Miszellen am Nachwahlmontag

VON WOLFGANG HORN


Hans-Georg Maaßen hat seinen Wahlkreis in Südthüringen nicht gewonnen. Der umstrittene CDU-Rechtsausleger landete knapp elf Prozentpunkte hinter seinem SPD-Konkurrenten, obwohl/weil die AfD-Fraktion in Suhl zu seiner Wahl aufgerufen und ein bundesweit bekannter Neonazi im Maaßen-Wahlkreis für die Wahl von Maaßen geworben hatten. Der in dieser Causa sprachlose CDU-Chef Laschet und die ganze Union jedenfalls haben nichts dafür getan, daß Maaßen den Bundestag nicht als Tribüne mißbrauchen kann. Das waren alleine die Bürgerinnen und Bürger in Suhl und Umgebung.


Die Corona-Pandemie wurde am Wahlabend kaum einmal erwähnt. Die angekündigte große Abrechnung der Querdenker-Szene und Corona-Leugner ist offenkundig in die Hose gegangen. Impf- oder Maskenverweigerer, radikale Lautstarke, im Netz und auf den Straßen, die sich mehrheitsfähig wähnten, spielten bei der Bundestagswahl 2021 allesamt keine Rolle. Der Wahlsonntag war kein Tag der Abrechnung mit der aktuellen Corona-Politik in Deutschland.


Mit der Kanzlerschaft Merkels endet eine Dekade der zögerlichen »Rückkehr des Staates«. In den verschiedenen Krisen seit 2008 agierte der Staat als rettende und schützende Instanz vor den (menschengemachten) Katastrophen des Marktes und der Natur. Seit der Corona-Krise ist offenbar, dass die öffentlichen Institutionen, der Staat selbst, sanierungs- und modernisierungsbedürftig ist. Die Zusammensetzung und das Programm der neuen Regierung werden darüber entscheiden (müssen), auf welchem Weg, mit welcher Methode die Transformation zum »grünen Kapitalismus« erfolgen soll: im vollen Vertrauen auf die »entfesselten« Kräfte des Marktes oder getrieben mit Investitionen und Regelwerken eines modernisierten demokratischen Staates. Der Wahlausgang signalisiert, dass es noch keinen eindeutig favorisierten Pfad gibt. Die Offenheit der politischen Situation gründet im Wunsch nach einem Aufbruch, einem Neustart angesichts der in den letzten Jahren zutage getretenen Unzulänglichkeiten, im Wunsch nach Stabilität und Verlässlichkeit angesichts der erkennbaren finanziellen und wirtschaftlichen Risiken und im Wunsch nach Normalität nach den Ausnahmejahren der Pandemie.


Nach dem Ende der Ära Merkel setzt die Transformation zu einem Mehrparteiensystem mit drei Parteien mit einer Einflußgröße von 15%-25% ein, und mehreren 5%-10%-Parteien. Die Flexibilität und Volatilität der Wählerinnen und Wähler nimmt weiter zu. Die kommende Regierung wird vor der großen Aufgabe stehen, in vier Jahren Dinge auf den Weg zu bringen, die massive Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse in 20 bis 30 Jahren und darüberhinaus haben werden. Auch wenn diese Aufgabe mutig angegangen würde, spricht nichts dafür, dass sich unter verschärften Transformationsbedingungen die politischen Kräfteverhältnisse stabilisieren werden. Womöglich ist die nächste Regierung nur eine Übergangsregierung.


Wahlsieger in Wermelskirchen wie im Bund sind vor allem Grüne und Sozialdemokraten. In allen 299 Wahlkreisen in der Republik haben die Christdemokraten und Christsozialen Stimmen verloren und Sozialdemokraten Stimmen hinzugewonnen.


In allen Bundesländern weisen die Linke, die Union und die AfD bei der Veränderung der Stimmenanteile zwischen 2017 und 2021 teils erhebliche Minuszahlen auf, die SPD, die Grünen und die FDP hingegen mit nur zwei Ausnahmen durchweg teils sogar erhebliche Zuwächse. Bundesweit hat die Union 27,1% ihrer 2017 erzielten Stimmen verloren.


Im zwanzigsten Bundestag werden so viele Abgeordnete wie noch nie sitzen. Das neue Parlament hat 735 Mitglieder, bisher waren es bereits 709. Der Dank dafür richtet sich an CDU und vor allem CSU, die sich einer maßvollen Reduzierung der Abgeordnetenzahl beharrlich und erfolgreich entgegengestemmt haben.


Rückblick: Bei der Landtagswahl 2017 landete die SPD mit 1,8 % Rückstand auf Platz 2 hinter der CDU. Noch am gleichen Abend übernahm Hannelore Kraft die persönliche Verantwortung für die Wahlniederlage und trat von allen Ämtern zurück.


Abrakadabra und Simsalabim. Nach den Laschetschen Zauberformeln „Brücken-Lockdown“ oder „Zukunftsteam“ hat der Wortschöpfer am Wahlabend die „Zukunftskoalition“ kreiert. Ein gefälliger Begriff ohne inhaltliche Substanz nach dem Motto „Irgendwas mit Zukunft“. Wortschöpfungen können von der fehlenden politischen Legitimation nicht ablenken.


In Wermelskirchen hat der Vorbeter und Taktgeber der Rot-Grün-Paranoia mit seiner Partei nur zwei Stimmchen mehr eingefahren als die Querdenkerpartei, die den Namen Basis mißbraucht. Gemessen an den Zweitstimmen der Grünen ist das weniger als ein Zwölftel, gemessen am sozialdemokratischen Ergebnis nicht einmal ein Zwanzigstel. Die Warnungen vor dem Untergang der Zivilisation, wenn Grüne und/oder Sozialdemokraten stark werden, haben also nicht verfangen. Bundespolitisch spielt der Bund der Freien keine Rolle und auch auf der lokalen Bühne ist der Einfluß zurückgegangen. Freiwählerdämmerung.


Die AfD hat fast überall und teils sogar dramatisch an Stimmen verloren. Insgesamt hat sie 18,3% ihrer 2017 erzielten Stimmen verloren. Nur in Sachsen und in Thüringen war sie leidlich erfolgreich. Im Bundestag ist sie nicht mehr stärkste Oppositionspartei, sondern nur noch fünftstärkste Fraktion. Nach und nach normalisieren die Wählerinnen und Wähler die bundesdeutsche Parteienlandschaft und gleichen sie europäischen Verhältnissen an. Es gibt europaweit einen Bodensatz von etwa einem Zehntel rechtsextremistischer, völkischer, rassistischer, xenophober Bürger. Das haben wir in der deutschen Republik nun auch. Neun von zehn Wählerinnen haben dieser Partei eine Abfuhr erteilt. Eine gute Wahl.


Die Linke geht an ihren eigenen Widersprüchen zugrunde. Bei der gestrigen Bundestagswahl hat sie 47,2% ihrer Stimmen aus dem Jahr 2017 verloren. Niemand, nicht die NATO, nicht der Finanzkapitalismus, nicht die bürgerlichen Grünen, nicht der Klassenfeind oder der Antikommunismus tragen die Verantwortung für das desaströse Unterschreiten der 5%-Klausel und den Rückfall in die politische Bedeutungslosigkeit. Das hat die Partei mit ihren vielen unvereinbaren Strömungen ganz alleine hinbekommen. Immer noch nicht angekommen im Land droht die Rückstufung zur Kleinstpartei. Kein Wunder, solange die Spitzenkandidatin querfrontlerisch agitiert, niedrige Instinkte zu mobilisieren versucht, solange Putin hofiert wird und Menschenrechtsverletzungen nur registriert werden, soweit sie auf die USA oder den Westen zu verbuchen sind. Die schwache Linke hat sich selbst aus dem Spiel um politische Mehrheiten im Land genommen. Es fehlt an einer mittelfristigen Strategie und an einem entsprechenden Selbstverständnis. Selbst in den fünf ostdeutschen Flächenländern erreicht die Linke nur noch in Thüringen (11,4%) und in Mecklenburg-Vorpommern mit 11,1% ein zweistelliges Ergebnis. In Brandenburg liegt sie mit 8,5% sogar hinter den Grünen (9,0%). Im Durchschnitt aller fünf Ländern reicht es nur noch für 9,8%.


Sind CDU, CSU und SPD noch „Volksparteien“? Sind FDP und Grüne schon „Volksparteien“? Ich plädiere dafür, diesen Begriff zu meiden. Diese Parteien sind Kern der differenzierten bürgerlichen Gesellschaft. Nach der SPD kann mit der Union auch die letzte verbliebene Volkspartei alten Typs nicht mehr locker die 30%-Marke überspringen und die dominante Rolle in einer Regierung beanspruchen. Das Parteiensystem hat sich pluralisiert. Vermeintliche Volksparteien sind nicht besser als kleine Parteien, die sich spezifischen Interessen verschrieben haben. Es ist allenfalls erforderlich, immer wieder deutlich zu machen, wessen Interessen beim politischen Handeln der Parteien jeweils im Hintergrund wirksam sind.


Die Unionsparteien erzielen ein historisch schlechtes Ergebnis. Die CDU erreicht noch 18,9%, die CSU nähert sich mit 5,2% der Sperrklausel. Erstmals seit 2002 liegt die Union hinter der SPD. CDU/ CSU traten mit einem Kandidaten für das Kanzleramt an, der seine Partei und die Wählerinnen nicht mitziehen konnte. In den vergangenen Monaten und Jahren hat sie erheblich an Kompetenzzuweisungen auf politisch für die eigene Wählerschaft bedeutsamen Feldern verloren. CDU/CSU sind politisch und personell ausgezehrt. Das Wahlergebnis liegt über dem Tiefpunkt in den Umfragen wegen der Mobilisierung der alten Stammwählerschaft mit dem Schrecken eines »Linksrutsches«. Das alleine blieb Laschet und den seinen als Wahlerfolg. Eine parlamentarische Mehrheit gegen eine Linksregierung aus SPD, Grünen und Linken kommt allerdings nur mit Hilfe der AfD zustande. Die Union hat die Thüringer »Kemmerich-Falle« weder aufgearbeitet, noch hinter sich gelassen.


Die Union besteht aus mehreren »Parteien«: der Laschet/Merkel-Partei, der Merz-Partei, der Söder-Partei, den ostdeutschen Landesverbänden, denen die AfD auf den Fersen sitzt, und der Maaßen-Truppe. Die Kür von Laschet zum Kanzlerkandidaten folgte bereits einer innerparteiliche CDU-Machtlogik, nicht dem Kriterium der besten Aussichten auf Machterwerb. Der Anteil des Kanzlerkandidaten und seines wie soll man sagen? unglücklichen Auftretens an dem schlechten Wahlergebnis sollte daher nicht zu hoch gehandelt werden: Im November und Dezember 2019 wurde die Union bei Infratest dimap in der Sonntagsfrage mit 25% gehandelt. Erst das Merkel’sche Krisenmanagement in der Pandemie hievte die Union wieder auf 38%-40% in den Sonntagsfragen. Es war ein letztes Merkel-Umfragehoch. Die strukturelle Bindung vieler Wählerinnen und Wähler an die Union war bereits vorher verloren gegangen. Dass die Union wie die SPD ihr Ende als »Volkspartei alten Typs« erreicht hat, davon zeugten bereits die innerparteilichen Kämpfe um die Nachfolge Merkels.


Die SPD ist Siegerin dieser Bundestagswahl. Olaf Scholz kann angesichts des großen Anteils seiner Person an diesem Erfolg die Kanzlerschaft für sich beanspruchen und versuchen, eine Regierungsmehrheit zu finden. Auffallend ist gegenüber den drei vorhergehenden Wahlen der lange Atem und die Geschlossenheit, mit der die SPD ihre Wahlstrategie umgesetzt hat. In den ostdeutschen Flächenländern liegt die SPD deutlich vor der CDU. In Brandenburg erzielt sie mit 29,5% ihr bestes Ergebnis. In Thüringen wird sie mit 23,4% und in Sachsen mit 19,3% nur zweitstärkste Partei hinter der AfD.


Die Grünen feiern mit ihrem besten Ergebnis bei Bundestagswahlen einen historisch Wahlerfolg, bleiben aber deutlich unter den Erwartungen, die bis zum Frühsommer von guten Umfragewerten genährt wurden. Gewiß werden sie an der nächsten Bundesregierung beteiligt sein – womöglich mit einem Finanzminister Lindner, der sich nicht nur der »schwarzen Null« ohne Steuererhöhungen verschrieben hat, sondern auch ein entgegengesetztes Staatsverständnis besitzt.


Die Grünen scheitern nicht am Unwillen zur Veränderung, sondern eher an der Überforderung der einzelnen Bürgerinnen und Bürger – was gerne als Etikett »Verbots-/Erziehungspartei« gegen sie gewendet wird. Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung erscheint in Umfragen zum Umweltbewusstsein, zu politischen Themen wie Klima, Umwelt, Nachhaltigkeit als veränderungsbereit – in unterschiedlichen Maße. Doch was viele überfordert und stört, ist das Gefühl, als Verbraucher und Bürgerin allein für die Vermeidung der Klimakatastrophe verantwortlich sein zu sollen. Parteiübergreifend war ja in den vergangenen, von neoliberalen Deutungen inspirierten Dekaden in vielen gesellschaftlichen Bereichen von der Eigenverantwortung die Rede. Die Sorge, von grüner Politik in eine solche Überforderungsspirale gedrückt zu werden, lässt viele, deren politische Stimmungslage durchaus klimafreundlich und grün ist, bei der Entscheidung doch das Kreuz an anderer Stelle machen. Die Grünen werden erst dann reale Chancen auf das Kanzleramt haben, wenn ihnen ein Imagewandel gelingt, hin zu einer Partei, die zeitig für gesellschaftliche Institutionen und Strukturen sorgt, die es dem einzelnen Bürger und der einzelnen Verbraucherin ermöglichen, zu angemessenen Bedingungen ihre Lebensweise umzustellen, klimafreundlich zu handeln.


Die FDP zieht mit einem guten zweistelligen Ergebnis in den neuen Bundestag ein. Wieder verdankt sie es einem Christian-Lindner-Wahlkampf. Auffällig ist, dass sie vor allem von jungen männlichen Wählern erhebliche Kompetenz in der »Digitalisierung« zugeschrieben bekommt. Das Staats- und Freiheitsverständnis des Christian Lindner, nämlich der Staat als bürokratisches Monster, welches es zu beschneiden und zähmen gilt, steht der Mega-Aufgabe in der kommenden Bundesregierung womöglich im Wege. Freiheit ist eben nicht, wenn es möglichst wenige Regeln gibt, an die man sich halten muss. Libertäre Staatsfeindschaft hat sich überlebt und ist kein Zukunftskonzept.


Von Stund an wird der Rheinisch-Bergische Kreis von drei demokratischen Bundestagsabgeordneten vertreten. Neben Hermann-Josef Tebroke und Christian Lindner zieht der Grüne Mike Außendorf ins Parlament ein. Gratulation.

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