Auch auf die Geschichte(n) der anderen hören!

„Suchet Frieden und jaget ihm nach” (Die Bibel, Psalm 34,15)

Den Impulsvortrag von Pfarrer Manfred Rekowski, Präses der evangelischen Kirche im Rheinland, beim Empfang der christlichen Gemeinden Remscheids und der Stadt Remscheid am Samstag im großen Sitzungsaal des Rathauses entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung dem Waterbölles, dem kommunalpolitischen Forum für Remscheid:

Ich möchte zunächst etwas zu unserer inhaltlichen Grundhaltung sagen. Was meinen Christenmenschen, wenn sie sagen: „Suchet Frieden und jaget ihm nach”? Dann werde ich anknüpfend an konkrete Begegnungen und Erfahrungen beschreiben, was das friedliche Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen innerhalb der Stadtgesellschaft fördern oder sie gefährden kann. Dabei werde ich bewusst einen Umweg wählen. Ich werde anknüpfen an zwei Besuche, die ich vor wenigen Wochen unternommen habe. Der erste führte mich nach Polen (in meiner alte Heimat Masuren), und der zweite führte mich in den Libanon und nach Syrien. Aber keine Sorge, ich werde Ihnen keine Reiseberichte geben, aber manchmal lernt man an anderen Orten mehr als beim Blick auf Vertrautes. Ich jedenfalls habe in Polen, im Libanon und in Syrien einiges Grundsätzliche über das friedliche Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen gelernt.

Die Jahreslosung – eine Art Motto für Christenmenschen – für das Jahr 2019 fordert uns immer wieder zum Frieden auf: „Suche Frieden und jage ihm nach!” (Psalm 34). Der Friede zwischen Menschen und Völkern ist kein Zustand, den wir erreicht hätten und der nun nur noch verwaltet werden müsste, sondern Friede und Versöhnung müssen immer wieder neu gesucht und gewonnen werden.

Alle Gottesdienste sind Friedensdienste. Denn in jedem Gottesdienst wird der Friede Gottes gefeiert, besungen und als Aufgabe für die Gemeinde ausgerufen. Die Gabe und die Aufgabe des Friedens durchziehen die Feier eines jeden Gottesdienstes wie ein roter Faden; Ich skizziere es kurz an dem Ablauf eines evangelischen Gottesdienstes: Da wird im Kanzelgruß die Gemeinde mit Worten „Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus“ begrüßt. Gott hat Frieden gestiftet. Jeder Gottesdienst lädt uns ein in den Raum des Friedens. Am Ende der Predigt erhalten wir die Zusage: „Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem Herrn”. In unsere Unruhe in unseren Herzen und in den Verhältnissen zwischen Menschen hinein hören wir: Gottes Friede wird euch beschützen und bewahren.

In besonderer Weise erfahren wir den Frieden Christi in der Feier des Heiligen Abendmahls. „Zu ihr gehört der Friedensgruß, den Christen einander zusprechen. Wenn die Gemeinde in der Feier des Abendmahls Vergebung der Sünden, Frieden mit Gott und Gemeinschaft erfährt, so kann dies Konflikte überwinden und neue Zukunft eröffnen. Diesen Frieden nimmt die Gemeinde mit, wenn sie nach empfangenem Mahl mit den Worten „Geht hin in Frieden” verabschiedet wird. Und kein Gottesdienst endet, ohne dass die alten Worte des aaronitischen Segens zugesagt werden: “Der Herr segne dich … und schenke dir Frieden“.

Friede meint hier alle Lebensbezüge: das eigene Leben, das Zusammenleben in Familie, Beruf und Nachbarschaft, die Umwelt, den Frieden mit Gott. Wenn wir aus dem Gottesdienst in den Alltag gehen, wird dieser Friede zum Ziel unserer Tage werden. Christenmenschen suchen Frieden und jagen ihm nach. Friede ist aber viel mehr als die Abwesenheit von Krieg, ist mehr als ein konfliktfreies Nebeneinander. Das biblische Wort Frieden – Schalom – steht für einen Zustand, in dem auf allen Ebenen „alles bestens” ist: zwischenmenschlich, emotional, materiell, gesundheitlich, geistlich, politisch. Wo Menschen einander das geben, was sie brauchen, um ein erfülltes Leben zu haben, da herrscht Friede.

Wenn wir davon sprechen, dass Europa ein Friedensprojekt ist, dann meinen wir damit nicht nur: Die Waffen schweigen zwischen den Völkern Europas. Der Friede, wie Gott ihn meint, umfasst mehr. 

  • dass es gerecht zugeht zwischen den Völkern in ihren Handelsbeziehungen
  • dass Menschen in jedem Land von ihrer Arbeit leben können
  • dass die Schere zwischen arm und reich nicht immer weiter auseinander geht
  • dass wir uns zusammentun in der Anstrengung, unsere Umwelt zu schützen, damit unsere Kinder noch den nötigen Lebensraum für ein friedliches Leben auf unserer Erde behalten.

Friede – Schalom – beschreibt den Zustand „des Vollkommen- und Ganzseins, der alle Bereiche des Lebens einschließt, der die ganze Schöpfung und alle Geschöpfe meint. Der biblisch gemeine Friede atmet die frische Luft des Schöpfungsmorgens. Weil Gott die Welt auf diesen Frieden hin geschaffen hat, weil unsere Welt von Gott auf Frieden hin geschaffen ist, deshalb dürfen unsere Bemühungen um Frieden und Sinn Aussicht auf Erfolg haben. Die Suche und das Jagen nach Frieden lohnen sich.

Friede wird gewonnen durch Abbau von Grenzen, durch die Überschreitung von Grenzen. Das Evangelium des Friedens lässt sich konzentrieren in einem einzigen Satz: „Christus ist unser Friede, der aus beiden eins gemacht hat und den Zaun abgebrochen, der dazwischen war.” Der Friede, den Gott in Christus macht, reißt Grenzen ein und schafft neue Gemeinschaft, wo bisher Trennendes war. Der Friede Christi zeichnet sich aus als Wagnis der Grenzüberschreitung. Das ist neu! Denn nicht selten wird der Friede mit dem Gegenteil von Grenzüberschreitung verbunden. Für nicht wenige bedeutet Frieden: Grenzen ziehen, Leben hinter Grenzen, die das Fremde und die Fremden, den anderen Glauben und die fremde Kultur draußen halten. Man will unter sich bleiben.

Jesus wird nicht müde, uns die Fürsorge Gottes vor Augen und in Herz zu malen und uns damit zur Grenzüberschreitung des Friedens zu locken. Jesus spricht auch die Ursachen des Unfriedens an: Habgier, Geltungs- und Ehrsucht, Konkurrenzdenken, Neid und Unzufriedenheit und eine ängstliche Sorge um die eigene Existenz. Es ist die Selbstbezogenheit des Menschen, der zuerst sich selbst sucht, der das Leben im Haben finden will und dabei habgierig wird, die dem Frieden im Wege steht. Jesus meint es anders: Er hat das sehr klar in der Bergpredigt ausgeführt. In der Mitte seines Suchens nach Frieden steht das Gebot der Feindesliebe: „Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, was tut ihr Besonderes?“, fragt Jesu. Er meint: Wenn ihr nur in den Grenzen derer, die euch vertraut sind, füreinander da seid, wie kann dann Friede werden? Und Jesus fasst seinen Friedenswillen zusammen in der so genannten goldenen Regel: „Alles nun, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch.”

Die Erfüllung wesentlicher Bedürfnisse für andere und für mich ist die beste Vorbeugung gegen Konflikte und der geeignete Weg des Friedens. Ich selbst sehne mich nach einer Heimat, wo ich in Frieden in guter Gemeinschaft mit anderen leben kann. Wie könnte ich dieses Ziel anderen verwehren? lch selbst bin getragen und gestützt von einem Netz an Beziehungen in Familie und im Freundeskreis. Das sollen Menschen, die ohne ihre Familie zu uns geflohen sind, auch erleben. Diese grenzüberschreitende Suche nach Frieden begründet Jesus mit der grenzenlosen Liebe Gottes: „Denn Gott lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.”

Präses Martin Rekowski. Foto: Lothar Kaiser

Ich bin wenige Tage vor dem 1. September, dem Tag, an dem deutsche Truppen Polen überfielen und damit den schrecklichen zweiten Weltkrieg begannen, der millionenfach Not und Elend über die Völker Europas und besonders auch über Polen gebracht hat, nach Polen gereist – dort bin ich geboren. Ich will nicht verschweigen, dass ich als Kind zu Hause nichts gehört habe vom furchtbaren Leid, das sehr viele Polen im zweiten Weltkrieg erlitten haben. Die Erfahrungen meiner elterlichen Familien in den letzten Kriegsmonaten und in den Jahren nach 1945 habe ich dagegen sehr ausführlich erzählt bekommen. Ich muss es offen bekennen: meine Eltern haben nicht nur einen feinen Unterschied zwischen Deutschen und Polen gemacht, sondern da wurde klar unterschieden und getrennt. Gut geredet wurde dabei über „die Polen” in meiner Familie nicht. Ich erzähle das, weil wir nicht unterschätzen dürfen, was durch erzählte Geschichte und Geschichten in Familien höchst wirksam über andere Nationen, Kulturen und Religionen transportiert wird.

In Polen sollte ich in einer Kirche in der Nähe meines Geburtsortes beim Jubiläumsgottesdienst mitwirken und eine Predigt halten. Das empfand ich als besondere Ehre und auch als Zeichen für Versöhnung und friedliches Miteinander zwischen Deutschen und Polen. Ich habe mich allerdings bewusst entschieden, eine Reise in Polen mit einem Besuch in dem in der Nähe von Danzig gelegenen Konzentrationslager Stutthof zu beginnen. Es war zwar nicht das erste Konzentrationslager, das ich besucht habe, erschreckt hat mich aber die Tatsache, dass dieses Lager bereits einen Tag nach Kriegsbeginn, am 2. September 1939, eingerichtet wurde. Das menschenverachtende Grauen und das Töten waren höchst planvoll und systematisch vorbereitet.

In Damaskus hat mich das Zusammenleben von Muslimen und Christen sehr beeindruckt. Seit Urzeiten leben sie als Nachbarn zusammen. Und das ist vielfach nicht nur ein Nebeneinander, sondern ein gutes Miteinander. Das war vor dem Beginn des Krieges so, und das ist auch jetzt noch. Beim Besuch einer Moschee wurde der uns begleitende Pastor von den Muslimen in der Moschee sehr herzlich begrüßt. Das Gift, das Fundamentalisten in Syrien hochdosiert ausgestreut haben, hat nicht gewirkt: Einen Gottesstaat haben sie angekündigt, den Himmel auf Erden wollten sie schaffen, aber gebracht haben sie nichts anderes als die Hölle auf Erden. Doch Menschen unterschiedlicher Religionen, die sich kennen und die sich vertrauen, ließen und lassen sich nicht auseinander bringen.

Im Libanon unterhält die Evangelische Kirche mehrere Schulen. In einer Schule, die wir besuchten, sind 60 Prozent der Schülerinnen und Schüler Muslime. Sie lernen und leben gemeinsam mit ihren christlichen Mitschülerinnen und Mitschülern. Junge Muslime und junge Christen lernen sich und ihre jeweilige Religion kennen. Eine bessere Voraussetzung zur Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes gibt es wohl kaum.

In Beirut habe ich die (ehemaligen) Flüchtlingslager Sabra und Schatila besucht, die sich in mehreren Jahrzehnten zu einem dicht bevölkerten Elendsviertel entwickelt haben. Das hat mir vor Augen geführt, wohin ungelöste soziale (Flüchtlings-)Fragen führen können. Die dort lebenden Menschen haben nahezu keine Perspektive. Ein solcher Ort, solche Lebensumstände, sind der ideale Nährboden für Hass, für Unfriede, Terror und mehr. Aber es gab auch eine Hoffnungsgeschichte in Sabra und Schatila. Einige dort lebende Frauen, Analphabetinnen, haben Lesen und Schreiben gelernt. Und sie waren stolz. Und sie blühten auf. Denn das war ja nicht irgendeine Fertigkeit, die sie jetzt beherrschen. Es war ein großes Stück Lebenstüchtigkeit: Ich kann mein Handy bedienen. Ich verstehe, was auf den Schildern steht, usw. usw. Dieses Projekt rettet natürlich nicht die ganze Welt, aber für einige Menschen wurde ein Tor zur Welt geöffnet. “Und Bildung ist das Tor zur Welt.

Von einem kleinen Weg über Grenzen der Kultur und der Religion möchte ich zum Schluss erzählen, den Sie in Remscheid vielleicht auch so gehen könnten: Ich lebe seit 1981 in Wuppertal in einem Stadtteil mit einem Ausländeranteil zwischen 25 und 40 Prozent. Hier bin ich zu Hause. Hier leben aber auch viele Menschen aus anderen Kulturen und mit anderer Religionszugehörigkeit. Finden diese Menschen in der Fremde eine neue Heimat? Oft leben wir nebeneinander her, auch wenn ich regelmäßig in einem türkischen Lebensmittelgeschäft einkaufe. Als die Muslime vor einigen Wochen ein religiöses Fest feierten (Ramadan), ließ ich mich von einer Familie aus der Nachbarschaft einladen. Wir sprachen über unser Leben, über unseren Glauben, aßen miteinander und lernten uns so kennen. Vielleicht lade ich diese Familie ja zum Advent zu mir ein. „Suche den Frieden und jage ihm nach.” Das beginnt, wenn Menschen aufeinander zugehen.

Das friedliche Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen innerhalb der Stadtgesellschaft wird gelingen, wenn wir – ich fasse zusammen:

  • auf die erzählte(n) Geschichte(n) achten und sie nicht absolut setzen, sondern auch die Geschichte(n) der anderen hören.
  • Nachbarschaft leben und gestalten.
  • Auf Bildung setzen,
  • das Tor zu einer friedlichen Welt
  • Begegnungen fördern, ermöglichen und suchen, weil so Verständnis füreinander wachsen kann.

Präses Martin Rekowski. Foto: Lothar Kaiser

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