Es ist furchtbar

VON WOLFGANG HORN

Ich bin weder Virologe, noch Mediziner. Naturwissenschaftlich interessiert, aber nicht wirklich besonders kenntnisreich. Insofern ein ganz durchschnittlicher bundesdeutscher Zeitgenosse. 

In den sozialen Netzwerken, denen in meiner unmittelbar örtlichen Umgebung, also bei Facebookkommentatoren, Instagrambeschickern oder Twitterern aus Wermelskirchen und seiner Umgebung treffe ich indes auf immer mehr Mitmenschen, die offenbar profund Auskunft geben können über die Pandemie, die Maßnahmen zur Eindämmung, medizinische oder epidemiologische Probleme.

Die selbständige Autoaufbereiterin berichtet öffentlich, daß die Pandemie seit zehn Jahren geplant worden sei. “Alle spielen schön mit, Söder, Merkel, Spahn, Macron und wie sie alle heißen aus den Bilderberger Konferenzen.” Und: “Die PCR Tests stimmen nicht und Corona wurde auch im Labor nicht isoliert worden.” (Im Original, W.H.) Ihr Ratschlag: Alles mal auf “Telegramm” (Im Original, W.H.) nachlesen. 

Ein anderer, ohne Angaben über Schulbildung oder Berufstätigkeit, weiß immerhin, daß ein Impfstoff “nichts bringen” wird, denn “wenn ein Impfstoff wirken würde, dann dürften sich bereits geheilte nicht erneut anstecken lassen”.

Der Nächste hält nahezu alle Entscheidungen für “absurd”, “wie z.b. Schulen ohne Schutz, Quarantäne und Tests für Reiserückkehrer, Sperrstunde, Maskenpflicht in der Öffentlichkeit, Beherbergungsverbot und so weiter”.

Eine Henningsdorferin erkennt in dem Ganzen “diktatorische Züge”, andere Stimmen würden mundtod (im Original,W.H.) gemacht und diffamiert. Und der selbständige Wermelskirchener Techniker assistiert, indem er als Verantwortliche die Bundeskanzlerin “Merkill” nennt.

Das alles aus einem eher flüchtigen Überblick aus Internetplattformen gewonnen. Auch die Nahwelt ist, teils jedenfalls, aus den Fugen, nicht nur die Welt in Nebraska, Komi, Székesfehérvár oder in Krakau.

Ich für mein Teil gestehe: Ich kann im einzelnen die gestern beschlossenen Maßnahmen nicht wirklich bewerten. In meinen Ohren klingt es aber durchaus plausibel, wenn angeführt wird, daß man auch gastronomische Betriebe für vier Wochen schließen muß, weil man über drei Viertel der Infektionen nicht sagen kann, wo sie denn stattgefunden haben. Die Kontakte müssen eingeschränkt werden, denn alle Infektionen gehen auf Begegnungen mit Infizierten zurück. Und Kontakte kann man nicht halbherzig einschränken. Vor allem kann man sie nicht nur für die einen einschränken und die anderen tanzen lassen, wie es beliebt. 

Begegnungen einzuschränken, das ist ein gewichtiger Eingriff in die persönlichen Freiheiten. Aber: Gibt es eine Alternative? Sind die Politiker, die Ministerpräsidenten, die Mediziner und Experten für Epidemiologie, sind Journalisten und die wissenschaftlichen Institute allesamt zu blöd, die Pandemie gedanklich zu erfassen? Wer hat welche Alternativen im Bauchladen? Was bietet der selbständige Techniker aus Wermelskirchen an, außer Beleidigungen und Schimpfkanonaden? Und welche Tests empfiehlt die Autoaufbereiterin? Welche Maßnahme wäre denn nach Auffassung der Henningsdorferin demokratisch?

Seit Anfang Februar bin ich faktisch nur noch zu Hause. Ich habe mir seinerzeit eine Lungenentzündung angelacht und mußte später mit ihr sogar ins hiesige Krankenhaus. Die Pandemie hat dann dafür gesorgt, daß nach der Entlassung mein Leben weiter drinnen stattfand, im Haus, und ich nahezu alle Kontakte fast auf Null fahren mußte. Ich habe einige Menschen auf Abstand in unserem Haus gesehen, weil sie seinerzeit auch für uns eingekauft hatten. Im Sommer hatte ich dann erneut mit einer Lungenentzündung zu tun, in deren Verlauf ich lange auch auf der Intensivstation des hiesigen Krankenhauses verbringen mußte. Und im September schließlich habe ich zu Hause die dritte Lungenentzündung überstanden, weil mich mein Hausarzt viele Tage lang täglich besucht und versorgt hat. Seit kurzem erst verlasse ich unser Haus wieder für kleinere Ausritte, mit dem Auto zumeist, für Arztbesuche, Kleinsteinkäufe, auch, um mal wieder etwas anderes zu sehen als die Fensteraussicht auf Garten oder Straße. Will sagen: Bislang war das Jahr für mich ein Jahr der Kontakte fast ausschließlich mit medizinischem Personal. Kein Jahr für Treffen mit Freunden. Kein Jahr für Konzerte oder Debatten im Haus Eifgen oder der Kattwinkelschen Fabrik. Kein Jahr für ein Treffen mit meinem Sohn und seiner Freundin. Kein Jahr für Ausflüge oder Urlaub. Kein Jahr für politische Debatten auf der Straße oder in Versammlungen. Kein Jahr für die Rad­trasse oder eine schöne Tour. 

Gleichwohl kein verlorenes Jahr. Das sagt man auch nicht als fast Siebzigjähriger. Ich habe viele Erfahrungen machen können, habe Online-Treffen und -Gespräche schätzen gelernt, von denen man auch nicht dümmer wird. Ich habe viel lesen können, vielleicht auch müssen. Und, vor allem: Ich habe erfahren, daß es geht, schwer ist, aber möglich, mit einer rigiden Einschränkung von unmittelbar-persönlichen Kontakten umzugehen. Mein Fazit: Es gibt keinen Grund, unter den obwaltenden Umständen seine Feierlust und die Partylaune gegen die erklärten Interessen anderer Gruppen und die Regeln zur Kontaktbeschränkung durchzusetzen. Es gibt keinen Grund, die Gesundheit und womöglich das Leben von Mitmenschen zu gefährden, weil man die eigenen vor die Interessen anderer Menschen stellt. An Kontakteinschränkungen stirbt man nicht. Man kann traurig werden, das stimmt.

Aber ich werde auch traurig, wenn ich heute aus dem Mund des Bundesvorsitzenden der FDP höre, daß die gestern von allen Ministerpräsidenten, einschließlich der einer Koalition mit der FDP, im Beisein der Bundeskanzlerin beschlossenen Maßnahmen “blinder Aktionismus” seien. So blind kann man doch gegen die Zahlen der Infektionsentwicklung nicht sein, gegen den Trend, was die Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen bundesdeutscher Krankenhäuser angeht, gegen die Zahlen der Menschen, die sich in Quarantäne befinden. Mein Mulm, daß mit der vollkommen legitimen Interessenvertretung für die Belange der Wirtschaft und der Fokussierung auf die Freiheitsrechte des Einzelnen die Gleichwertigkeit mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und Gesundheit aus der Balance zu kippen droht, wächst. Leider. 

Ich halte eine vierwöchige drastische Kontaktbeschränkung, eine Reduzierung von Reisen, eine Unterbindung von Treffen vieler Menschen drinnen und draußen, eine Teilschließung von Einrichtungen, in denen es zu körperlichen Kontakten kommen kann, auch von Restaurants und Kulturbetrieben, die strikte und strafbewährte Einhaltung der Hygiene-, Abstands- und Mund-Nasen-Schutzregeln für nötig. Für die betroffenen Wirtschaftszweige müssen staatliche Unterstützungsmaßnahmen dafür sorgen, daß es nicht zum Kollaps kommt. Wer Weihnachten im Kreis der Verwandten, der Eltern und Großeltern feiern möchte, ohne Sorge um deren Gesundheit haben zu müssen, der hält die nun vorgegebenen Regeln auch strikt ein. Es ist furchtbar, aber es ist möglich.

Kommentare (7) Schreibe einen Kommentar

    • Stephan Wind
    • 29.10.20, 16:00 Uhr

    Wahre Worte, Wolfgang !

    So wünsche ich dir baldige, vollständige Erholung💚.
    Grüsse

    Stephan

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    • stefan janosi
    • 29.10.20, 16:34 Uhr

    Menschen mit schweren chron. Erkrankungen, vor allem der Lunge, sind in der Pandemie die wohl am schlimmsten Leidtragenden. Diese fürchten um Ihre physische Existenz. Meine Empathie gilt aber auch denen, deren soziale und wirtschaftliche Existenz bedroht ist. Über die jetzt getroffenen Maßnahmen lässt sich trefflich diskutieren, ob diese ideal und angemessen sind darf und kann man in Frage stellen. Für mich völlig unverständlich, dass z.B. Unternehmen die zu den Infektionstreibern gehören, wie z.B. die Großbetriebe in der Fleischindustrie, nahezu unbehelligt ihren Geschäften nachgehen. Auch irritiert mich das keine wirklich langfristige Strategie zur Bekämpfung der Pandemie hinter dem sichtbaren Handeln zu erkennen ist. Die bisherigen Pläne sind nicht wirklich proaktiv, sondern lediglich eine Reaktion auf eine unvermeidliche Entwicklung. Konsequenz wäre in den nächsten 12 Monaten immer wieder temporäre Lockdowns. Es wird spannend zu beobachten wie lange das unsere Gesellschaft akzeptiert. Man hat die vergangenen Monate verstreichen lassen ohne wirklich ein Konzept zu entwicklen und auch durchzuführen.. Warum stehen in den Schulen noch keine Luftreiniger? Weshalb gab es keine zusätzlichen Ausschreibungen für Stellen in den Gesundheitsämtern? Warum sind keine notwendige personelle Umstrukturierungen auf den KH Stationen erfolgt? Warum sind keine Pläne für Schichtuntericht in Schulen entwickelt worden? etc. etc…Vielleicht irre ich mich und im Hintergrund sind alle diese Dinge schon beschloßen, aber ich befürchte das ist nicht der Fall.

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      • Grauganz
      • 29.10.20, 18:28 Uhr

      Nein, mein lieber Stefan, und jetzt meine ich den lokalen Politiker Stefan, der Mitglied und Funktionär der GRÜNEN ist, so leicht kann man es sich dann doch nicht machen. Die Grünen stellen einen der Ministerpräsidenten, die diese Maßnahmen, um die es in dem Beitrag geht, beschlossen haben, und sind an weiteren Landesregierungen beteiligt. Von Deiner Partei gibt es für alle Punkte, die Du hier in Zweifel ziehst, kein Konzept, keine Blaupause, keine parlamentarische Initiative. Empathie für Gastronomen hin, Empathie für Kultureinrichtungen her: eine wirkungsvolle Alternative zur Kontaktbeschränkung ist von noch niemandem auf den Markt der Möglichkeiten gebracht worden. Und: Der Ministerpräsidentenbeschluß wird gedeckt von einer Vielzahl von Medizinern und der überwiegenden Mehrheit wissenschaftlicher Einrichtungen unseres Landes. Die alle und die handelnden Politiker sind doch nicht allesamt dumme Jungs. Wenn man so locker daherformuliert, daß “die bisherigen Pläne nicht wirklich proaktiv sind”, ist ein derartiger Eindruck aber nicht so weit weg. Weiter schreibst Du, die Beschlüsse seien “lediglich eine Reaktion auf eine unvermeidliche Entwicklung”. Lediglich? Natürlich sind die Entscheidungen eine Reaktion auf eine unvermeidliche Entwicklung. Was sonst? Das ist doch die Begründung für die ganze Anstrengung. Unvermeidlich war die Entwicklung nicht wegen fehlender Luftreiniger in den Schulklassen, sondern weil sich infolge eines milden Pandemieverlaufs, frühzeitiger Aufhebung nahezu sämtlicher Beschränkungen sowie reger Reisetätigkeit eine Sorglosigkeit wie auch Ignoranz breitgemacht hat, der wir nun das beschleunigte Infektionsgeschehen weitgehend zu verdanken haben. Das ist der Kern der ganzen Angelegenheit. Und auf den ist einzugehen. Nicht nur auf einzelne Versäumnisse. Die gibt es. Unbestritten. Aber die machen die rasante Entwicklung nicht aus.

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  1. Lieber Wolfgang. Du findest immer so nette Worte für so dämliche Leute. Meine Einstellung kennst Du ja. Es wird gut werden. Das ist nun mal so. Was sind schon vier Wochen? Nichts. Schlappe 660 km.

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    • stefan wiersbin
    • 29.10.20, 18:11 Uhr

    Danke Wolfgang für diesen Text, in dem Du, aus meiner Sicht, richtigerweise aufzeigst, dass der geforderte Verzicht sicherlich hart ist, aber uns nicht umbringen wird. Und, ja, Stefan Janosi, man kann sicherlich, soll es sogar, die nun beschlossenen Maßnahmen gegen diese Pandemie hinterfragen. Diese kritisch begleiten. Es geht schließlich um wirtschaftliche Existenzen, aber eben auch im wahrsten Sinne um Menschenleben. – Die ganzen Diskussionen seit dem Beginn der Pandemie erscheinen mir seit heute Mittag in einem ganz anderem Licht. Ich musste erfahren, dass ein guter Freund, der an Covid erkrankt ist, mit dem Leben ringt. – Wir sollten diese Pandemie nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wir sollten sie sehr ernst nehmen. Was eben nicht heißt, alle staatlichen oder sonstige Vorgaben unkritisch hinzunehmen. Ich für meinen Teil kann mit den gestern beschlossenen Einschränkungen leben.

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    • R. u. A. Hackländer
    • 29.10.20, 20:06 Uhr

    Liebe Grauganz,
    vielen Dank für die KLAREN Worte. Wir wissen auch nicht mehr, was eigentlich noch passieren muss, damit der eine oder andere den Ernst der Lage erkennt. Wir hatten doch jetzt alle wirklich genügend Zeit, die immer wieder “gebetsmühlenartig angeraten” Verhaltensregeln einzuhalten, um die jetzige Situation zu verhindern. Wer immer daran Schuld sein mag, ist jetzt auch egal, weil es eh KEINER gewesen sein will. Und von denen, die die Maßnahmen ständig kritisieren, hätten wir gerne Vorschläge, was in der jetzigen Lage zu tun ist. Und BITTE nicht wieder das Geschwafel “wir müssen die Risikogruppen schützen”. Wie denn bitte… mit Ausgangsverboten für Ü60er, Vorerkrankten etc…..???

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    • Andrea Epking
    • 29.10.20, 22:48 Uhr

    Lieber Wolfgang,
    das ist sehr schön und treffend in Worte gefasst… Ich kann garnicht mehr alles über Corona lesen – es ist so schrecklich viel und so facettenreich…letztendlich wollen wir alle gesund bzw. verschont bleiben. Ich kann auch nur mithoffen, dass in der nächsten Zeit durch die jetzigen Massnahmen die Kurve der Infizierten nach unten geht…also schön die Hygienevorschriften beherzigen und negativ bleiben ;-), liebe Grüße und Dir alles Liebe, Andrea

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