Normalität

VON WOLFGANG HORN

“Ein Schritt in Richtung Normalität.” Ein Satz, so oder ähnlich formuliert, wie er derzeit allenthalben zu hören und zu lesen ist. Normalität. Was mag das sein für jene mehrere hundert Menschen, die, während man dies liest, sediert bäuchlings in Krankenhausbetten in diversen Intensivstationen im Land liegen, damit ihre Lungen entlastet sind, und deren Leben von Beatmungsmaschinen in Gang gehalten wird? Normalität. Viele Tage kann er dauern, der Kampf der Patienten um ihr Leben, in dieser Stellung, im Krankenhaus, ununterbrochen gepflegt, betreut, ernährt, mit Medikamenten versorgt von unermüdlichen Fachkräften, Ärzten, Pflegern, Krankenschwestern. Normalität? 

Es müsse wieder Normalität einkehren in unserem Land. Die Wirtschaft vor allem müsse wieder angekurbelt werden, damit keine irreparablen Schäden entstehen. Der Chor ist unüberhörbar. Der allergrößte Schaden ist der Tod. Der allergrößte Verlust ist der Verlust des Lebens. Es geht um Leben und Tod. Nicht nur für Ältere. Nicht nur für Kranke. Nicht nur für Behinderte. Nicht nur für Wenige. Es geht um das Leben von uns allen. Die Lungenkrankheit Covid-19 hat schon kleine Kinder und gesunde Jugendliche getötet, sportliche Erwachsene. Es geht um das höchste Gut des Menschen, um Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, um das Leben. Nicht um Geld, nicht um Wohlstand, nicht um Ordnung, nicht um Regeln, nicht um Wirtschaft. 

Jedenfalls nicht in erster Linie. Nicht, solange wir nicht in der Lage sind, die vielen gefährdeten Menschen dem Zugriff des Virus zu entziehen, nicht also, solange wir noch nicht über den einzig wirklichen Schutz vor dieser Krankheit verfügen, einen Impfstoff. Das kann noch dauern. Womöglich Monate. Solange wird es keinen Schritt in die Normalität geben können. Wer immer jetzt den Blick auf eine Normalität richtet, hat sich von der aktuellen Lage jener verabschiedet, die Stunde um Stunde um ihr Leben kämpfen. 

Wer immer jetzt die Lockerung von wahrlich einschneidenden Beschränkungen unseres sozialen Alltagslebens zugunsten einer größeren wirtschaftlichen Betätigung fordert und so den Focus der öffentlichen Debatte schärft, hat bereits abgewogen. Und die um ihr Leben ringenden Menschen für zu leicht befunden. Und die Interessen der Kinder, die nicht mit Freunden und Schulkameraden spielen dürfen, vielfach unter beengten Wohnverhältnissen leiden müssen, womöglich sozialer Verwahrlosung oder gar häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, und das Ganze nicht einmal ansatzweise verstehen können, ebenfalls. Die Interessen derer, die oftmals auf notwendige Förderung verzichten müssen, auf Anregungen und Hilfe, die ihnen die eigenen Familien nicht bieten können. Wie auch die Interessen von Vätern und Müttern, von Familien. 

Kurzum: Neben der Wirtschaft, neben Unternehmen, neben Wohlstand, neben Reichtum zählen auch soziale Werte, zählt auch die Entwicklung individueller Stärke, zählt eine gerechte Gesellschaft, zählen Verantwortung, Nächstenliebe, Solidarität, Empathie. Es geht um die Sicherung des Lebens, um eine soziale Gesellschaft, um Gerechtigkeit und Gemeinsinn, es geht um Hinwendung zum Nächsten, um eine menschliche Gemeinschaft. Erst dann sollten wir wieder von Normalität sprechen.

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