„Wenn die Welle gebrochen werden soll, kommt es auf jeden Einzelnen an“

Das Interview mit Kreisdirektor Erik Weidel und den Beitrag von Georg Watzlawek entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung dem Bürgerportal Bergisch Gladbach:

Erik Werdel neigt nicht zu Übertreibungen, aber auch der Kreisdirektor und Leiter des Krisenstabs spricht von einer dramatischen Lage, ein Ende des steilen Anstiegs der Inzidenz in Rhein-Berg könne er nicht erkennen. Im Gespräch mit dem Bürgerportal appelliert er daher an die Eigenverantwortung – und verspricht, dass der Kreis alles gibt, um die Booster-Impfungen voran zu treiben. Aber das braucht noch Zeit.

Der Kreisdirektor hatte wie einige andere schon im Sommer vor dem Corona-Winter gewarnt; mit Sorge sieht er sich jetzt bestätigt. „Die Zahlen sprechen für sich, die Lage ist auch bei uns sehr dramatisch – einen Abbruch der Inzidenzwelle kann ich nicht erkennen“, sagt Erik Werdel im Gespräch mit dem Bürgerportal.

Für den steilen Anstieg seien viele Faktoren verantwortlich: Maßnahmen, die nicht hart genug waren, verwirrende politische Ansagen auf Landes- und Bundesebene, eine zu niedrige Impfquote und die aggressive Delta-Variante.

Entscheidend aber sei nach wie vor das Verhalten der Menschen: „Oft ist es so, dass Menschen nur das nicht tun, was ihnen verboten wurde. Und viel zu oft höre ich die Aussage: Aber ich bin doch geimpft,“ berichtet Werdel.

„Ich würde es begrüßen, wenn die Menschen auch ohne Maskenpflicht öfter Masken tragen, zumindest dort, wo viele Menschen zusammen kommen,“ sagt der Kreisdirektor. Und trotz der rasant steigenden Infektionsraten fänden immer noch viel zu viele private Treffen, Feiern und Veranstaltungen statt.

Dieses Verhalten beantwortet auch die häufig gestellte Frage, woher die vielen Infektionen kommen, trotz Tests in Kitas und Schulen, trotz vieler geimpfter Personen. Infektionsschwerpunkte, Hotspots oder Cluster, das bestätigt Birgit Bär, Pressesprecherin des Kreises, könne das Gesundheitsamt nicht ausmachen. Statt dessen infizierten sich viele Betroffenen bei vielen verschiedenen Gelegenheiten.

Daher appelliert der Kreisdirektor an das Verantwortungsbewusstsein: Wenn die Welle gebrochen werden soll, dann „kommt es auf jeden Einzelnen an.“

Nicht auf Impfschutz, 2G und Tests verlassen

Genaue Daten zu den Impfdurchbrüchen, der Infizierung von Geimpften, habe der Kreis nicht, sagt Werdel. Aber der Anteil steige bundesweit deutlich an, da spiele der Kreis keine Sonderrolle.

Auf den Impfschutz könne man sich spätestens nach fünf oder sechs Monaten nicht mehr zu 100 Prozent verlassen. Daher solle man sich vorsorglich so verhalten, als sei man nicht geimpft.

Die 2G-Regel reiche daher bei Veranstaltungen nicht aus. Angesichts der Unsicherheiten bei den Schnelltests biete auch 2Gplus keine echte Sicherheit, die Selbsttests schon gar nicht. „Auch an solchen Fehleinschätzungen scheitert der Infektionsschutz häufig”, konstatiert Werdel.

„Bei solchen Krisen läuft nie alles rund“

Das stelle die Kreisverwaltung, vor allem das Gesundheitsamt mit dem Lagezentrum, aber auch viele andere Abteilungen, erneut vor große Herausforderungen. Im Gegensatz zu den ersten Wellen, als sich das Land mehr oder weniger im Lockdown befand, müssten diese Aufgaben aber neben der Tagesarbeit gestemmt werden. Zum Beispiel die beim Kreis beschäftigten Ärzte, die etwa die Schuleingangsuntersuchungen nicht einfach liegen lassen können.

„Bei Krisen von derartigem Ausmaß läuft nie alles rund”, räumt Werdel ein. Ebenso gesteht er zu, dass die Entscheidung, von der Kontaktnachverfolgung auf Benachrichtigungen per Post umzustellen, erklärungsbedürftig ist. Ohne diesen Schritt aber hätte das Lagezentrum die zur Zeit oft mehr als 100 Fälle täglich gar nicht bewältigen können und wäre rasch in Rückstand geraten.

Alleine am vergangenen Samstag waren 170 Neuinfektionen gemeldet worden; der mit Abstand höchste Wert seit Beginn der Pandemie.

Die Zahl der täglichen Fälle zeichnet wie eine Fieberkurve die Belastung im Lagezentrum nach. Quelle: LZG Auch 20 Monate nach Beginn der Pandemie müssten die Verantwortlichen immer wieder zunächst ohne Rechtsgrundlage arbeiten, wenn dann eine neue Verordnung kommt, blitzschnell umschalten und neue Strukturen schaffen. „Wenn der Minister der Bild ein Interview gibt habe ich am nächsten Tag gefühlt 500 Anfragen, warum wir das noch nicht umgesetzt haben”, erläutert Werdel die subjektive Lage.

Engpässe in den Testlaboren

Das Lagezentrum sei inzwischen wieder aufgestockt worden, im Moment könnten die Belastungen noch getragen werden. Nicht zuletzt mit der Änderung der Kontaktnachverfolgung habe man sich vorübergehend etwas Luft verschafft, sagt Bär.

Aber natürlich gebe es immer wieder Engpässe. Zum Beispiel bei den Testlaboren; inzwischen dauert es wieder oft drei bis vier Tage, bis die Ergebnisse beim Gesundheitsamt ankommen.

Wie groß die Testkapazität im Rheinisch-Bergischen Kreis ist, kann die Verwaltung nicht beantworten. Weil der Kreis gar keine Verträge mit den Testlaboren hat, sondern nur die Ärzte.

Schnellteststellen gibt es viele im Kreis, aber bei einer verstärkten Anwendung der G2plus-Regel (auch Geimpfte und Getestete müssen Tests vorlegen) kann es auch hier zu Wartezeiten kommen.

Bei der Festlegung strengerer Regeln, über die Rechtslage hinaus, ist Werdel zurückhaltend. Zum einen, weil dafür – wie zum Beispiel beim Weihnachtsmarkt – zunächst einmal die Kommunen zuständig seien. Und zum anderen, weil Pauschallösungen von oben wenig Sinn machten, da müsse man differenzierter herangehen.

„Boostern, boostern, boostern“

Statt dessen sieht der Kreis sich nun vor allem bei der Impfkampagne gefordert, die niedergelassenen Ärzte bei dieser Aufgabe kräftig zu unterstützen. Das Gebot der Stunde laute „boostern, boostern, boostern – und möglichst viele niedrigschwellige Angebote schaffen“, sagt Werdel.

Einen zweiten Ansatzpunkt sieht er bei der Nutzung der Masken, die der Kreis wieder stärker propagieren wolle.

Für die konkrete Umsetzung der Impfkampagne ist Klaus Eckl zuständig, Kämmerer und auch der Impfbeauftragte der Kreisverwaltung. Bei der Frage, wie die Lücke bei den Erstimpfungen wenigstens noch zum Teil zu schließen ist, sieht er wenig Spielraum.

Hier sei die Überzeugungsarbeit sehr schwer; er hoffe, dass die neuen 2G und 3G-Regeln am Arbeitsplatz und in der Freizeit wenigstens einen kleinen Schub bringen.

Zur Sache: Die Quote der vollständig Geimpften liegt in Rhein-Berg bei 68,4. Wenigstens einmal geimpft sind 71,5 Prozent. Das heißt aber auch, dass im Kreis 81.000 Menschen (Kinder eingeschlossen) bislang überhaupt nicht geimpft sind. Und diese Zahlen verändern sich nur sehr, sehr langsam.

Der Kreis fokussiert sich nach wie vor darauf, möglichst niedrigschwellige, dezentrale Impfangebote zu machen. Zuletzt vor allem mit Blick auf die Auffrischungsimpfungen. Allerdings kommt er damit nicht allzu schnell voran.

Schließung des Impfzentrums ein Fehler

Die Schließung des großen Impfzentrums in der RheinBerg Galerie auf Weisung der Landesregierung und gegen heftigen Widerstand der Kommunen hält Kreisdirektor Werdel für einen Fehler. Eine Wiedereröffnung sei leider keine Option, weil die Räume bereits anderweitig vergeben sind. 

Bereits seit dem Sommer bietet die Feuerwehr Bergisch Gladbach im Auftrag des Rheinisch-Bergischen Kreises an jedem Tag der Woche in einer der Kommunen eine mobile Impfstelle an. Zunächst mit bescheidener Nachfrage, doch seit zwei Wochen gibt es immer wieder lange Schlangen und Wartezeiten.

Daher öffnet die Feuerwehr in enger Abstimmung mit dem Kreis und der Stadt jeden Samstag ihren bereits zuvor erprobten Impf-Drive-in auf dem Zandersparkplatz. 1124 Impfungen wurden am ersten Tag verabreicht, bis zu 1800 sind möglich. Das ganze wird vor allen von den Ehrenamtlern getragen, weitere Impftage sind daher kaum möglich.

Darüber hinaus gibt es immer wieder Einzelaktionen, wie zuletzt in der Berufsschule. Solche Aktionen, kündigt Eckl jetzt an, werde es in der nächsten Zeit häufiger geben, in Behörden, Schulen und Behindertenwerkstätten.

Sechs Impfstraßen im Kreis geplant

An der Einrichtung der dezentralen Impfstellen arbeitet die Kreisverwaltung bereits seit Anfang November. Zum gegenwärtigen Stand werde der Kreis eine Impfstraße im Nordkreis, drei im zentralen Bereich und zwei im Südkreis etablieren. Zusätzlich zu den Impfangeboten der Feuerwehr und den Einzelaktionen.

Doch bevor die ersten ihre Arbeit aufnehmen können, werde es noch ein oder zwei Wochen dauern, sagt Eckl. Restriktionen bei der Zahl der Impfärzte, die das Land zunächst erlassen hatte, sind inzwischen aufgehoben, bestätigt er.

Probleme gibt es jedoch, geeignete und entsprechend ausgestattete Räume sowie genügend begleitendes Personal zu finden. Für das große Impfzentrum hatten die Hilfsorganisationen zusätzliche Kräfte eingestellt, und dann wieder entlassen. Daher verhandele der Kreis jetzt mit den Hilfsorganisationen über neue Einsatzpläne. Außerdem werde der Kreis wahrscheinlich ein Anmeldesystem einrichten.

Warum andere Kommunen schneller sind

Warum das zum Teil in anderen Städten und Kreisen so viel schneller geht? Weil die Begebenheiten überall anders sind, antwortet Werdel. Für einen Flächenkreis sei das nicht so einfach wie für eine Großstadt.

Aber auch, weil einige Städte in einem Akt des zivilen Ungehorsams ihre Impfzentren nicht wirklich geschlossen hätten oder Impfzentren in leer stehenden Veranstaltungshallen errichtet haben, die jetzt schnell wieder hochgezogen werden können.

Klar ist auf jeden Fall, dass auf den Kreis eine gewaltige Welle an Booster-Impfungen zurollt und sich bereits aufstaut. Unter der Voraussetzung, dass die dritten Impfungen frühestens sechs Monate nach der letzten Impfung verabreicht werden, wäre der Kreis einigermaßen hingekommen, sagt Eckl. Vor allem Dank der vielen impfenden Haus- und Fachärzte.

Wie groß die Nachfrage ist zeigte sich am Samstag früh, als die Impfwilligen bereits Stunden vor der Öffnung des Drive-in Teile der Bergisch Gladbacher Innenstadt blockierten.

Da die Wartefrist inzwischen jedoch de facto auf fünf Monate herabgesetzt wurde, schwappt diese Welle jetzt viel früher und stärker als erwartet über die Impfeinrichtungen.

Booster-Bedarf in Zahlen: Vor sechs Monaten waren im RBK 38.000 Personen vollständig geimpft; davon haben bislang fast 26.000 einen Booster erhalten; damit hätten noch maximal 12.000 Personen Anspruch auf eine 3. Impfung. Vor fünf Monaten, am 23. Juni, waren jedoch bereits mehr als 100.000 Personen durchgeimpft – womit derzeit insgesamt bis zu 74.000 Bürger:innen für den Booster in Frage kommen.

„Wie immer sind die Kommunen bei der Umsetzung der Corona-Maßnahmen das letzte Glied in der Kette“, erläutert Eckl, „daher laufen wir der Situation hinterher”. Grundsätzlich begrüßen Eckl und Werdel, dass nun ein größere Personenkreis geimpft werden kann, aber „jedes Umschwenken benötigt für die Umsetzung einen Vorlauf“.

Hintergrund: In der Kreisverwaltung ist der Konflikt um Landrat Stephan Santelmann, dem Kreisdirektor und anderen Spitzenleuten der Verwaltung noch immer nicht geklärt, eine professionelle Mediation läuft seit Monaten.

Bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie gebe es im Kreishaus keine institutionellen Einschränkungen, sagt Werdel auf Nachfrage. Der Krisenstab sei mit allen Kompetenzen ausgestattet: „Wir arbeiten ganz frei, so wie das sein muss.”

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