Ich sehe was, was Du nicht siehst

Ein Wort zum Montag, dem 25. Januar 2021 

VON CORNELIA SENG

Häufig bin ich im Bergpark Wilhelmshöhe unterwegs. Die Wege sind mir vertraut. Und doch fallen mir immer wieder neue Dinge auf. Ein Abzweig z.B. – war der schon immer da? Und die alte Bank – neu kann sie an dieser Stelle nicht sein. Warum habe ich sie bisher gar nicht gesehen? Ist Ihnen das auch schon passiert – da meinen Sie, sich gut auszukennen, und haben doch immer wieder etwas übersehen? 

Wenn schon unsere eigene Wahrnehmung begrenzt ist, wie sehr unterscheiden sich erst verschiedene Menschen in dem, was sie sehen und was sie nicht sehen! Jeder von uns hat seine eigene Perspektive, seine ganz eigene Wahrnehmung der Dinge. Jede von uns hat ihren eigenen Blick auf die Welt. Nur aus vielen Perspektiven wird das Bild vollständiger. 

Christen ist das vertraut, gibt es doch vier Evangelien, vier Lebensgeschichten von Jesus. Jeder Evangelist berichtet aus seinem eigenen Blickwinkel. Die ersten drei, die „synoptischen Evangelien“, bemühen sich erkennbar um die historischen Quellen. Trotzdem unterscheiden sie sich. Noch deutlicher hebt sich das vierte Evangelium, das Johannesevangelium ab. Als junge Studentin hat mich das manchmal verunsichert: Wäre es nicht einfacher, nur einen „objektiven“ Bericht über Jesus zu haben? Doch die biblischen Schriften sind Zeugnisse der Lebensgeschichte Jesu. Menschen berichten, wie sie Jesus gesehen haben und was er ihnen bedeutet – aus ihrer je eigenen Perspektive. 

Mein eigener Blick ist beschränkt, das weiß ich wohl. Darum ist es gut, vom Blick des anderen zu erfahren. Was siehst du, was ich nicht sehe? Was sehe ich, was du nicht siehst? Gerade das mir Fremde brauche ich als Ergänzung, es ist bereichernd.

Vielfalt will „umarmt“ werden, geschätzt werden. Vielfalt ist nicht Gefahr, sondern notwendig. Sie will nicht nur „toleriert“ werden, man muss sie willkommen heißen, in der Kirche wie in der Gesellschaft.

„Welche Tiefe des Reichtums, beides der Weisheit und der Erkenntnis Gottes“ (Rö 11,33), sagt der Apostel Paulus. Es können gar nicht genug Blickwinkel sein, diesen Reichtum Gottes zu ergründen.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.