum bürgerlichen Schlendern. Das Kalkül ist, den Staat, der gegen Spaziergänger das Versammlungsrecht und pandemiebedingte Gebote wie Abstand und Maskenpflicht anordnet, als Staat im Ausnahmezustand erscheinen zu lassen. Die Suggestion des Ausnahmezustands ist eine zentrale Obsession rechtsradikaler Organisationen, die zur Mobilisierung beitragen. Spaziergang und Ausnahmezustand sind Antipoden. „Es ist bizarr, dass diese diffuse Bewegung über angeblich einseitige Medien klagt, dann aber aus ihr heraus Reporter attackiert und Gespräche verweigert, Fragen mit Gebrüll beantwortet. Vieles wirkt mindestens unsympathisch, auch irrational und manches lachhaft – gerade weil nicht wenige in diesen Reihen sich als Vertreter einer Widerstandsbewegung gebärden. Sie sind weder eine Massenbewegung (Demos mit ein paar Hundert Leuten gab es bundesweit gerade vor Corona jeden Tag irgendwo), noch ist dies ein totalitärer Staat.“ So Jens Schneider in seinem Kommentar „Lasst sie spazieren“ in der Süddeutschen Zeitung. Was für Politiker und Parteien gilt, die eine Versammlung abhalten wollen, sollte Coronaleugnern und Impfverweigerern auch zugemutet werden können. Wer sich öffentlich mit einem Anliegen zu Wort meldet, muß die Spielregeln der Gesellschaft einhalten. Sie dürfen sich treffen und öffentlich Kritik üben an Politik, Parteien, Gesellschaft, Wissenschaft, an allem und jedem. Denn wir leben in einer gut organisierten Demokratie und nicht in einer Diktatur. Gottlob. Ihre Meinung ist nicht gut. Sie schadet den Menschen und dem Land. Aber sie dürfen sie äußern. Daran, an der demokratischen Verfassung unseres Landes hat sich nichts geändert. Der größte Blödsinn darf öffentlich geäußert werden. Aber die Menschen in unserem Land sind nicht so blöd, daß sie den Unterschied zwischen einem Spaziergang und einer politischen Kundgebung nicht begreifen könnten.

Kommentar (1) Schreibe einen Kommentar

    • stefan wiersbin
    • 05.01.22, 22:50 Uhr

    Danke Wolfgang, für diesen Artikel.

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