Freitag, 17. Mai (19 Uhr): Bingo im Haus Eifgen

BUCHTIPP IX: DEUTSCHER JUGENDLITERATURPREIS 2020

Nominierungen der Kritikerjury: Sparte Jugendbuch

VON MARIE-LOUISE LICHTENBERG

Eine spontane Tat führt zur Katastrophe für zwei Jugendliche: Richard, Afroamerikaner und kriminell vorbelastet, schnippt im Bus ein Feuerzeug an und hält es an Sashas Rocksaum. Sasha, weiß und agender, steht unmittelbar darauf in Flammen und trägt qualvolle Brandverletzungen davon. Richard wird verhaftet und gerät in die Mühlen des Justizsystems. Von einem Verbrechen aus Hass ist die Rede und Richard droht eine lange Haftstrafe.

Dashka Slaters genau recherchierte Aufbereitung realer Ereignisse aus dem Oakland des Jahres 2013 widerlegt das zunächst Augenscheinliche. Unter Einbeziehung vielfältiger Dokumente (u.a. Interviews, juristische Kommentare, Briefe, Lyrics, poetische Beschreibungen) zeichnet die Autorin aus verschiedenen Blickwinkeln die Lebensgeschichten dieser beiden Jugendlichen nach, welche unwiederbringlich miteinander verknüpft sind. 

Überzeugend ist die konsequent neutrale erzählerische Darbietung mit vielen Hintergrundinformationen etwa zu Genderkonzepten und jugendlichem Strafvollzug. Deutlich wird, dass binäre Konzepte wie Opfer/Täter, männlich/weiblich, schwarz/weiß und schuldig/unschuldig nicht weiterhelfen. Stimmig und innovativ dazu ist die sprachliche Gestaltung, welche statt binärer Pronomen ein neutrales „sier“ nutzt und überraschend eingängig ist. Bus 57 ist ein wichtiges Plädoyer für eine diverse Gesellschaft.

Dashka Slater • Bus 57 • Aus dem Englischen von Ann Lecker Loewe • ISBN 978-3-7432-0363-1 • 18,95 € • Ab Vierzehn

Sulamith ist nicht mehr da. Sie war Esthers einzige Freundin und innige Verbündete. Die Ich-Erzählerin Esther schildert nach und nach in Rückblenden, wie die kleine Sulamith und ihre Mutter als Bedürftige von Esthers Eltern, erfolgreichen Sonderpionieren der Zeugen Jehovas, eingesponnen werden in die Strukturen der Glaubensgemeinschaft, wie Sulamith aufbegehrt und schließlich aussteigt. Nicht nur durch Esthers Stimme kommt Sulamith zu Wort, auch die Auszüge aus ihrem Tagebuch sind eine Chronik ihres Werdegangs. 

Die Erzählung, in die Teile „Genesis“ und „Exodus“ gegliedert, spiegelt eine zweifache Entwicklungsgeschichte, die Sulamiths und die Esthers. Denn auch Esther, anfänglich die gefügige und vielversprechende Tochter, gerät nach dem Verlust von Sulamith zunehmend in Zweifel, besonders an den Machenschaften der Eltern, bis ihr am Ende die Flucht gelingt.

Es handelt sich um einen erzählerisch vielschichtigen Roman. Angesiedelt in der Nachwendezeit, gibt er kenntnisreich Einblicke in die Organisation und Strategien der Zeugen Jehovas, deutet aber auch deren Verfolgung im Naziregime und in der DDR an. Was es für die beiden Protagonistinnen bedeutet, „kein Teil der Welt“ zu sein, wird atmosphärisch dicht entfaltet, ist aber auch über weite Strecken bedrückend und lässt einen nach der Lektüre lange Zeit nicht los.

Stefanie de Velasco • Kein Teil der Welt • Kiepenheuer & Witsch • ISBN 978-3-462-05043-1 • 22,00 € • Ab Sechzehn

Die Texte stammen von den jeweiligen Jurys.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.