„Kein Gespür, kein Fingerspitzengefühl, keine Haltung.“

Ein Einwurf von Wolfgang Horn

Dieser Tage las ich die Mail eines „Bürgers mit Frustrationshintergrund“ aus Anlaß des 9. Novembers. 

Am neunten November jährt sich zum achtzigsten Male die „Reichspogromnacht“. Das waren die 1938 vom nationalsozialistischen Regime organisierten Gewaltmaßnahmen gegen Juden im gesamten Deutschen Reich. Hunderte Menschen wurden ermordet oder in den Suizid getrieben, mehr als 1.400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört. Die Pogrome markieren den ersten Höhepunkt  der systematischen Verfolgung der deutschen und europäischen Juden, die knapp drei Jahre später in den Holocaust mündete. Diese Orgie der Gewalt jährt sich am Freitag der kommenden Woche zum achtzigsten Male

Der Bürger mit Frustrationshintergrund würdigt, daß sich in Wermelskirchen verschiedene Gruppen, Vereine und Privatpersonen zusammengefunden haben, um aus diesem Anlaß der Reichspogromnacht ein beachtliches Programm auf die Beine zu stellen. Und fährt fort mit der Frage: „Und was kommt von der Stadt Wermelskirchen? Was kommt von offizieller Stelle? Es gibt weder eine finanzielle noch eine ideelle Unterstützung – ein Armutszeugnis!“

Damit nicht genug: Man nutze diesen Jahrestag für ein lautes und fröhliches Pop-Konzert in der Katt, für den auch noch der seit langem geplante Vortrag des Bergischen Geschichtsvereins weichen müsse. „Kein Gespür, kein Fingerspitzengefühl, keine Haltung.“

Eine der Antworten auf die Mail mit „Frustrationshintergrund“ weist immerhin lobend darauf hin, daß jedenfalls Bürgermeister Rainer Bleek die Schirmherrschaft für diese Veranstaltung im Haus Eifgen übernommen habe.

Und die Verantwortlichen der Kulturinitiative Wermelskirchen e.V. wollen sich, so ihre Replik, nicht auf den Musikbetrieb im Haus Eifgen reduzieren lassen. Die Initiative solle auch die kulturpolitische Diskussion anregen und freue sich über die Zusammenarbeit mit den beiden großen Kirchengemeinden und den Geschichtsvereinen. Wer diese Aktion als Spaßbremse verstehe, könne ja am 9. November Jokebox in der Katt feiern. Und auch St. Martin reite an diesem Abend wieder durch die Stadt und teile seinen Mantel mit den Armen. „Es gibt immer Alternativen. Sogar für Deutschland. Man muss sie nur erkennen.“

In seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ schreibt Bertold Brecht:

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut 

In der wir untergegangen sind

Gedenkt 

Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht 

Auch der finsteren Zeit 

Der ihr entronnen seid.

Gedenkt der finsteren Zeit, der ihr entronnen seid. Darum geht’s. Wer sich der Finsternis der jüngeren Geschichte nicht vergewissert, an einem Tag wie dem 9. November, dem zerrinnt die komplizierte Gegenwart zwischen den Fingern.

Man kann feiern. Man muß feiern. Und man muß sich erinnern und jener gedenken, die Opfer von Rassismus und Unmenschlichkeit geworden sind. Um den Gefahren von heute zu begegnen. Wann man laut feiert und wann man eher still gedenkt, das sagt einem das Gespür, das Fingerspitzengefühl, die Haltung. So man das hat.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.