Heute Abend im TV: Ein Lehrstück

VON WOLFGANG HORN

Heute Abend im Fernsehen, in Arte: Ein tiefer Blick über den Atlantik in eine der Schaltzentralen des mächtigsten Landes der westlichen Hemisphäre, das Kapitol, das Parlament der Vereinigten Staaten. Anlass: Vor einem Jahr, am 6. Januar, haben gewalttätige, verhetzte, teils bewaffnete Gruppen und Milizionäre, angeleitet durch eine hetzerische Rede des seinerzeit bereits abgewählten, aber noch amtierenden Präsidenten Trump, das Kapitol gestürmt und versucht, die Auszählung der Stimmen der Wahlmänner und -frauen durch Abgeordneten beider Kammern des Parlaments und damit die Feststellung zu verhindern, daß Joe Biden die Präsidentenwahl gewonnen hat. Zunächst die fünfzigminütige Dokumentation „Der Sturm aufs Kapitol – Ein amerikanisches Trauma“, hernach der 85minütige investigative Dokumentarfilm „Amerika in Aufruhr – Von Charlottesville zum Sturm aufs Kapitol“. Der zeigte auf, wie rechtsextreme Gruppen durch den ehemaligen Präsidenten Trump seit Beginn seiner Amtszeit nach und nach zur Gewalt ermutigt wurden, wie sich Einzelpersonen radikalisierten und wie sich die politische Landschaft schließlich veränderte.

Der erschreckende Film über den Sturm aufs Kapitol – eine Fleißarbeit, die die Ereignisse dank vieler Smartphonevideos minutiös rekonstruierte. Zudem Ausführungen eines britischen Journalisten sowie zweier betroffener Polizisten mitten im Getümmel. Womöglich hatten nicht alle Teilnehmer:innen dieses „Sturms aufs Kapitol“ einen Putsch oder Ähnliches im Sinn und sind von der Dynamik der Ereignisse schlicht mitgerissen worden. Eine Minderheit aber war auch auf Blut aus und hat sich auf die Suche nach Nancy Pelosi, die Parlamentssprecherin, und den Vize-Präsidenten Mike Pence gemacht. Wie sich diese Gruppe verhalten hätte, wenn sie tatsächlich auf die demokratische Sprecherin des Repräsentantenhauses oder den als Verräter beschimpften Trump-Stellvertreter getroffen wären: Darüber lässt sich nur spekulieren. Die amerikanische Demokratie auf der Kippe und ihre zentrale Institution in den Fäusten einer tumben, aufgehetzten Masse, die wahrlich nicht über ausgefeilte politische Bildung verfügt.

Die folgende aufrüttelnde Dokumentation von Adam Clay Thompson belegt mittels einer bestechend genauen Recherche die Bedrohung durch gewalttätige rechtsextreme Gruppen, die sich selbst als Verteidigende der US-Verfassung sehen, sich aber gleichzeitig auf staatsfeindliche sowie rassistische Ideologien berufen und mit der organisierten Kriminalität verbunden sind. “Diese Gruppen sprechen von Revolution und glauben, dass wir eine tyrannische und zutiefst korrupte Regierung haben, die Trump daran gehindert hat, die Wahl für seine zweite Amtszeit zu gewinnen.”

Leider läßt einen dieser ungeheuer packende Blick über den Atlantik und die so wichtige Aufklärung über die jüngere Geschichte der USA nicht beruhigt aufs eigene Land und seine vermeintlich stabilen demokratischen Verhältnisse schauen. Ihm Gegenteil. Ständig drängen sich die Vergleiche auf. Etwa zu den Coronaprotesten. Hier wie dort machen sich Volksverhetzer:innen die Stimmung im Land zunutze. Bei den Corona-Demonstrationen laufen brave Bürgerinnen und Bürger neben Rechtsextremisten und Rassisten, gemeinsam mit Verschwörungsideologen und Demokratiefeinden, hier wie dort politische Ahnungslosigkeit, hier wie dort Eliten- und Wissenschaftsfeindlichkeit, dumpfe Egomanie, hier wie dort eine gewaltbereite Minderheit.

Im braven Deutschland ist ein Tankwart ermordet worden, weil der Mörder einen Mundschutz nicht tragen wollte im öffentlichen Raum der Tankstelle. Im braven Deutschland ist jüngst die Ministerpräsidentin eines Landes mit einer Todesdrohung konfrontiert worden. Im braven Deutschland gibt es nachgerade täglich gewaltsame Übergriffe, auf Polizisten, auf Büros nicht genehmer Politiker, auf Journalisten, auf Impfstätten, im braven deutschen Land ziehen fackeltragende Coronaleugner und Impfverweigerer vor die Privathäuser von Politikerinnen und Politikern, um denen Angst einzujagen. Kurzum: Im braven Deutschland melden sich mehr und mehr weniger brave Menschen zu Wort, die die Regeln des Zusammenlebens nicht einhalten, die die Regeln der öffentlichen Kommunikation nicht kennen oder sich nicht an sie halten wollen, die egomanisch verblendet jeglichen Anstand verloren haben und einem komplett verkürzten Freiheitsbegriff aufgesessen sind, daß sie nämlich tun und lassen können, was ihnen taugt. Nur ihnen. Mit der heute Abend im Fernsehen gut zu studierenden kranken Mentalität des weißen Überlegenheitsrassismus und geschichtsvergessener Rückwärtsgewandtheit rechtsextremistischer amerikanischer Gruppen und Milizen, ihrer Gewaltbereitschaft, ihrer bizarren Scheuklapprigkeit, ihrer rassistischen Unempfindlichkeit gegenüber dem Leid anderer Menschen, vor allem, wenn diese keine weiße Hautfarbe haben, mit all dem hat man heute Abend womöglich ein Blick tun dürfen in Entwicklungen, von denen man nicht möchte, daß sie sich hier bei uns ebenfalls einstellen.

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